„Mitmenschliches Miteinander“ – Ein Blick auf herausforderndes Verhalten

22. November 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Haben Sie sich einmal genauer die Frage gestellt, was eigentlich herausforderndes Verhalten ist? Seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage, da sie sich im Zusammenhang mit Deeskalationsmaßnahmen in Krisensituationen stellt. Nur dann? Inzwischen bin ich der Überzeugung, dass es viele Alltagssituationen sind, in denen der Begriff des herausfordernden Verhaltens eine Berechtigung hat.

Ich erinnere mich an eine Situation, als eine Kollegin quer über einen langen Stationsflur einem Menschen auf einer psychiatrischen Station hinterherrief, dass er noch Medikamente einnehmen müsse. Ich denke an einen Kollegen, der auf einer internistischen Station die Zimmertüre aufließ, während er einer gebrechlichen Frau auf das Steckbecken half. Mir geht die Erinnerung nicht aus dem Kopf, als ein Mediziner einer Patientin in einem Mehr-Bett-Zimmer das Ergebnis einer Untersuchung mitteilte, das sehr einschneidend und mit einigen Konsequenzen verbunden war.

Kennen Sie vergleichbare Erfahrungen? Natürlich, werden Sie sagen. Aber dies müsse doch manchmal so sein. Schließlich haben das Pflegeheim und das Krankenhaus eigene Gesetze, die es zu akzeptieren gelte. Sie verstehen dies eher als Gewohnheiten in einem institutionellen Rahmen. Oder auch Rituale. Rituale werden als Ankerpunkte verstanden, die Stabilität geben, Eigengesetzlichkeiten beschreiben, an denen sich ausgerichtet werden kann.

Rituale werden auch dem religiösen Kontext und dem liturgischen Raum zugesprochen. In der Kirche bestimmen Rituale gar das Miteinander. Mit dem Alltag in Pflegeheimen und Kliniken ist dies nicht anders, wie ich glaube. Abläufe sind klar geregelt. Choreografien sind traditionell aufeinander abgestimmt. Chancen, eine Dramaturgie zu durchbrechen, sind gering. Da fallen Menschen auf, die signalisieren, dass sie sich mit der klaren Zuordnung der Rollen und Funktionen nicht abfinden können und wollen.

Wenn dies Mitarbeitende sind, dann wird ihnen ein ausgeprägter Eigensinn unterstellt. Im schlimmsten Fall werden sie als nicht teamfähig gebrandmarkt. Wenn es Menschen sind, die krank und gebrechlich sind, dann bekommen sie die Etikette „herausforderndes Verhalten“. Aber stellen wir uns eigentlich im Alltag die Frage, ob wir aus der Sicht der zu versorgenden Menschen herausforderndes Verhalten zeigen?

Es ist leicht, den zu versorgenden Menschen immer wieder die Verantwortung oder gar die Schuld für Auffälligkeiten zu geben. Die gebrechlichen und erkrankten Menschen haben schließlich einen Wunsch an die Versorgung. Deshalb haben sie die Anpassungsleistung zu vollziehen. Ich bin der Überzeugung, dass wir weniger im Blick haben, dass sich die Menschen in Krisen befinden, die Nervengerüste weniger belastbar sind, Ängste bestimmender als Gelassenheiten sind.

Etwas anderes finde ich noch viel wichtiger. Als Professionelle unterstreichen wir immer wieder, wie wichtig beispielsweise das Milieu in einem Versorgungssetting ist. Wir betonen, dass die Gestaltung der sozialen Umgebung zu den unspezifischen Wirkfaktoren bei der Genesung eines Menschen darstellt. Die Gestaltung der sozialen Umgebung ist jedoch nicht nur die Frage, wie Wände angestrichen oder Möbel gestaltet sind. Für mich zählt vor allem auch das mitmenschliche Miteinander dazu. Gehen Sie einmal in sich. Ich glaube, dass auch Sie da noch Luft nach oben haben. Ich finde, im Alltag habe ich da immer wieder etwas nachzuholen.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at