Bislang hat sich der Theologe und Psychologe Thomas Holtbernd mit Büchern über den Humor einen Namen gemacht. Die Corona-Pandemie ist für ihn Anstoß gewesen, einen philosophischen Blick auf die Gegenwart zu wagen. In der Auseinandersetzung mit dem Lachen und der Heiterkeit hat er für sich eingeübt, gesellschaftliche Phänomene gegen den Strich zu kämmen. So versteht er in seinem Buch „Verantwortliche Gelassenheit“ als eine Inszenierung, „bei der das Virus die Idee des Stückes vorgegeben hat und für die Regie unterschiedliche gesellschaftliche Trends und Dynamiken verantwortlich sind“. Christoph Müller hat mit Thomas Holtbernd gesprochen.
Christoph Müller Die Corona-Pandemie verstehen Sie, lieber Herr Holtbernd, als Inszenierung, die Sie mit dem Schauspiel „Romeo und Julia“ vergleichen. Sie glauben, ein irres Verwirrspiel, Missverständnisse, Falschmeldungen, der Selbstmord der Protagonisten und die zu späte Einsicht der Eltern über ihre Mitschuld zu erkennen. Stimmt mein Eindruck, dass Sie mit einer Parallelisierung der grauenvollen Pandemie mit einem Shakespeare-Drama das Ganze nicht ernst nehmen?
Thomas Holtbernd: Ich nehme die Pandemie sehr ernst, doch ist sie gar nicht mein Thema. Ich versuche zu verstehen, wie einzelne Menschen und die Gesellschaft in einer solchen Zeit innere Dynamiken und unverarbeitete Konflikte inszenieren. Wie wir mit einer Pandemie umgehen, welche Maßnahmen ergriffen werden und wie darauf reagiert wird, ist nicht nur eine technische oder organisatorische Frage, sondern auch das Ergebnis längerer Prozesse in einer Gesellschaft. Verstehe ich solche Prozesse, kann ich nachvollziehen, warum Menschen Toilettenpapier horten, den Lockdown mitmachen oder Verschwörungstheorien entwickeln. Der Vergleich mit einem Theaterstück kann hilfreich sein. Verkürzt könnte man sagen: Die Probleme sind nicht neu, da hat schon mal jemand in gelungener Form die Konflikte beschrieben. Wir können Vergleiche mit Werken der Kunst nutzen, um die menschlichen Grundkonflikte besser zu verstehen und dieses Verständnis auf die gegenwärtige Situation zu übertagen.
Christoph Müller Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie glauben Sie so manche gesellschaftliche Paradoxie zu erkennen. Sie stellen individuelle und kollektive Erfahrungen, die Menschen in Pandemie-Zeiten machen, gegenüber. Was als Widerspruch daherkommt, versuchen sie philosophisch aufzulösen. Wie drückt sich die Paradoxie aus?
Thomas Holtbernd Das menschliche Leben führt uns immer wieder Widersprüchlichkeiten vor Augen. Die Welt und die Zusammenhänge sind ambivalent. Wir wollen etwas schützen und zerstören damit etwas anderes. Auf der einen Seite werden Risikogruppen geschützt, auf der anderen Seite leiden Menschen unter den Beschränkungen. Können solche Widersprüche nicht aufgelöst werden oder sind Menschen nicht bereit, solche Ambivalenzen auszuhalten, kommt es zu paradoxen Situationen. In solchen Situationen machen Menschen absurde Dinge. Sie hamstern Toilettenpaper. Die Philosophie kann hilfreich sein, um Fragen genauer zu stellen, den chaotischen und paradoxen Dynamiken ein kritisches Bewusstsein entgegenzusetzen.
Christoph Müller In Krisen brauchen Menschen Handwerkszeug, um dieselben bewältigen zu können. Sie denken hingegen über Narrative nach. Gleichzeitig machen Sie auf Defizite in Medizin und Pflege aufmerksam, die die Narrative vernachlässigen. Was meinen Sie wirklich?
Thomas Holtbernd Ich denke auch über Handwerkszeuge nach. Allerdings sind das keine Techniken, sondern Hinweise für das Einüben bestimmter Haltungen. Die Frage der Narrative halte ich deshalb für wichtig, weil unser Handeln und unsere Gefühle durch solche tradierten Überzeugungen gesteuert werden. Wenn erzählt wird, dass ein Gott die Menschen für ihre sündigen Taten mit einer Pandemie bestraft, dann ergeben sich hieraus bestimmte Reaktionen. Ich kann ein solches Unheil nur erleiden und um Gnade bitten. Zu prüfen ist gerade in einer Zeit der Pandemie, welche Narrative von der Medizin und Pflege beigetragen werden.
Es gibt die Erzählung vom guten Arzt, der seine Patienten heilen kann. Es wird so getan, als wäre es allein die Heilkunst des Arztes. Bereits Rudolf Virchow hat darauf hingewiesen, dass eine Seuche kein medizinisches Problem im eigentlichen Sinne ist, sondern als Störung des Massenlebens zu verstehen ist. Oder es entsteht so eine Erzählung von den Helden des Alltags. Wird die Arbeit von Pflegekräften so erzählt und beklatscht, dann wird lediglich auf ihren engagierten Einsatz Bezug genommen. Was Pflege für ein verändertes Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung beitragen könnte, wird unberücksichtigt gelassen. Es wäre gut, andere Narrative über Pflege zu tradieren. Das könnte zum Beispiel die Erzählung von Pflegenden als Beziehungsarbeiter sein
Christoph Müller „Das Abstandsgebot ist die inszenierte Sehnsucht nach einer freien und ungezwungenen Körperlichkeit“, schreiben Sie. Was bedeutet dies für Sie in Zeiten einer Pandemie? Was heißt dies für die Zukunft, wenn hoffentlich die Pandemie in den Hintergrund getreten sein wird?
Thomas Holtbernd In den letzten Jahren haben wir ein merkwürdiges Verhältnis zu Körperlichkeit und Sexualität entwickelt. Sexuelle Übergriffe werden nicht mehr im Verborgenen diskutiert. Viele scheuen einen ungezwungenen Umgang, Körperlichkeit ist in seiner Selbstverständlichkeit fraglich geworden. Und doch sehnen wir Menschen uns nach Nähe, wollen einen anderen Menschen berühren und berührt werden. Wie es oft bei psychischen Prozessen ist, stellen wir nach außen dann oft etwas dar, was wir innerlich ganz anders meinen. Das Abstandsgebot verweist sehr deutlich darauf, was eben momentan vermieden werden muss oder soll. Dadurch ist umso deutlich, wie es ohne Abstandsgebote sein könnte, also frei und ungezwungen.
Christoph Müller In Ihren Gegenwartsbeschreibungen geht es auch darum, dass Menschen in Zeiten der Pandemie gezwungen sind, „Stimmungen zu schaffen, Atmosphären herzustellen, die Wärme ausstrahlen“. Sie sehen dies als „Fundament dafür, dass es nicht zu Überhitzungen in der Gesellschaft kommt“. Ist es denn so, dass es uns außerhalb der Pandemie nicht gelingt?
Thomas Holtbernd Die Pandemie oder besser die Beschränkungen zwingen uns zu kreativen Lösungen, wie wir menschliche Wärme erzeugen, ohne dass wir konkret die Wärme des anderen körperlich spüren. Wir haben in den letzten Jahrzehnten wenig dafür getan, dass in den Städten, in Arbeitsräumen und wo auch immer warme Atmosphären fühlbar sind. Alexander Mitscherlich hatte bereits vor 60 Jahren von der Unwirtlichkeit unserer Städte geschrieben. Die Orte des Verweilens wurden verdrängt durch die Räume der Bewegung. Städte sind durch Autobahnen zerschnitten.
Während des Lockdowns konnte man spüren, wie sich unsere Städte zu Funktionsräumen entwickelt haben. Man kauft ein, arbeitet in den Büros, fährt durch die Straßen. Was für unsere Städte gilt, lässt sich auf alle Bereiche unseres Lebens übertragen. Wir haben der Ökonomie, der Funktionalität und der Technik die Gestaltung unserer Räume überlassen. Ich hoffe, dass uns dieser Zusammenhang in dieser Zeit der Krise deutlicher wird und wir unsere Wahrnehmung mehr auf solche atmosphärischen Phänomene lenken.
Christoph Müller Mit dem Bild des Clowns weisen Sie auf die Fertigkeit des Stolperns hin. Clowns fallen auf die Nase, stehen aber auch immer wieder auf. Wieso fällt es schwer, sich als Individuum dieses Bild in schweren Zeiten anzunehmen? Wieso gestehen wir beispielsweise Verantwortlichen in der Politik nicht zu, dass sie falsche Entscheidungen treffen?
Thomas Holtbernd Ich glaube schon, dass im Laufe der Pandemie eine Toleranz gewachsen ist, dass Politiker auch Fehler machen dürfen. Es gibt dabei jedoch zum Clown einen wichtigen Unterschied. Der Clown stellt sich dumm an, ist unbeholfen und stolpert halt. Das ist sehr menschlich, wir erkennen unsere eigenen Defizite und sind ermutigt, auch wie der Clown wieder aufzustehen. Beim Politiker haben wir einen Verdacht, er stolpert nicht über seine eigenen Füße, sondern hat einfach nur einen Fehler gemacht. Er verfolgt möglicherweise andere Interessen, ist machtbesessen und hat mit seinen Entscheidungen einfach nur seine Ziele nicht erreicht.
Stolpern verweist auf Schwächen und die gestehen sich Politiker nicht gerne ein. Umgekehrt meinen wir, dass ein Politiker die Sache schon meistert. Die Pandemie hat uns ja auch etwas anderes gelehrt. Jeder Einzelne trägt Verantwortung für den Schutz der anderen. Wir können uns überlegen, ob wir in den letzten Jahren nicht mit dazu beigetragen haben, dass Politiker weniger Volksvertreter als Berufspolitiker sind. Und jemand, der professionell Politiker ist, darf natürlich nicht stolpern.
Christoph Müller Dem Tragen des Mund-Nasen-Schutzes gewinnen Sie Positives ab. Sie beschreiben es als „ein Einüben der Anonymität bei gleichzeitiger Höflichkeit“. Als Pflegender befremdet mich diese Haltung etwas. Schließlich bin ich als Mensch und als pflegerisch Tätiger aufgerufen, mit Nähe und Distanz zu hantieren, ein Gleichgewicht herzustellen. Da wirkt Ihre Aussage etwas kühl, oder?
Thomas Holtbernd Was ich als positiv wahrnehme, ist die Fähigkeit zur Distanz. Sie drückt sich in der Pandemie mit dem Mund-Nasen-Schutz aus. Mir geht es um eine Haltung. Wir brauchen einen Umgang miteinander, der von Höflichkeit und Vornehmheit geprägt ist. Mir muss niemand mit seinem angeblich authentischen Verhalten sein Ich aufbürden. Lernen wir, höflich und distanziert miteinander umzugehen, ersparen wir uns viel Aufregung. Das Gleichgewicht von Nähe und Distanz kann mit dieser Vornehmheit hergestellt werden. Ich weise übergriffige Ansprüche an mich zurück und habe hierfür eine Form gefunden, die eindeutig mein Wohlwollen spürbar werden lässt, dass ich trotz der Zurückweisung ihn als Person annehme, weil ich ihn respektvoll behandle.
Christoph Müller Herzlichen Dank für den lebhaften Austausch.
Das Buch, um das es geht
Thomas Holtbernd: Verantwortliche Gelassenheit – Freiheit in Zeiten der Krise, Echter-Verlag, Würzburg 2021, ISBN 978-3-429-05604-9, 150 Seiten, 12 Euro.