Wenn die Seelen von Menschen aus der Balance geraten sind, dann mühen sich viele helfende Menschen um die Betroffenen. Zu diesen hilfreichen Menschen zählen auch Seelsorgerinnen und Seelsorger. Der katholische Theologe Franz Reiser gehört zu dieser oft idealistisch arbeitenden Gruppe. In der vorliegenden Arbeit hat er die Religiosität und Spiritualität der betroffenen Menschen unter die Lupe genommen. Eine wichtige Botschaft seiner Studie fasst der letzte Absatz seiner beeindruckenden Arbeit zusammen – dass die Subjektivität bedeutend ist: „Patientinnen und Patienten sollen und wollen in dem ernst genommen werden, was ihnen selber wichtig ist. Und in dem, was für die hilfreich und belastend sein kann, auch im religiösen oder spirituellen Bereich – um ihnen so noch mehr gerecht zu werden. Dies ist möglich: psychotherapeutisch lege artis, medizinethisch korrekt und behandlungspraktisch machbar“ (S. 317).
In der psychiatrischen Versorgung sind Glauben und Spiritualität selten Gesprächsstoff zwischen den Betroffenen und den helfenden Menschen. Folgt man den Erkenntnissen Reisers, so wünschen Patientinnen und Patienten „ein Eingehen auf Themen der Glaubenspraxis / Spiritualität“ (S. 315). Dabei zeigt Reiser kein Vermeidungsverhalten, wenn er anmahnt, im Rahmen eines therapeutischen Prozesses auch problematische Glaubenspraktiken mit den Betroffenen anzuschauen. Begleitende Menschen sollten „immer Respekt zeigen für die religiösen oder spirituellen Überzeugungen von Patienten, im Bewusstsein dessen, dass diese oft die Psyche des Menschen zusammenhalten“ (S. 122).
Reiser hat in einer über 18 Monate dauernden Untersuchung nachgewiesen, welche Bedeutung die Dimensionen des Spirituellen für den Alltag und die Begleitung seelisch erkrankter Menschen haben. Dies ist der eine Teil der gründlichen Studie. Darüber hinaus hat Reiser den internationalen Forschungsstand zusammengefasst und diskutiert relevante Fragen.
Aufhorchen lässt in dem Diskurs über die Erwartungen an die Klinik die Antwort auf die Frage: „Wer ist gefragt?“ Es werde ein erlebtes Defizit erkennbar. Bei Pflegepersonal und Mitpatienten zeige sich eine Übererfüllung, „dagegen besonders bei Psychotherapeut/in und Seelsorger/in eine seltenere Erfüllung des Wunsches nach Eingehen auf den Bereich der eigenen Glaubenspraxis / Spiritualität“ (S. 268). Dies zeigt, dass es bei den akademisierten Berufsgruppen in der psychiatrischen Versorgung Nachholbedarf gibt. Andererseits wird es für pflegende Berufe sicher hilfreich sein, inhaltlich in Fort-und Weiterbildungen zu sensibilisieren.
Reisers Absicht ist es, „Menschen mit psychischen Störungen helfend gerecht zu werden“ (S. 283). Im Spiritual Care – Ansatz sieht er eine Möglichkeit. Die Klinikseelsorge sieht er in der Pflicht, kein Fremdkörper im Krankenhaus zu sein, „nicht eine Art religiöser Meteorit“ (S. 291). Klinikseelsorge brauche eine gute Zusammenarbeit mit dem System aller anderen, die für Patienten sorgten. Als Theologe bringt er den Begriff der Spiritualitätssensibilität in den Diskurs ein. Es sei nötig, „sich an die religiös-spirituelle Sprache des Patienten anzupassen“ (S. 301).
Reisers Untersuchung „Menschen mehr gerecht werden“ leistet einen wichtigen Beitrag, eine vernachlässigte Diskussion in der psychiatrischen Versorgung in den Blick zu nehmen. Ihm ist dafür zu danken, dass er keine falsche Scham hatte, auch den einen oder anderen Finger in die Wunde zu legen.
Franz Reiser: Menschen mehr gerecht werden – Zur Religiosität bzw. Spiritualität von Patientinnen und Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie, Echter-Verlag, Würzburg 2018, ISBN 978-3-429-05306-2, 368 Seiten, 36 Euro.