Es ist ein heißes Eisen, das der Psychiater Jann E. Schlimme, die Psychiatrie-Erfahrene Thelke Scholz und die Angehörige Renate Seroka mit dem Buch „Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ angefasst haben. Ehrlich gesagt haben sie sich die Finger dabei nicht verbrannt. Denn sie schaffen es, die umstrittene Praxis der Medikamentenreduktion sachlich und differenziert zu diskutieren. Ein entscheidender Moment ist sicher der trialogische Charakter des Buchs. Damit hat das Buch einen Alleinstellungscharakter, den es in der Beschäftigung mit der psychiatrischen Versorgung im Allgemeinen und mit der psychopharmakologischen Behandlung im Besonderen kaum gibt.
Seroka, Scholz und Schlimme wägen oft die im Raum gestellten Fragen ab. So blenden sie nicht aus, dass Neuroleptika spürbare positive Wirkungen während der Psychose haben. Eine erwünschte Wirkung eines Neuroleptikums sei das Abblenden oder Distanzieren vom aufdringlichen Zuviel der Bedeutungsvielfalt in der Psychose (S. 48). Negativ sei es, „dass die allermeisten Neuroleptika an einer ganzen Vielzahl von Rezeptoren Blockaden verursachen“ (S. 52). Manche dieser Nebenwirkungen (Gewichtszunahme, verschlechterte Zucker-und Fettstoffwechsellage) seien von erheblicher Relevanz. Sie beeinträchtigten nicht nur das aktuelle Wohlbefinden, sondern trügen auch zu einer verkürzten Lebenserwartung bei (S. 52).
Das Tragende des Buchs von Seroka, Scholz und Schlimme ist die Subjektivität, die sich durch die bald 300 Seiten hindurchzieht. Die diskursoffene Leserin verliert den Glauben an die Heilkraft psychopharmakologischer Interventionen, die letztendlich begrenzt bleiben. Vielmehr erarbeiten Seroka, Scholz und Schlimme im Trialog Möglichkeiten eines gelingenden Prozesses zum Reduzieren oder vollständigen Ausschleichen von Psychopharmaka. Dies erscheint nötig, führt ein Wunsch eines betroffenen und psychopharmakologisch behandelten Menschen doch oft zu Gräben zwischen ihm bzw. ihr und dem sozialen Umfeld. So geben die drei einen wichtigen Rat: „Deshalb appellieren wir nicht nur an die Betroffenen, sondern auch an Angehörige und Freunde, sich über die psychische Störung, den Genesungsprozess und die Medikamentenreduktion gründlich zu informieren und an ihren eigenen Ängsten und Vorbehalten zu arbeiten, um den Betroffenen die bestmögliche Unterstützung zu bieten“ (S.83).
Die Reduktion und das Absetzen von Medikamenten bedeutet für Seroka, Scholz und Schlimme die Suche nach einem individuellen Weg. Damit verbunden ist für die Betroffenen eine hohe Aufmerksamkeit für die Reduktionsgeschwindigkeit („kleine und langsame Dosisschritte“). An einen Reduktionsprozess müsse mit Geduld herangegangen werden. Es gelte, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu lassen (S. 93). Das Psychose-Erleben beschreiben Seroka, Scholz und Schlimme als eine sehr persönliche Erfahrung. Diese Erfahrung sei sehr persönlich und bedürfe der Verständigung. Therapeutische Erzählräume seien Proberäume für den Alltag (S. 101).
Mit dem Buch „Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen“ setzt ein unverzichtbares Zeichen, das die betroffenen Menschen ernstnimmt. Es fordert letztendlich ein, sich beispielsweise als professionell Tätiger nicht nur auf die Rolle zurückzuziehen, ein ärztliches Rezept auszustellen. Es verlangt, sich mit der Person zu beschäftigen, die einem begegnet. Mehr noch: Es zeigt auf, dass das Erleben einer Psychose mehr als ein biologischer Defekt ist. Für diese Einsichten ein herzliches Dankeschön.
Jann E. Schlimme / Thelke Scholz / Renate Seroka: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-88414-694-1, 282 Seiten, 25 Euro.