Maßvolle Annäherung im Intimbereich – Eine Kurzgeschichte

29. September 2016 | Erleben, News Deutschland, News Österreich | 0 Kommentare

Marita Koch biss sich auf die Unterlippe und hatte Tränen in den Augen, als der Prüfer vom Haupteingang hinüberging zum Parkplatz und vor dem Einsteigen in einer halben Drehung nochmal cool mit der abgewinkelten Handfläche winkte. Sie mochte aubergin sehr, und als er am Morgen angekommen war, hatte sie die Farbe seines Autos noch für ein gutes Zeichen gehalten. Aber es nützte ihr gar nichts. Thies Christiansen, ein schöner, dunkelblonder Enddreissiger von der Hauptverwaltung in Husum hatte ihnen allen unmißverständlich klargemacht, dass möglicherweise auch im Pflegeheim Bockenförde ein paar Planstellen gestrichen werden. Es würde jetzt überall und vorbehaltlos geprüft. Zum Erhalt der übrigen Arbeitsplätze, sozialverträglich und natürlich nicht sofort. Schließlich sei man eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts, und es sei auch nicht seine Entscheidung, er berichte nur. Und was heißt dann bitte „natürlich nicht sofort“, wenn man als Frau vierundvierzig wird – also noch zwanzig Berufsjahre in einem Betrieb vor sich hat ohne andere Aussichten?

An ihrem Äußeren lag es nicht, aber nach ein paar deftigen Enttäuschungen lebte Marita seit Jahren allein und ging in ihrer Arbeit ganz auf. Bei den Kolleginnen war sie beliebt, weil sie einen hintergründigen Humor hatte und weil sie ständig Nachtdienste übernahm oder am Wochenende aushalf, wenn jemand – warum auch immer – verhindert war. Sie fragte nicht nach. Um so mehr war sie an diesem Morgen alarmiert. Während Christiansen sprach, überflog Marita die Leistungsliste, die sie auf seine Bitte hin ausgedruckt, kopiert und verteilt hatte. 389 Punkte, ab heute das Maß aller Dinge. Jeweils drei Spalten, Bearbeitung täglich. Das meiste kam ihr bekannt vor wie die Arbeit, die sie ohnehin machte – oft mit Freude,manchmal verdrossen, immer sorgfältig und zugewandt: Hilfe beim Ohrenwaschen, Hilfe beim Anziehen der Schuhe, Hilfe beim Toillettengang, aber auch Elektrorasierer anreichen, Nachtlampe einschalten, kühle Getränke oder sekretlösenden Tee anbieten, zum Beispiel Spitzwegerich. Dabei sollten die Achtung und der Schutz der Würde jedes Menschen in ihrer Obhut über allem stehen, unabhägig von Fähigkeiten, Krankheiten oder Behinderungen. Tatsächlich halfen ihr diese Maßstäbe manchmal über Anflüge von Ekel Verzweiflung und Wut hinweg.

Durch den Schallnebel von Christansens kalmierendem Vortrag hindurch war Marita beim letzten Punkt auf der Liste angelangt „Wir sind ständig überarbeitet“. Nein. „ W i r d ständig überarbeitet“. Soll sie hier eigenhändig die Bedingungen der Jagd aktualisieren, die auf sie gemacht wird? Der Puls raste und sie ging zurück an den Anfang. Unter A stand nicht nur „Anleitung zum Bettbeziehen“ sondern auch „Augenkontakt suchen“ „Aufregung vermeiden“und „Atembeobachtung durchführen“. Marita war aufgeregt. Sie entdeckte ihren beschleunigten Atem und nahm Augenkontakt auf zu Christiansen . Er gefiel ihr auf den ersten Blick.Je mehr sie ihm in die Augen sah, um so deutlicher wurden ihr der Ton und die Sprache seiner Rede. Aber auch ihn hatte das Kreuzen ihrer Blicke berührt.

Er schien zumindest kurz zu lächeln, und in der Pause an den weissen Stehtischen auf der Terrasse fühlte sie sich von ihm abgescannt, als er zwei Tische südwärts unter der ersten wärmenden Mittagssonne stand. Sie blickte in einer Mischung aus angstvoller und von ihm angezogener frecher Neugier zurück, und als er ihrem Blick standhielt, wechselte sie den Tisch. Ihr Hinweis auf einen weiteren Punkt seiner Liste verleitete ihn zuerst nur zu einem Schmunzeln, mit dem er es auf sich beruhen lassen wollte. Auch als Marita ihm den Inhalt von 0119 nachlieferte,“Auf ordentliche Kleidung achten“, wollte er sich mit einem schalen Kompliment davonmachen.

Sie sei ja schon mitten in der Materie, sagte er etwas zu plump, um glaubhaft zu sein, und so verwies ihn Marita dann doch, wenn auch diskret und ins linke Ohr, auf seine offene Hosentür. Ihre flüsternden Lippen hautnah bei Christiansen und sein Erröten im Gesicht wie am Hals wurden von den Umstehenden süffisant kommentiert. Marita, die in der Einrichtung eher als Schönheit vom Lande denn als Draufgängerin galt, nahm das belustigt und ohne den Drang nach Aufklärung hin, während er sich mit einer kurzen Erkundigung nach den Waschräumen eilig entfernte.

Anschließend erschien Christiansen betont aufgeräumt und dynamisch im Saal. Es war nicht zu übersehen, dass er sich nass gekämmt und die Krawatte nachgebunden hatte. Marita meinte sogar, einen Duft zu wittern, als er sehr dicht an ihr vorbeizog, und ihr Blick ging von Nr. 0025 „Anwendung von Körperlotion nach jeder Ganzkörperwäsche“ mit einem kleinen wohligen Schauer hinüber zu der von ihr auszufüllenden Spalte „Durchschnittliche Dauer“.
Christiansen versuchte in der Wiederaufnahme seines Vortrags leutselig, die Vorzüge der Leistungsliste hervorzuheben – für die tägliche Arbeit und letztlich für die Sicherheit der Arbeitsplätze. Wer sollte anders die hohe Qualifikation schätzen und die zeitliche Belastung quantifizieren können, die hier zu verhandeln sind. Dauert das Auswischen einer Mundhöhle bei Ihnen 30 Sekunden oder eine Minute oder noch länger? Marita überlegte kurz, wie lange es dauern würde, ihn zu rasieren.

Der Charme objektivierbarer Kriterien gehörte vom ersten Tag an zu den Attraktionen seines Berufslebens, sagte Christiansen, als Marita den Augenkontakt zu ihm längst aufgegeben hatte und bei Nr. 0258 hängengeblieben war: “Die Erfüllung von Wünschen unterstützen“. In die vorletzte Spalte rechts tragen Sie bitte sorgfältig die Sekunden und Minuten ein, gegebenenfalls Stunden, sagte Christiansen noch gegen Ende. Der Beifall blieb spärlich, Fragen gab es viele, und Marita hob nur den Kopf. Sie würde sich wünschen, ihn wiederzusehen. Sekunden und Minuten, gegebenenfalls Stunden, aber nicht hier.

Während sich die meisten in Bockenförde eher widerwillig und unter Protest mit der Leistungsliste befassten und die Heimleitung mit hässlichen Fragen zudeckten, blieb Marita ungewöhnlich ruhig, was ihr von den Kolleginnen schon als feige Anpassung und vom Chef als lobenswert konstruktiver Beitrag ausgelegt wurde. Tatsächlich hatte sie zunächst nur von Christiansens Angebot Gebrauch gemacht, in Zweifelsfällen beim Durchsehen der Liste telefonisch oder auch schriftlich bei ihm nachzufragen. Nicht, dass sie wirklich Zweifel hatte, und auch nicht die Angst um ihren Arbeitsplatz trieb sie an. Vielmehr erschien ihr die Segmentierung der Arbeit in fast vierhundert Vorgänge zwar albern aber zugleich einleuchtend. Sie war sich ziemlich schnell wieder sicher, dass man hier auf Marita Koch nicht würde verzichten können. Etwas anderes trieb sie an.

Es dauerte nicht lange, da waren persönliche Erfahrungen und zeitliche Aufwendungen so detailliert in die ersten Listen eingetragen und als Dateien verschickt, daß Thies Christiansen damit arbeiten konnte. Zugleich rief er die Homepage von Bockenförde auf und zoomte sich von der Seite „Wir über uns“ das Farbfoto von Frau Koch auf den Schirm. Christiansen hatte in ihrer ausgefüllten Leistungsliste auf Seite 12 eine Eintragung vorgefunden, die dort nicht hingehörte. „Überprüfen, ob Information verstanden wurde“ hatte die Aufgabe im Vordruck geheissen, und Frau Koch hatte daneben notiert: Gerne, wann melden Sie sich? Christiansen schwankte seit Tagen. Er hatte Schübe, während derer ihn das Material in den Listen, seine Anordnung und die Spannung zwischen den vorgegebenen, vorgedruckten, vorgestanzten Leistungsmerkmalen und den individuellen Eintragungen begeisterten, und dann dachte er nicht an Frau Koch.
Gleich darauf schien er wieder zu verzweifeln über dem Unsinn, daß Sekundenangaben und Minutenbehauptungen für die kleinste Handreichung an einzelnen Menschen ihm Rückschlüsse auf die durchschnittliche Effizienz von Mitarbeiterinnen oder gar ganzer Einrichtungen erlauben sollten. Gerade noch hatte Thies Christiansen den Charme objektivier-barer Kriterien hervorgehoben, und nun setzten genau diese einen Zweifel in ihm, den er nicht dulden durfte. Er brauchte einen break, aktivierte sein e-mail-Programm und rief hastig M.Koch@Bockenförde.de auf.

Ins Textfenster schrieb er nur die Ziffer 0304 und klickte auf Senden. Draussen stand die Sonne hoch, und Marita saß im sommerlich abgedunkelten Büro der Pflegestation beim Ausfüllen eines weiteren Bogens, als ihr PC den Posteingang anzeigte. Sie brauchte nur Sekunden, um Christiansens Nachricht zu entschlüsseln: Ziffer 0304 sagte, sie soll „Angst/Unsicherheit in der Umgebung abbauen“. Marita freute sich wie ein Backfisch und antwortete mit 0041 „Sonnenbrille aufsetzen“ und 0107. Christiansen mußte nachschlagen, bevor er „Blickkontakt herstellen“ fand und ihn darüber bei allem Spaß an dem Spiel doch eine kleine Panik ergriff, die er mit 0072 beantwortete. Sein “Bedürfnis nach Alleinsein akzeptieren“ mochte Marita aber nun nicht mehr und verwies ihn auf 0338. Als sie ihn so „zur Beendigung einer angefangenen Tätigkeit motivieren“ wollte, gab sich Christiansen geschlagen und bat um 0161.

Marita sollte einen “Flüssigkeitszufuhrplan erstellen“ und entschied sich für die „Kogge“ in Husum, in der es zwölf Sorten Bier gab. Sie werde wegen des guten Wetters nach 0318 verfahren und kündigte zugleich 0190 an. Einerseits würde sie also „leichte Kleidung anziehen“, andererseits wollte sie gleich „Grenzen der sexuellen Anäherung deutlich machen“. Christiansen war amüsiert aber keineswegs sicher, wie weit er es treiben durfte und wie lange das gutging. Der Frust über sein ehrgeiziges Untersuchungsprojekt war jedenfalls zunächst mal verflogen, und der guten Ordnung halber würde er zuerst Ziffer 0251 bemühen und „ein Gespräch über Biografie führen“. Christiansen sagte, ich heisse Thies, und zählte wie für eine erste Bewerbung promovierter Sozialwissenschaftler, Rettungsschwimmer, kinderlos und verheiratet auf. Marita sagte, Sie wissen ja, wie ich heisse, und ich mag Rapsfelder, Streicheln und Bach. Nach dieser vorsichtigen Annäherung in der Husumer „Kogge“, auf die nicht sofort eine weitere Verabredung folgte, leuchteten nun häufiger am frühen Morgen und kurz vor Feierabend die Pictogramme für Posteingang auf.

Die Positionen auf der Liste wurden von beiden nicht mehr augenzwinkernd als Zahlenrätsel sondern als kleine Traumsequenzen im Zusammenspiel ihrer Zeitangaben verhandelt. Würde sie ihm die „Haarbürste reichen“, wieviele Minuten würde er ihr dann widmen mit „Haare bürsten, Haare fönen, Haare kämmen oder Haare legen und flechten“? Möchte sie ihm das „Gesicht nach der Rasur mit Gesichtslotion einreiben“ oder ihm eine „Anwendung von Körperlotion nach jeder Ganzkörperwäsche“ gönnen? Wurde es heikel, halfen sie sich dann doch wieder mit Zahlen. Ziffer 0354 kam für Marita aber zunächst nicht in Betracht. Sie mochte vorläufig kein „Gespräch über für den Betreuten wichtige Menschen führen“. Nach seiner Ehe fragte sie nicht. Zu Zärtlichkeiten im protokollierten Minutentakt wurden „Fingernägel schneiden, Brille bereitlegen, Hilfe bei der Fußwäsche und Hilfe bei der Nasenpflege“. Sie hatte die paar Härchen in seinen Nasenlöchern sofort entdeckt, als die Abendsonne in der „Kogge“ über sein Profil auf den Tisch gefallen war. Würde er ihr – und wie lange – die Hände eincremen?

Christiansen wollte die Uhr anhalten und „auf angemessenen Umgang mit Nähe und Distanz achten“. Marita wagte sich immer weiter ins Freie. Sie reklamierte „Hilfe beim An-und Auskleiden, Hilfe beim Duschen und beim Nachrasieren“ – an den Bikinikanten.
Aber auch Ziffer 0376, er sollte ihr Schamgefühl beachten, sexuelle Handlungen an eigener Person tolerieren und ihr Selbstwertgefühl durch Lob und Anerkennung steigern (0384). Christiansen stockte zeitweise der Atem. Außerdem wollte sie ihm das Rauchen abgewöhnen. Dafür war kein verlässlicher Zeitrahmen einzutragen, aber die Leistungsliste hielt ja jede Menge Punkte bereit: 0276 (Vermeidung von Alkohol-und Nikotingenuß), 0153 (Feuerzeug und Streichhölzer unter Verschluss halten),0006 (Zigaretteneinteilung) 0023 (Zur Entscheidung ermutigen) und 0034 (eine verbindliche Planung aufstellen). Manchmal, vor Feierabend, wünschte sich Marita, sie könnten , frei nach Ziff.0392 „Wünsche, Vorlieben, Ideen für die Tagesplanung berücksichtigen“ und er würde endlich „nonverbale Kommunikation ermöglichen“,er würde zum Beispiel 0369 anbieten, also ihr „Radiogerät einschalten und Wunschsender einstellen“. Sie wollte ihm dann 0117 die „Brille putzen und bereitlegen“, worauf er nach 0347 die „Nachtlampe einschalten“ und 0375 anbieten sollte: „Vorlesen aus Büchern“.

Cristiansens erste Auswertung der Leistungslisten näherte sich einem Ergebnis, es gab Vorgespräche zwischen ihm und der Heimleitung, und noch vor Monaten hätte Marita all dies mehr als alles andere gefürchtet. Nun war es ganz anders gekommen, und es ging vielleicht auch um mehr. Angesichts der in jeder Hinsicht aufregenden Lage und angesichts der umfassenden Ungewißheit, die während des gesamten Prüfungszeitraums von den zeitweise drolligen und immer pulstreibenden e-mails zwischen dem verheirateten Herrn Christiansen und ihr selbst ausging, hatte Marita sich entschlossen, nur noch eine Runde mit Christansen zu spielen. Sie hatte sich nämlich verliebt.

Also rief sie Ziffer 0327 (Teilziele vereinbaren) auf und schlug ihm 0009 als Grundlage vor. Wenn sie ihr „Anliegen angemessen behandeln“ wollten, müßten sie nach Nr. 0317 die „Aufgabenstellung klar formulieren“, entsprechend 0126 „Ausdauer trainieren“ und schließlich über 0236 „Problemlöseverhalten fördern“, anhand von 0252 „Realitätsbezug herstellen“, gemäß Ziff.0360 „das Zugehörigkeitsgefühl fördern“ und sich gegebenenfalls zu Ziffer 0361 entschließen und die „Veränderung in der Umgebung mitteilen“. Anderenfalls sollte auch er Nr. 0362 ernst nehmen und „Rückzugsmöglichkeit schaffen“, denn mit einer Vorstellung wollte sie sich keinesfalls anfreunden: Für den Hausbesuch bei einem Betreuten sah die Leistungsliste unter 0389 „Händeschütteln der Ehefrau beim Eintritt in das Haus“ vor.

Thies Christiansens Bericht an das Sozialministerium und an die Trägerschaft der Einrichtung ging am 23.April 2009 in Kopie bei der Heimleitung von Bockenförde ein. Es wurde empfohlen, für die nächsten drei Jahre keine Reduzierungen im Personalbereich vorzunehmen.

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)