Es gibt sie nicht, DIE Sexualität, weder in jungen noch in späten Jahren, so wie es DAS Gesicht nicht gibt. Jedes Gesicht trägt individuelle Züge, zeigt aber auch Ähnlichkeiten mit anderen Menschen-Gesichtern. So ist es auch mit dem Sexualleben von Menschen. Sexualität wandelt sich ein Leben lang, ist Zeittrends unterworfen, gepaart mit gesellschaftlichen und sozialisierten Bedingungen, aber auch beeinflusst von Medien, Erziehung und der damit verbundenen persönlichen Wertehaltung. Schlagwörter wie „Sex sells“ und „oversexed and underfucked“ sind weithin bekannt, doch dies wurde lange Zeit nur im Zusammenhang mit jüngeren Menschen gesehen, zunehmend tritt nun die Sexualität von älteren und alten Menschen in den Fokus der Öffentlichkeit. Was ist Realität und was Fiktion? Das damit verbundene Recht und die Akzeptanz von „Sex im Alter“ kann als positive Entwicklung gesehen werden, sofern nicht der Druck entsteht, bis zum Tode muss Sexualität ausgelebt werden, denn die Freiwilligkeit ist zu allen Zeiten, bei Frauen und Männern als oberste Priorität zu sehen.
In einer international durchgeführten Studie wurde festgestellt, dass sich Sexualität im Alter nicht zurückbildet. Mit dem Alter abnehmende Koitusfrequenz darf nicht ausschließlich als „biologisch“ begriffen werden, sondern in ihrer historischen und kulturellen Abhängigkeit. Dazu kommen chronische Erkrankungen und Medikamenteneinflüsse. Die wichtigsten Korrelate des Bedürfnisses nach Sexualität sind der subjektive Gesundheitszustand, der Grad der früheren Sexualität, die Verfügbarkeit von PartnerIn und ein höherer sozialer Status. Alterssexualität hängt darüber hinaus entscheidend von einer zufriedenstellenden Paarbeziehung ab. (Rosenmayr 1995)
Intimität und Sexualität wird maßgeblich durch die in der Gesellschaft herrschenden normativen Vorstellungen gestaltet, wobei besonders zu bedenken ist, dass die heute lebende ältere Generation nach den moralischen, religiösen und sexuellen Vorstellungen während ihrer Adoleszenz und dem damaligen sozialen Umfeld geprägt wurde. Dies stimmt ganz selten mit dem heutigen Zugang zu diesem Thema überein. (Rödler, Böhmer 2011)
Sexualität ist seit 1974 von der WHO (World Health Organisation) als ein Grundrecht definiert. Jeder Mensch hat das Recht auf sexuelle Gesundheit und das Recht, sexuelles Verhalten im Rahmen der persönlichen sozialen Ethik zu genießen und zu kontrollieren. Dieses individuelle Grundrecht gilt für das gesamte Leben, also auch im Alter.
Unter Sexualität wird heute ein ganzheitliches Phänomen verstanden, welches sowohl biologische als auch emotionale, intellektuelle wie spirituelle und sozio-kulturelle Aspekte einschließt. (Denny & Quadagno 1992)
Sexualität und Öffentlichkeit
Vor einigen Jahren gab es im österreichischen Fernsehen die Sendereihe „TABU – Österreichs großer Sexreport“, einen Bundesländervergleich zum Sexualverhalten der ÖsterreicherInnen mit 4000 Befragungen. „Wiegen, Messen und Vergleichen“ medial aufbereitet, doch verglichen mit den vielen Gesprächen während meiner langjährigen Berufslaufbahn und Wechseljahre-Beratungspraxis, gibt es eine breite Kluft zwischen öffentlich und privat, also wie Sexualität hinter verschlossenen Türen gelebt wird und wie öffentlich darüber gesprochen wird. Es gibt nicht nur einen Geschlechterunterschied, sondern auch einen Unterschied nach Altersgruppen.
Lust und Lustlosigkeit gibt es in jedem Alter, die Beweggründe sind vielfältig und im Umgang damit zeigen sich auch Unterschiede darin, ob eine Frau, ob ein Mann, ob Genderqueer, ob jung oder alt. Dass Sexualität im Alter auch zunehmend einen medialen Wandel erfährt, zeigt sich in Filmen wie „Wolke9“ oder in den Dokumentarfilmen von Gabi Schweiger „Die Lust der Frauen“ und „Die Lust der Männer“, mit dem Untertitel: Von der Liebe, dem Leben und dem Sex im Alter.
Elfriede Vavrik erregte 2010 mit ihrem Buch „Nacktbadestrand“ großes Aufsehen, weil sie im Alter von 79 Jahren die Sexualität neu entdeckt hat und diese Erfahrungen veröffentlichte.
Lust ist zeitlos!
Lust ist eine intensiv-angenehme Weise des Erlebens, die sich auf unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung zeigen kann, zum Beispiel beim Speisen, bei sportlichen Aktivitäten oder bei schöpferischer Tätigkeit, vor allem aber als Bestandteil des sexuellen Erlebens. (Def.Wikipedia)
Lustlosigkeit im sexuellen Kontext kann viele Ursachen haben, wie Sorgen, Stress, Krankheit, Zeitmangel oder auch Beziehungsprobleme. Wenngleich die Häufigkeit sexueller Aktivität in Paarbeziehungen nicht unbedingt als Gradmesser für die Qualität einer Beziehung steht, macht es Druck, wenn Meinungen kursieren wie zweimal wöchentlich sei die Norm. Ältere Paare sehen das häufig viel entspannter, vor allem, wenn sie das Nachlassen von Lust und Leidenschaft für einen normalen biologischen Prozess halten und manche sehen darin sogar ein Zeichen sicherer Bindung. Ein erfülltes Sexualleben ist keine Frage von „wie oft“.
Temporäre Lustlosigkeit hat durchaus ihre gute Seiten, bringt sie doch zum Vorschein, was fernab der körperlichen Liebe jetzt wichtig ist, beispielsweise sich aufeinander einlassen, Zärtlichkeit und Nähe, Vertrauen, Sicherheit, ein starkes „Wir-Gefühl“, Geborgenheit und vor allem, ein liebe-und respektvoller Umgang auch außerhalb des Schlafzimmers.
Sexualität und Erotik
Erotik oder Sinnlichkeit zeigt sich in vielen Dingen, nicht nur im Zusammenhang mit Sexualität. Erotik findet sich in der Bewegung, in der Stimme eines Menschen, im Augenblick, im Essen und Trinken, in Bildern und Texten u.v.m. Erotik wird nicht durch den Grad von Nacktheit eines menschlichen Körpers bestimmt. Erotik ist zelebrierbar, bis ins hohe Alter!
Sexualität und Liebe
Sexualität ist auch ohne Beziehungsleben möglich, vielleicht sogar ohne Liebe, aber mit Liebe – zumindest zum eigenen Körper – macht es mehr Freude. „Sex drückt in der Regel als wichtige Form der sozialen Interaktion, Gefühle der Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe aus“ (wikipedia)
Sexualität und Krankheit
In unserer von Jugend und Leistung geprägten Gesellschaft ist es schwer, so viel Selbstvertrauen aufzubauen, sich einzugestehen, dass trotz „alt und krank“, man es wert ist, als sexuell fühlendes Wesen gesehen zu werden, mit dem legitimen Bedürfnis nach Berührung, Zärtlichkeit und Wohlbefinden. (K. Zettl-Wiedner,2011)
Krankheiten im Alter können das Sexualleben erschweren oder auch verhindern, wobei nicht unmittelbar die Sexualorgane betroffen sein müssen, sondern gesundheitliche Probleme des Herz-Kreislaufsystems oder Depressionen, Diabetes, Arthritis, Inkontinenz und Demenz, können ebenfalls Einfluss darauf nehmen. Bei Inkontinenz kommt es häufig zu Scham-und Ekelgefühlen, die zu einem Rückzug aus einem aktiven Sexualleben führen. Noch schwieriger wird es bei dementiellen Erkrankungen, die das sexuelle Verlangen sowohl reduzieren wie auch steigern können. Pflegende PartnerInnen haben Angst, dass sie bei weiterem sexuellen Kontakt zu egoistisch sind oder aber die sexuelle Anziehung ist nicht mehr gegeben, weil sie sich ausschließlich in der Rolle der Pflegeperson sehen und nicht mehr als LebenspartnerIn.
Sexualität im Pflegebereich
Im Pflegediagnoseorientiertem Anamnesebogen für Erwachsene nach NANDA findet sich unter „Alleinsein und soziale Interaktion“ der Punkt „Sexualität“, welcher nur zu gern von Pflegepersonen übersprungen wird. Nicht viel anders zeigt es sich bei der Pflegeplanung in der Altenpflege nach M. Krohwinkel, AEDL „sich als Mann/Frau fühlen“. Selbst bei der weitverbreiteten Biografiearbeit, wird das Thema der Sexualität gering geachtet, obwohl es bei den meisten Menschen zur Lebensbiografie dazu gehört.
Liegt es an der eigenen Unsicherheit oder Wertehaltung dem Thema gegenüber, an den eigenen Schamgefühlen, an der Sorge die Intimsphäre zu verletzen, an Unwissenheit oder daran, dass alten oder kranken Menschen ein Sexualleben abgesprochen wird?
Intimität und Sexualität in der professionellen Pflege ist oftmals schambesetzt, wirkt verstörend, wird abgewertet und kann einen Nährboden für Konflikte darstellen. Neben der Wichtigkeit bereits in der Ausbildung auf einen fachlich-professionellen Umgang mit dem Thema zu achten, ist eine persönliche Reflexion, der eigene Umgang im Alltag mit Sexualität unerlässlich, um teilweise angenommene, gewohnte und unreflektierte Verhaltensweisen zu korrigieren.
Auch wenn noch nicht allerorts Pflegefachkräfte einen professionellen Zugang zum Thema finden, sind beispielgebende Veränderungen bereits im Gange. Eine davon ist z.B. der Zugang zur Sexualassistenz in Langzeitpflegeeinrichtungen. Doch es muss Pflegefachkräften auch klar sein, dass Sexualität im Pflegesetting nicht immer mit Geschlechtsverkehr zu tun hat. Es geht auch um das menschliche Bedürfnis von Berührung, Zärtlichkeit, Nähe, Anerkennung, Wertschätzung, Geselligkeit, Vertrauen und liebevolle Zuwendung.
Neben den hellen Seiten der Sexualität, gibt es auch die dunklen Seiten, wie beispielsweise sexuelle Belästigung. Sexuelle Übergriffe auf Pflegepersonen durch pflegebedürftige Personen können zu ohnmächtigen wie auch aggressiven Gefühlen führen. Manche Pflegepersonen fühlen sich derart beschämt, dass sie den Vorfall verheimlichen oder versuchen, den Täter/die Täterin zu meiden. Offene Gespräche in einem geschützten Rahmen sind Basis einer guten Bewältigungsstrategie. Gut geschulte Teammitglieder samt Führungskräften finden konstruktiven Lösungen und Unterstützungsmöglichkeiten, manchmal auch durch professionelle Hilfestellung von externen ExpertInnen, um Grenzverletzungen Einhalt zu gebieten.
Was ist Sexualität?
„Sexualität ist, was wir daraus machen: eine teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Abwehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine Waffe der Aggression, ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse, das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, ein Grund der Selbstachtung, ein Ausdruck der Zuneigung, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Ekstase, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung“. (M.Steinbeiß 2011zit.A.Offit)
Sexualität im Alter wird durch die demografische Entwicklung und durch die nachfolgende, sexuell permissiv erzogene Generation mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Die Beachtung der Sexualität und ihre Grenzen, hilft uns auch, um alten Menschen in ihrer Ganzheit würdevoll zu begegnen.
Persönliches Fazit:
Die wissenschaftlich erforschte Sexualität im Alter steckt vergleichsweise zu anderen Lebensabschnitten noch in den Kinderschuhen, doch was Studien bislang eindeutig zum Vorschein brachten, war, dass ein aktives Sexualleben in späten Jahren fern von Leistungsdruck und Häufigkeit oftmals erfüllter ist, als in jungen Jahren. Eine Gefahr sehe ich in der kommerzialisierten Sexualität, die zunehmend auch vor älteren Menschen nicht Halt macht, doch will ich auf die Weisheit des Alters vertrauen und der damit einhergehenden Gelassenheit, nicht „Müssen“ sondern „Wollen und Dürfen“.
Wer sich selbst akzeptiert, sich selber kennt und sich nicht vergleicht, hat gute Aussichten auf ein selbstbestimmtes Leben – das gilt auch für ein erfülltes Sexualleben.
Ein entspannter Umgang mit Sexualität im Alter wird sich entwickeln, wenn sich das gesellschaftliche, negativ besetzte Stereotyp vom Alter ins Positive wandelt.
Quellennachweis:
Rosenmayr,L. (1995), Die Kräfte des Alters,Edition Atelier,Wien
Denney, N.W., Quadagno,D.(1992), Human Sexuality, Mobsy Year Book
Steinbeiß,M.(2011),Intimität und Sexualität.In: Intimität,Sexualität,Tabuisierung im Alter, Bach,Böhmer(HG),Böhlau Verlag
Rödler,S.,Böhmer,F.(2011), Intimität,Sexualität,Tabuisierung im Alter, Bach,Böhmer(HG),Böhlau Verlag
Zettl-Wiedner,K.(2011),Hat Sexualität im Alter in einer Langzeitpflegeinstitution überhaupt Platz?In: Intimität,Sexualität,Tabuisierung im Alter, Bach,Böhmer(HG),Böhlau Verlag