„Liebevolle Zuwendung zu jedem Menschen, gegenseitige Wertschätzung und Achtung“?

6. Januar 2021 | Demenz, Erleben, Gastkommentare, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Zusammenfassung:

Eine Krankenhaus-Aufnahme  stellt nicht nur für die Patient*innen eine belastende Situation dar, auch für ihre Angehörigen ist sie mit Sorgen und Ängsten verbunden. Zugleich sind Angehörige eine wertvolle und entlastende Ressource nicht nur für die Kranken, sondern auch für das professionell betreuende Team.

Mangelnde Empathie, geringe fachliche und kommunikative Kompetenz  der Pflegepersonen potenzieren die Belastungen der Patient*innen und sie reduzieren das Vertrauen in die Institution Krankenhaus. Auch in herausfordernden Zeiten wie der gegenwärtigen Pandemie, muss der Grundsatz gelten. „First do no harm“.

Die Intention dieses Berichtes liegt nicht in Schuldzuweisungen einzelner Personen, sondern in der Hoffnung, durch das Aufzeigen des Erlebten etwas zur Verbesserung der Situation beizutragen.

Mein Vater, ein 91-jähriger Mann in altersentsprechendem Allgemeinzustand, ist mit Fieber und Schmerzen in Begleitung meiner Schwester ins Krankenhaus gekommen. Eine ältere sechsfache Rippenfraktur rechts wurde diagnostiziert sowie eine Pneumonie rechts. Die pflegerische Aufnahme wurde von einer Krankenpflegeschülerin durchgeführt.

Relevante Informationen, wie seine stark eingeschränkte Sehleistung aufgrund einer Macula-Degeneration und die eingeschränkte Mobilität wurden im Aufnahmegespräch  angegeben.

Bei der Aufnahme wurde uns mitgeteilt, dass der nächste Besuch eines Angehörigen Corona-bedingt erst nach drei Tagen erlaubt ist.

Noch in der ersten Nacht nach der stationären Aufnahme wurde mein Vater im Freien auf einer Terrasse liegend aufgefunden. Wie lange er dort lag und wie er es ohne Gehhilfe dorthin geschafft hat, war nicht nachvollziehbar. Das anschließend durchgeführte CT hat eine Serienrippenfraktur von zehn Rippen rechtsseitig ergeben.

Beim ersten Besuch nach drei Tagen war unser Vater verwirrt und apathisch.

Es stellte sich heraus, dass Informationen über seine Macula-Degeneration und auch seine  Gehbehinderung nicht dokumentiert bzw. an die zuständigen Pflegepersonen nicht weitergegeben wurden.

Die Aussagen von Pflegepersonen und Ärzt*innen,  mein Vater sei „dement“, können wir uns nur durch mangelnde Beobachtung und die unzureichende Anamnese erklären, denn eine kognitive Einschränkung im Sinne einer Demenz liegt nicht vor.

Bei meinem Besuch hat mein Vater seine Zahnprothesen nicht getragen. Er empfand das als beschämend. Auf Nachfragen wurde mir erklärt, dass es auf der Station so üblich sei, dass die Patient*innen die Prothesen nur zum Essen tragen.

Nach zehn Tagen hat der Stationsarzt als möglichen Entlassungstermin Ende der darauffolgenden Woche angedeutet und er wollte das dem Entlassungsmanagement so weitergeben. Mit diesem wurde der Bedarf an Pflegehilfsmittel und die Unterstützung durch extramurale Pflegedienste besprochen.

Bei einem Telefonat am nächsten Tag mit der zuständigen Pflegeperson haben wir zufällig und wie nebenbei erfahren, dass bei der Visite beschlossen wurde, dass die Entlassung meines Vaters noch am selben Tag erfolgen sollte.

Unser Einwand, dass die Organisation der häuslichen Betreuung nicht innerhalb eines Tages zu bewerkstelligen ist, löste Verwunderung aus. Der Entlassungsmanager war nicht informiert und wir vereinbarten die Entlassung meines Vaters zwei Tage danach.

An diesem Tag war zu Hause alles vorbereitet und wir haben auf die Ankunft meines Vaters gewartet. Nachdem er auch am Nachmittag nicht gebracht wurde, haben wir an der Station nachgefragt und von der Pflegeperson erfahren, dass die Entlassung aufgrund leicht erhöhter Entzündungswerte verschoben wurde. Unser Hinweis, dass wir als Angehörige darüber hätten informiert müssen, stieß auf wenig Verständnis.

Was das für unseren Vater bedeutete, kann man nur ahnen. Er hätte vermutlich emotionale Unterstützung gebraucht, aber da wir zu spät über die verschobene Entlassung informiert wurden, war ein Besuch aufgrund der geltenden Einschränkungen nicht mehr möglich

Tags darauf wurden im Lungenröntgen alte Kavernen festgestellt und daher ein TBC-Test veranlasst, somit war eine Entlassung nach Hause auch an diesem Tag nicht möglich.

Dass mein  Vater Anfang der 1970er-Jahre eine TBC durchgemacht hat, hätte er auf Nachfrage auch selbst angeben können. Warum er nicht danach gefragt wurde, liegt vermutlich daran, dass er als „dement“ galt. Möglicherweise wird aber auch davon ausgegangen, dass alte Menschen nicht in der Lage sind, über ihre Krankengeschichte Auskunft geben zu können.

Bei meinem nächsten Besuch  habe ich meinem Vater in aufrechter Sitzposition ein Glas Saft angeboten. Von einer Pflegeperson wurde ich darauf hingewiesen, dass die Getränke eingedickt werden müssen, um eine weitere Pneumonie zu vermeiden. In aufrechter Position konnte mein Vater problemlos trinken und die Gefahr einer Pneumonie bestand eher durch Schonatmung aufgrund der Rippenfrakturen. Es entstand der Eindruck, dass die Pflegeperson über die Frakturen nicht Bescheid wusste.

Die Beobachtung, dass einige der Pflegepersonen die Patient*innen duzen und mit ihrem Vornamen ansprechen, spricht nicht für eine respektvolle Haltung, auch steht es im Widerspruch zu pflegerischen Standards.

Beim Entlassungsgespräch mit der Stationsärztin wurde deutlich, dass die Ärztin über die Macula-Degeneration und die damit verbundene Sehbehinderung meines Vaters nicht informiert war, weil sie in der Dokumentation noch immer nicht vermerkt war.

Die Entlassung hat dann wie geplant tags darauf stattgefunden. Leider wurden weder die erforderlichen Rezepte noch der Arztbrief mitgegeben, auch die Toilettentasche meines Vaters wurde vergessen mitzugeben.

Die Kommunikation mit meinem Vater, als unmittelbar Betroffenem, aber auch mit uns als besorgte Angehörige wurde von uns als unzureichend erlebt. Abgesehen von der persönlichen Betroffenheit werfen unsere Erfahrungen aber auch Fragen auf:

  • Wie geht es Menschen, die abhängig sind von der fachlichen und menschlichen Kompetenz, dem Wohlwollen und der Empathie-Fähigkeit der betreuenden Pflegepersonen und behandelnden Ärzt*innen?
  • Welchen Stellenwert haben die Angehörigen als Mit-Betroffene und Bezugspersonen der Patient*innen, als Partner*innen in der Sorge um den Kranken? Wie können sie darauf vertrauen, dass ihre Liebsten in guten Händen sind?
  • Wer setzt sich für alte, verängstigte und dementiell veränderte Menschen ein, die keine Angehörigen haben, die ihre Interessen vertreten können?
  • Welche Bedeutung hat die Reflexionsfähigkeit der Betreuenden, die Bereitschaft Fehler einzugestehen und daraus zu lernen, statt mit Abwehrhaltung zu reagieren?

Als Pflegefachfrau verstehe ich,  dass die täglichen Arbeitsanforderungen gerade in Ausnahmesituationen wie der Corona-Pandemie für alle Beteiligten groß sind.

Ich neige aber auch zur Ansicht, dass während solchen Zeiten Unzulänglichkeiten und Missstände noch leichter übersehen und bestehende organisatorische Mängel sowie menschliche und fachliche Inkompetenzen weniger hinterfragt werden.

Die erlebte Unachtsamkeit und Unwissenheit von Pflegenden hat mich erschreckt.

Wenn wesentliche Einschränkungen wie eine gravierende Beeinträchtigung des Sehens und Einschränkungen der Mobilisation trotz der Angaben der Angehörigen, nicht erfasst, nicht dokumentiert und nicht beachtet werden, widerspricht dies einer qualitativ angemessenen Pflege.

Und wenn Angehörige eines betreuungsbedürftigen alten Menschen über eine geplante oder verschobene Entlassung nicht zeitgerecht informiert werden, zeugt das von Unkenntnis der Erfordernisse für eine häusliche Betreuung.

Auch wenn „vergessen“ wird, die Patient*innen selbst zu befragen, wenn Unklarheiten hinsichtlich der Krankheitsgeschichte bestehen, dann entsteht tatsächlich der Eindruck, dass alte Menschen grundsätzlich für nicht auskunftsfähig und als inkompetent betrachtet werden.

Wir arbeiten mit Menschen in verletzlichen Lebenssituationen und müssen uns dieser Verantwortung bewusst sein, um nicht zusätzlich physisches oder psychisches Leid zu verursachen.

Es ist zu wünschen, dass wir als Angehörige darauf vertrauen können, dass Patienten und Patientinnen im Krankenhaus menschlich, medizinisch und pflegerisch bestmöglich betreut werden. Es genügt nicht, Ideale wie „ Liebevolle Zuwendung, Wertschätzung und Achtung“ in Leitlinien zu formulieren, sie müssen in der täglichen Praxis umgesetzt werden, – auch – und vielleicht ganz besonders in herausfordernden Zeiten.

Autor

  • Ingrid Marth

    Dipl. Gesundheits- und Krankenpflegerin mit Zusatzausbildung in Palliative Care und pflegerische Leitung des Mobilen Palliativteams der Caritas Socialis in Wien, Dipl. Erwachsenenbildnerin, Fachbereich Gesundheitsförderung, Dipl. Ernährungsberaterin TCM, B.A. Buddhistische Philosophie, Achtsamkeitsmeditation; Kontaktmöglichkeiten: Email: ingrid.marth@cs.at oder ingrid.marth@gmx.at