Die Medizinethikerin Nina Streeck hat mich vor kurzem aufhorchen lassen. Auf der Webseite www.alzheimer.ch, die Angehörigen von demenzbetroffenen Menschen Hilfestellung geben will, stellt sie die Frage, wofür ihre Mutter eine Puppe braucht. Sie kritisiert, das Alter und die Gebrechlichkeit als eine Rückkehr in die Kindheit zu verstehen. Es sei üblich, Menschen in Pflegeheimen mit Dingen zu beschäftigen, die sonst für Kinder gut seien. Selbst wenn Menschen in den Pflegeheimen freiwillig Kinderspielzeug in die Hand nähmen, „stehen sie an einem anderen Punkt in ihrer Geschichte als ein Vierjähriger“ (Zitat). Und sie unterstreicht in ihrem Plädoyer: „Wer sich beschweren will, weil die alte Mutter plötzlich eine Puppe mit ins Bett nimmt, wünscht sich womöglich schlicht die frühere Person zurück. Oder aber er fragt sich, ob man sie im Pflegeheim zu Unrecht wie ein Kind behandelt. Doch lässt sich das an der Puppe festmachen? Mitnichten – sondern daran, ob wir wissen, wen wir vor uns haben: kein Kind“ (Zitat).
Mich hat das Plädoyer von Nina Streeck erschrocken. Schließlich hat keine Pflegende und kein Pflegender ein Interesse daran, einen gebrechlichen und dementiell veränderten Menschen zu infantilisieren. Streeck zeigt ein starkes Bemühen, Helferhandeln rational in Frage zu stellen. Dabei ist die Intervention, beispielsweise mit Demenzpuppen einen Zugang zu den betroffenen Menschen anzusprechen, ein Versuch, das Emotionale im Menschen anzusprechen. Schließlich wird das Herz nicht dement, wie es Udo Baer, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Gerontopsychiatrie, häufiger betont hat.
Wenn sich Menschen dementiell verändern, dann kommen die Menschen um sie herum an Grenzen. Dies gilt nicht nur für herausforderndes Verhalten, das sie im sozialen Alltag zeigen. Insbesondere fällt es schwer, mit den betroffenen Menschen zu kommunizieren. Probieren Pflegende sie verbal anzusprechen, verstehen die Betroffenen ihr Gegenüber nicht. Versuchen Pflegende auf der nonverbalen Ebene in Kontakt zu kommen, so ist bei aller Freude über ein Gelingen die Gefahr immer groß, auch dort Missverständnisse zu erleben.
Die Medizinethikerin Nina Streeck muss sich fragen lassen, ob sie sich nicht allzu sehr der Logik der Vernunft hingibt. Sie scheint die Angehörige einer dementen Mutter zu sein. Dass sie mit dem Schicksal hadert, kann jede und jeder verstehen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass sie den guten Willen und die ehrlichen Absichten der helfenden Menschen in der Altenversorgung etwas aus dem Blick verliert.
Der Pflege-Pionier Erwin Böhm ist es gewesen, der Pflegenden über Jahre hinweg gesagt hat: „Man muss zuerst die Seele bewegen, bevor man die Füße bewegt“. Auch als diejenigen, die sieben Tage in der Woche 24 Stunden mit dementen Menschen leben und ihnen im Alltag helfen, bleibt uns die Aufgabe, bei allem Handeln in die Schuhe der Betroffenen zu schlüpfen. Indem wir Empathie zeigen, können wir den betroffenen Menschen vielleicht das letzte Stück Lebensqualität bewahren.
Die Puppe ist wie bei einem Kind der Zugang des dementen Menschen zu irgendeiner Form der Welt -und zwar zu der, die er von innen nach außen bringt. Die Puppe bietet die Möglichkeit, Kommunikation auf eine vorsprachliche Ebene zu bringen. Das Problem liegt m. E. darin, dass wir bestimmte Konzepte im Kopf haben, wie zum Beispiel, dass ein alter Mensch per se erwachsen sei. Und wenn wir vom Kind in der Frau und im Mann ausgehen, dann bleibt das Kindliche, das Spielerische über die Lebensalter ein möglicher Zugang zum älteren Menschen. Die Kunst im Umgang mit den Puppen liegt also darin, dem Gegenüber die „Verantwortung“ zu überlassen, wie er mit seinem kindlichen, spielerischen Anteil darauf reagiert.
Wenn über Demenzpuppen eine Brücke zu den dementiell veränderten Menschen geschlagen werden kann, ist doch eine Menge geschafft. Uns Pflegenden ist bewusst, dass unser Handeln allzu oft nur unspezifisch wirken kann. Hauptsache, die Interventionen wirken. Die Demenzpuppen sind vielleicht nur Krücken, aber das macht doch nichts.
Niemand hat die Absicht, dementiell veränderte Menschen zu infantilisieren. Uns Pflegenden kann allerdings gerne unterstellt werden, dass wir die Anthropologie lieber als die Psychopathologie im Blick haben wollen.
https://alzheimer.ch/de/angehoerige/ethik/magazin-detail/630/wofuer-braucht-mutter-eine-puppe/?fbclid=IwAR2YLUrq45vM5wzZeVEMjjD9gp3xi2eL5_XQngoI-OEBpBUVOncWx135y1Q