„Lernen, auf eine gute Art mit ihren Gefühlen umzugehen“

26. Mai 2020 | Christophs Pflege-Café, Psyche | 0 Kommentare

Es erscheint eigentlich als eine Binsenwahrheit. Wer mit seelisch erkrankten Menschen arbeitet, der hat mit starken Gefühlen im beruflichen Alltag zu tun. Mit dem Buch „Umgang mit Gefühlen in der psychiatrischen Arbeit“ öffnet der Psychotherapeut Andreas Knuf nun quasi den Deckel eines Topfs mit kochendem Wasser. Knuf zeigt deutlich, dass es in der Begleitung seelisch erkrankter Menschen immer auch um die Wechselseitigkeit von Emotionen geht. Im Gespräch mit Christoph Müller hat er auf die Bedeutung von Gefühlen in vielen Bereichen pflegerischen Handelns geschaut.

Christoph Müller Wer Ihr Buch „Umgang mit Gefühlen in der psychiatrischen Arbeit“ liest, demjenigen wird bewusst, wie wichtig die Beschäftigung mit der eigenen Gefühlswelt ist. Was war Ihre Motivation, dieses bewegende Buch zu schreiben?

Andreas Knuf Ich arbeite jetzt fast 25 Jahre psychotherapeutisch und fast 20 Jahre im Psychiatriebereich. Je länger ich mit Menschen arbeite, je deutlicher ist mir geworden, dass die Gefühle und der gute Umgang damit das wohl Wichtigste in unserer Arbeit sind. Ein ungünstiger Umgang mit Gefühlen lässt psychische Erkrankungen entstehen und erschwert Genesungsprozesse.
Gleichzeitig beobachte ich, dass sich die psychiatrische Behandlung weiterhin sehr schwer mit den Gefühlen der Klienten tut. Etwas platt formuliert: Die heiklen Gefühle der Klienten sollen möglichst schnell wieder weg. Vielfach werden dazu Medikamente eingesetzt. Doch unsere Klienten brauchen etwas anderes. Sie müssen lernen, auf eine gute Art mit ihren Gefühlen umzugehen. Dabei bekommen sie oft sehr wenig Unterstützung. Die Folge davon ist, dass es ihnen dann nicht gelingt, einen guten Weg im Umgang mit Angst, Trauer, Scham oder Wut zu finden.

Christoph Müller Die Lebendigkeit und Heftigkeit von Gefühlen ist letztendlich kein Spezifikum psychiatrischen Arbeitens. Wo sehen Sie Handlungsbedarf und Reflexionsnotwendigkeit bei Menschen, die in anderen Versorgungskontexten tätig sind?

Andreas Knuf Das stimmt natürlich. Das gesamte medizinische System tut sich mit den Gefühlen der Patienten schwer, teilweise ist das auch im psychosozialen Bereich so. Letztlich ist das ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Wir beobachten vielerorts eine regelrechte Emotionsphobie, zumindest, wenn es um unsere eigenen Gefühle geht. Wir tun uns schwer, über Gefühle zu sprechen oder sie überhaupt wahrzunehmen. Auf der anderen Seite zeigen uns Hunderte von aktuellen Studien, wie wichtig Gefühle sind. Während in den letzten Jahrzehnten eher an den Kognitionen angesetzt wurde, ist schon seit längerem eine emotionale Wende im Gange. In der Psychotherapie kann man dies gut beobachten. Die Kognitive Verhaltenstherapie ist ganz klar auf dem Rückzug. Dabei galt sie über Jahrzehnte als das Non-Plus-Ultra. Alle modernen Psychotherapiemethoden messen den Gefühlen eine ganz zentrale Rolle bei. Es sind vor allem unsere Gefühle, die über unsere Lebensqualität entscheiden, die sich auf unsere Motivation und unsere Beziehungsfähigkeit auswirken und die letztlich einen großen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben. Ohne Gefühle geht quasi gar nichts.

Christoph Müller Sie schreiben über Spiegelneuronen, Sie schreiben über die Wechselseitigkeit von Gefühlen zwischen begleitenden und begleiteten Menschen. Wo sind denn aus Ihrer Sicht die Fallstricke für Menschen, die in der Palliativpflege oder in operativen pflegerischen Kontexten arbeiten?

Andreas Knuf Wir wissen, wie wichtig die emotionale Resonanz von Fachpersonen für die therapeutische Beziehung und den Behandlungserfolg sind. Es ist also zum Teil notwendig, dass wir uns von den Empfindungen unserer Klienten berühren lassen. Wir müssen nicht jede Empfindung unseres Gegenübers empathisch einfühlen, aber wir sollten emotional berührbar und spürbar bleiben. Aber das muss man erst mal hinkriegen, vor allem weil wir unseren Job ja in der Regel nicht einige Monate oder wenige Jahre machen, sondern meistens Jahrzehnte.  Es gelingt uns nur, wenn wir genügend eigene emotionale Kompetenzen haben und eine sogenannte Emotionstoleranz entwickeln, also die Fähigkeit, die verschiedenen Gefühle zu tragen.

Christoph Müller Was ist denn aus Ihrer Sicht die Gefahr, wenn ich mich in der pflegerischen täglichen Arbeit auf mein funktionales Handeln zurückziehe und Beziehung zu Pflegebedürftigen zu vermeiden suche?

Andreas Knuf Zunächst steht zu befürchten, dass der Behandlungserfolg schlechter wird. Der Patient hat also negative Konsequenzen. Aber auch Sie als Fachperson werden auf Dauer darunter leiden. Sie haben Ihren Beruf ganz sicher nicht ausgewählt, weil sie nur funktional handeln möchten, sondern weil ihnen was an den Menschen liegt. Sie ziehen sich nicht freiwillig auf das funktionale Handeln zurück, sondern es ist eine Rettungsinsel, eine Überlebensstrategie, weil sie sich keinen anderen Rat wissen und weil die Arbeitsbedingungen mehr nicht zulassen. Sie machen es aus einer inneren Not heraus. Die Not kann so groß sein, dass man entgegen seiner eigenen Werte arbeitet. Patient und Helfer zahlen einen hohen Preis, weshalb diese Strategie nur in Ausnahmesituationen und nur für kurze Zeit angewandt werden sollte. Auf die Dauer haben wir keine andere Möglichkeit, als in Beziehung zu gehen. Wir brauchen Strategien, um gut mit unseren eigenen Gefühlen umgehen zu können, und das haben wir in unseren Ausbildungen meistens viel zu wenig gelernt.

Christoph Müller Wieso neigen wir im beruflichen wie privaten Kontext dazu, lieber dysfunktionale Muster zur Bewältigung von (unangenehmen) Gefühlen zu wählen?

Andreas Knuf Weil wir diese zumeist früh erworben haben, oftmals schon im Elternhaus. Wenn die eigenen Eltern ihre Gefühle in Krisensituationen den Kindern gegenüber verborgen haben, dann machen wir es im Erwachsenenalter vielleicht ähnlich. Die meisten von uns haben relativ wenige emotionale Kompetenzen gelernt. Außerdem halten wir diese eigentlich ungünstigen Strategien vielfach für hilfreich. Kurzfristig müssen wir ein aktiviertes unangenehmes Gefühl nicht fühlen, wenn wir Alkohol trinken oder uns intensiv ablenken. Wir werden also für unser Verhalten belohnt, da wir eine unangenehme Empfindung nicht fühlen müssen. Doch die Studien sagen uns: Wenn wir ein Gefühl wegdrücken, wird das Gefühl nicht schwächer, sondern es verstärkt sich letztlich sogar noch.

Christoph Müller Sie sehen die Nutzung von Psychopharmaka kritisch, wenn es um die Stabilisierung oder Konstituierung positiver Gefühle geht. Gerade in der Versorgung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte meint man eine gewisse Nachlässigkeit zu sehen, wenn es um die Bewältigung von Gefühlen geht. Wo sehen Sie Gründe für dieses bedenkliche Handeln, obwohl Medizinerinnen und Mediziner es sicher anders wissen?

Andreas Knuf Es fehlt die Zeit und manchmal auch die Motivation, letzteres beim Behandler wie auch beim Patienten. Wir wissen alle, dass es für den Klienten nicht hilfreich ist, wenn er ein Benzodiazepin als Dauermedikation verordnet bekommt, etwa um ihm zu helfen, seine Ängste zu bewältigen. Zur Krisenbehandlung ist diese Stoffklasse durchaus hilfreich, aber nicht als längerfristige Therapie. Da bedarf es eher einer psychotherapeutischen Unterstützung und der Vermittlung von Emotionsregulationsstrategien. Was kann ich selbst tun, bevor ich zum Medikament greife? Doch das ist langwierig. Die meisten Klienten schreien nicht „Hurra“, wenn klar wird, dass das unangenehme Gefühl nicht „weggezaubert“ wird, sondern dass es teilweise sogar ausgehalten werden soll. Um die Förderung der Akzeptanz der Gefühle kommen wir nicht herum, alles andere ist Notfallbehandlung, als Krisenintervention sinnvoll, aber der Patient erwirbt keine längerfristige Fähigkeit, um mit seinen Gefühlen hilfreich umgehen zu können.

Christoph Müller Was wünschen Sie Menschen in helfenden Berufen, wenn Sie sich gegen die „professionelle Distanz“ aussprechen?

Andreas Knuf Dass wir uns menschlich und normal verhalten. Konzepte wie das der professionellen Distanz sind künstlich. So werden sie meistens auch von Mitarbeitenden und von Klienten wahrgenommen. Ich habe lange in der Psychiatrie gearbeitet. Da weiß manchmal die kroatische Putzfrau mehr über den Klienten als der Oberarzt, weil sich der Patient der Putzfrau anvertraut, aber nicht dem Oberarzt, den er vielleicht als zu distanziert erlebt. Das Konzept der professionellen Distanz können wir vergessen. Es geht um eine angemessene Balance von professioneller Nähe und professioneller Distanz. Professionelle Nähe bedeutet aber nicht zwangsläufig, dem Klienten persönliche Dinge zu erzählen oder Körperkontakt herzustellen. Es reicht vollkommen aus, sich nicht bewusst distanziert zu verhalten und sich an üblichen Normen menschlicher Begegnung zu orientieren, soweit das in dem jeweiligen Arbeitskontext möglich ist. Meine Erfahrung ist, dass Fachpersonen dies sowieso meistens tun, aber vielfach mit schlechtem Gewissen, weil sie die Regel der professionellen Distanz missachten. Dabei machen sie eigentlich alles richtig, das schlechte Gewissen ist vollkommen überflüssig.

Christoph Müller Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Buch, um das es geht

Andreas Knuf: Umgang mit Gefühlen in der psychiatrischen Arbeit, Psychiatrie-Verlag, Köln 2020, ISBN 978-3-88414-955-3, 160 Seiten, 20 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at