Die ICF (International Classification of Functionality, Disability and Health) ist ein, von der WHO erstmals 2001 herausgegebenes, Klassifikationsmodell zur Beschreibung von Gesundheitszuständen. Es zeichnet sich durch seinen bio-psycho-sozialen Ansatz aus und rückt somit auch systemische Kontextfaktoren in den Fokus. Ein Ziel der ICF ist es Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung herzustellen.
Ist oder wird man behindert? Und was soll mit diesem Attribut eigentlich ausgedrückt werden? Entlang welcher Trennlinie oder welcher Kriterien entscheidet die Gesellschaft, ob jemand als Mensch mit Behinderung beschrieben wird und ist diese begriffliche Abgrenzung von Personengruppen überhaupt mit dem Inklusionsgedanken vereinbar? Die Antworten auf diese Fragen unterliegen einem kontinuierlichen Wandel. Gegenwärtig führt uns dieser Diskurs an einen Punkt, an dem solche stigmatisierenden Zuschreibungen unter den paradigmatischen Ansätzen von Diversität und Inklusion in Frage gestellt werden. Gemäß dem bio-psycho-sozialen Verständnis der ICF (siehe Textbaustein) ist Behinderung nicht als inhärentes Merkmal eines Individuums zu betrachten, sondern als Produkt systemischer Wechselwirkung. Das bedeutet, dass der Grad der erlebten Behinderung in Abhängigkeit von Kontextfaktoren variieren kann. Veranschaulichend könnte dieser Gedanke zum Beispiel folgendermaßen erläutert werden: Wie behindert wäre eine, an den Rollstuhl gebundene Person, in einer völlig barrierefreien Welt? Ohne Hindernisse wie Treppen, alten Straßenbahngarnituren oder unerreichbaren Produkten im Supermarkt würde sich das Ausmaß, in dem so eine Person von Unterstützungsleistungen und Autonomieverlust betroffen ist, durchaus reduzieren. Dieses Denkmodell lässt sich aber nicht nur auf Menschen mit Körperbehinderungen anwenden. Wie behindert wäre denn eine Person mit Intelligenzminderung in einer Gesellschaft, in der sich der Wert eines Menschen nicht entlang seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit misst, sondern seine bloße menschliche Existenz dafür ausreicht als wertvolles Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden? Wie behindert wären Menschen mit autistischen Ausprägungen in einer Welt, in der nicht vordergründig soziale Skills und Anpassungsfähigkeit gefragt sind, sondern auch individuelle autistische Fähigkeiten wie Hyperfokussierung oder monothematische Spezialisierung als Ressource betrachtet werden würden? Würde Gehörlosigkeit noch als Behinderung gelten, wenn Gebärdensprache in sämtlichen Schulen fixer Bestandteil des Unterrichts wäre und somit auch hörende Schülerinnen und Schüler auf ganz natürliche Weise diese Sprache mitlernen könnten?
Ob eine Person also als behindert beschrieben wird, hängt in diesem Sinne nicht von der Person und ihren individuellen Dispositionen ab, sondern davon wie diese Person im systemischen Geflecht ihrer Lebenswelt eingebettet ist. In der Lebenswelt eines Menschen stellt die Wohnumgebung einen der zentralen und prägenden Faktoren dar. Das inklusive Wohnprojekt LebeBunt hat zum Ziel, die behinderungsrelativierenden Potentiale einer Wohnumgebung auszuloten, in der den Bedürfnissen von Menschen, unabhängig ihrer jeweiligen Disposition, oder nennen wir es vielleicht besser einfach Daseinsform, entsprochen wird. Das ist zwar ein hehres Ziel, von einer unerreichbaren Utopie kann aber nicht die Rede sein. Selbiges kann nämlich angesichts der neoliberalen Tendenzen in unserer Gesellschaft (siehe etwa politische Slogans wie „Gerechtigkeit für die Leistungswilligen“) auch dem Inklusionsgedanken insgesamt zugeschrieben werden. Wovon nämlich sicher nicht die Rede sein kann, ist eine breite gesellschaftliche Debatte über die Relativierung von Behinderung, oder die Förderung von Partizipation und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung. Trotzdem werden Inklusionsbestrebungen stetig weiterverfolgt – auch mit Erfolg.
Die Wohnsituation von Menschen mit Behinderung unterliegt seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einem steten Wandel. Im Fahrwasser aufkommender Kritik an totalen Institutionen (Goffman, 1961), sowie einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Menschen mit Behinderung kam es in vielen Ländern weltweit zu einem Deinstitutionalisierungsprozess. Menschen mit Behinderung, die in institutionellen Großeinrichtungen leben mussten, wurden in dezentrale kleinere Wohneinheiten übersiedelt. In räumlicher Distanz dazu wurden tagesstrukturierende Einrichtungen geschaffen. So sollte auch den Idealen des Normalisierungskonzeptes von Nirje (1969) und der Valorisation von Randgruppen (Wolfensberger, 1986) entsprochen werden. Dies ist zwar als bedeutender Schritt in der Geschichte von Menschen mit Behinderung zu sehen, von einer endgültigen Aufhebung der Barrieren und Ausgrenzungstendenzen kann aber nicht die Rede sein. Die österreichische Sozialwissenschafterin Petra Flieger (2020) übt unter Verwendung der Begrifflichkeit „aussondernde Einrichtungen“ Kritik an den bestehenden Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Das Fundament dieser Kritik liegt auf der Hand: dort leben ausschließlich Menschen mit Behinderung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Wohneinrichtungen befinden sich in ihrem Handeln stets in einem Spannungsfeld aus Institutionsinteressen versus Individualinteressen und Bedürfnissen der zu begleitenden Personen. Forschungen deuten darauf hin, dass das institutionell limitierte Ausmaß an Selbstbestimmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so auch an die Bewohnerinnen und Bewohner weitergegeben wird. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stationärer Einrichtungen übertragen ihre eigenen Autonomiedefizite, beispielsweise verursacht durch standardisierende Vorgaben, auf die ihnen anvertrauten Klientinnen und Klienten und schränken so deren Selbstbestimmungsmöglichkeiten zusätzlich ein (Garms-Homolová & Theiss, 2009, S.216). Erschwerend kommt noch hinzu, dass sonderpädagogische Versorgungskonzepte, unter denen die Begleitung unterstützungsbedürftiger Personen in solchen Einrichtungen stattfindet, mit Erziehungsbestrebungen einhergehen, die sich oft nicht mit dem Selbstbestimmungsgedanken vereinbaren lassen. Erzeugt werden so Phänomene wie erlernte Hilflosigkeit (Theunissen, 2003) seitens der Bewohnerinnen und Bewohner, und Moral Distress (Jameton 1984) seitens des Personals. Keine besonders gute Grundlage für ein gelingendes selbstbestimmtes Leben und Miteinander.
LebeBunt reiht sich also geschichtlich in einen fortlaufenden Deinstitutionalisierungsprozess ein. Wo soll es hingehen, was ist das Ziel? Einen Hinweis gibt Artiklel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention. So heißt es dort, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben müssen „ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“ (Art. 19a UN BRK). Eine zeitgemäßes Wohnangebot für Menschen mit Behinderung soll also weder aussondernd noch besonders sein. Wie lässt sich dieses Ideal mit den individuellen Anforderungen (Bedarf an Assistenzleistung, bauliche Barrierefreiheit etc.) vereinbaren, die Menschen mit Behinderungen an ihre Wohnumgebung stellen?
LebeBunt versucht dieser komplexen Aufgabenstellung auf allen Ebenen zu begegnen. Mit über 400m² barrierefreier Wohnfläche, je einem geräumigen und behindertengerechten Badezimmer für zwei Bewohnerinnen oder Bewohner und höhenverstellbaren Küchengeräten kommt die WG von baulicher Seite Menschen mit Körperbehinderungen entgegen. Für die Zukunft ist auch die Installation diverser Assisted Living Devices geplant, die die Umgebungssteuerung erleichtern soll. Bewohnerinnen und Bewohner, die im Alltag einen Bedarf an Assistenzleistung (Einkaufen, Kochen, Arztbesuche, Amtswege usw.) haben, erhalten diese durch mobile Wohnassistenz, entweder direkt vom Integration Wien Team oder durch externe Anbieter. Für eine übersichtliche Tagesplanung und Aufgabenverteilung sorgt unser symbolgestützter Sivus Kalender. Dabei handelt es sich um eine übersichtliche Wochen-Tagesplanung, die einem konkreten Farbschema folgt und mit Piktogrammen bestückt wird, die symbolisch für Aufgaben, Ereignisse und Personen stehen. Jede Bewohnerin und jeder Bewohner weiß, wann, was und von wem zu erledigen ist. So kommt es im Alltag zu weniger Konfliktsituationen und Streitigkeiten. Menschen mit Lernbehinderung können aktiv an gemeinsamen Entscheidungen und Prozessen teilnehmen. Die visuelle Aufbereitung der Aufgaben kommt nicht nur den Bewohnerinnen und Bewohnern mit Behinderung entgegen – alle profitieren von der bildhaften Sprache.
Überbordenden Overheadstrukturen wird unter dem Motto keep it simple begegnet: Für die Bewohnerinnen und Bewohner soll es kaum spürbar sein, dass ein institutioneller Überbau besteht. Assistenzleistungen werden individuell ausverhandelt. Es gibt keine standardisierten Abläufe. Bewohnerinnen und Bewohner ohne Behinderung sind zu keinerlei Assistenzleistung gezwungen- so soll zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern stets eine Begegnung auf Augenhöhe gewahrt bleiben. Zwischenmenschlichen Reibungen wird mit dem Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Gruppe begegnet und Unterstützung wird geboten, wenn die Gruppe einen Bedarf sieht. Gemäß dem Vorschlag von Theunissen (2003) legen wir vom Projektteam einen Willen zur Intransparenz an den Tag. Wir können und wollen nicht kontrollieren, was in der WG vor sich geht – auf diese Weise schaffen wir den Rahmen für Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Das Projektteam begreift sich nicht als steuerndes Element von LebeBunt. In unserer Verantwortung liegt es einfach, einen optimalen und zeitgemäßen Rahmen für inklusives Wohnen zu schaffen.
Unsere Vision: inklusives Wohnen soll so normal sein, dass es nicht mal mehr so eine Bezeichnung braucht. Ende letzten Jahres haben die Bewohnerinnen und Bewohner einen Zufriedenheitsfragebogen zum Ausfüllen bekommen. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigt eine Antwort auf die Frage „Bist du damit zufrieden, dass immer 4 Personen mit und 4 Personen ohne Behinderung hier leben?“ – Antwort: „Wusste gar nichts von dieser Regelung“. Besser kann´s nicht laufen.
Quellenangaben:
Flieger, P. (2020). Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Erschienen am 22.09.2020 in der Tageszeitung Standard. Abgerufen am 27.01.2021 von: https://www.derstandard.at/story/2000120135289/diskriminierung-von-menschen-mit-behinderungen
Garms-Homolová, V. & Theiss, K. (2009). Teilhabe und Selbstbestimmung in den Pflegeeinrichtungen – realisierbare und wirksame Maßnahmen. Garms-Homolová, V., Kardoff, E., Theiss, K., Meschnig, A., & Fuchs, H. (Hrsg.), Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Pflegebedarf – Konzepte und Methoden. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag
Goffman, E. (2018). Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp
Jameton, A. (1984) Nursing practice: the ethical issues. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall
Nirje, B. (1969). Das Normalisierungsprinzip und seine Auswirkungen in der fürsorgerischen Betreuung. Zit. nach Biewer G. Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik (2017). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt
Theunissen, G. (2003). Selbstbestimmung und Empowerment handlungspraktisch buchstabiert. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (Hrsg.), Vom Betreuer zum Begleiter (153-166). Marburg: Lebenshilfe Verlag.
Wolfensberger, Wolf (2008). Die Entwicklung des Normalisierungsgedankens in den USA und in Kanada (1986). In: Thimm, Walter (Hrsg.): Das Normalisierungsprinzip. Ein Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart eines Reformkonzepts. 2. Aufl., Marburg: Lebenshilfe-Verlag, S. 168 – 186.
World Health Organization (2005). International classification of functioning, disability and health. Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.), Köln: DIMDI