„Krise ist ein produktiver Zustand“

12. Januar 2021 | Christophs Pflege-Café, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Stress wird als alltägliches Phänomen akzeptiert. Viele Menschen treibt die Rastlosigkeit in seelische Krisen. Der Psychiatrie-Pfleger Jonathan Gutmann unterstützt in seiner klinischen Arbeit Menschen, die unter der Ruhelosigkeit leiden. Mit seinem Buch „Jesus aber schlief“ schaut er mit der Erfahrung aus der psychiatrischen Arbeit, aber auch mit seinem christlichen Glauben auf den Umgang mit Stress und Überforderung. Christoph Müller hat das Gespräch mit Gutmann gesucht.

Christoph Müller Bei einem Blick in Deine Vita sieht man schnell, dass die Auseinandersetzung mit Stress und Entspannung einer deiner persönlichen Schwerpunkte ist. Wie kommt es zu diesem Engagement?

Jonathan Gutmann Schon seit Beginn meiner Tätigkeit in der psychiatrischen Pflege wurde mir von verschiedenen Seiten nachgesagt, dass ich ein sehr ausgeglichener, entspannter Mensch wäre, den kaum etwas aus der Ruhe zu bringen scheint. Häufig haben mich Patient*innen oder Kolleg*innen gefragt, was mein Geheimrezept dafür sei. Dies hat mich selbst erst einmal zum Nachdenken gebracht. Es führte dann dazu, dass ich mich gezielter mit dem Thema Stressbewältigung und Burn-out-Prävention auseinandergesetzt habe, um neben den persönlichen Eigenschaften, Verständnis- und Haltungsweisen, die zu einer gewissen Gelassenheit beitragen, auch fachliche und wissenschaftliche Aspekte vermitteln zu können. So kam es dann jetzt auch zu einer Buchveröffentlichung zu diesem spannenden Diskurs.

Christoph Müller Mit Deinem neuen Buch „Jesus aber schlief“ schlägst Du vor, biblische Weisheiten quasi als Antidot gegen Stress und Ausbrennen zu nutzen. Inwieweit bildest du eigene positive Erfahrungen ab?

Jonathan Gutmann In dem Buch habe ich ja versucht aufzuzeigen, dass alle Tipps und Ratschläge des Stressmanagements des 21. Jahrhunderts im Grunde genommen wenig Neues beinhalten und man die Bewältigungsstrategien bei genauerem Hinsehen auch schon in der Bibel finden kann. Ich denke, dass jeder Mensch seinen individuellen Umgang mit dem Thema Stress pflegt. Manche Strategien werden sehr bewusst, andere hingegen eher unbewusst eingesetzt. Manche sind bereits äußerst nützlich, anderen bringen womöglich noch nicht den erhofften, positiven Effekt. Ich selbst habe natürlich auch meinen eigenen Pool an unterschiedlichen Maßnahmen und Strategien beisammen. Im Buch stelle ich viele unterschiedliche Bewältigungsstrategien und -tipps vor, die mir über die Jahre begegnet sind, von denen ich selbst überzeugt bin und die ich persönlich auch größtenteils praktiziere.
Ich denke, dass jeder Mensch eine gewisse Offenheit gegenüber unterschiedlichen Strategien haben und diese für sich unvoreingenommen ausprobieren sollte. Das natürlich nicht nur einmal, sondern mehrfach und auch regelmäßig. Da es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt, wird jeder Mensch die passende(n) für sich finden, davon bin ich fest überzeugt.
Ich denke, dass es im Pflegeberuf (und natürlich nicht nur dort) sehr wichtig ist, sich Gedanken über Stressbewältigung und Burnout-Prävention zu machen – und das am besten, bevor die Kerze erloschen ist. Es geht hier nicht nur um unsere Patient*innen, sondern ganz gezielt auch um uns selbst. Wenn ich meinem Gegenüber die Sinnhaftigkeit von einer gewissen Gelassenheit näherzubringen versuche, ich aber selbst nicht gelassen bin, wird dies auf mein Gegenüber wenig authentisch wirken. So erging es auch schon einmal einer Kollegin, die einem Patienten den Rat gegeben hat, dass er sich doch jetzt einmal entspannen solle. Da die Kollegin selbst etwas cholerisch auftrat, entgegnete ihr der Patient nur: „Ich glaube, Sie sollten sich da eher selbst mal etwas entspannen“.
Einen Appell möchte ich zudem an alle Leitungs- und Führungspersonen richten, denn es ist wichtig, neben der Verhaltensprävention der einzelnen Mitarbeitenden auch etwas zur Verhältnisprävention im Unternehmen zu leisten, also einen gesunden und zufriedenen Arbeitsplatz zu schaffen und zu erhalten. Dazu sollten verschiedene Angebote und Strategien erarbeitet werden. Die Salutogenese ist dazu ein äußerst wichtiges Konzept, über das sich jede Institution Gedanken machen muss.

Christoph Müller Du deutest an, dass die Corona-Krise eine wichtige Rolle gespielt hat, das Projekt des Buchs „Jesus aber schlief“ voranzutreiben. Inwieweit birgt das Erleben der Pandemie aus deiner Sicht Gefahren für die Seele?

Jonathan Gutmann Ich wollte eigentlich nie ein „christliches“ Buch schreiben. Zu Beginn der Corona-Krise hat mir der Gedanke keine Ruhe gelassen, dass ich es vielleicht jetzt doch einmal machen sollte. Da es mich über einen längeren Zeitpunkt beschäftigt und nicht wieder losgelassen hat, habe ich mich dem Projekt dann angenommen.
In meiner Tätigkeit auf einer offen geführten psychiatrischen Akutstation werde ich tagtäglich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie konfrontiert. Menschen beklagen das Wegbrechen haltgebender, fester Strukturen sowie wichtiger Kontakt- und Anlaufstellen, was häufig zu Ängsten, Einsamkeit und Isolation führt. Viele Menschen wissen aktuell nicht, wie es weitergeht (beruflich, finanziell, gesundheitlich, familiär usw.), was nicht selten zu schwerer depressiver Verstimmung und Suizidalität führt.
Wir können noch nicht wirklich abschätzen, welche Spuren diese Pandemie wirklich bei unseren Kindern hinterlassen wird. Es ist mir als Familienvater ein besonderes Anliegen, weshalb ich versuche, meinen Kindern auch schöne Erinnerungen an diese Zeit „einzupflanzen“, damit sie sich nicht nur an Dinge wie Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Social Distancing oder Quarantäne erinnern, sondern auch schöne Erinnerungen aus dieser Zeit behalten. So habe ich in dieser Zeit zum Beispiel mit meinem Sohn ein kleines Fossilien-Museum bei uns zu Hause errichtet oder vermehrt mit meinen beiden Mädels Puppen gespielt.
Ich denke, dass so eine Pandemie eine große Gefahr für das seelische Wohlbefinden darstellen kann. Für sehr viele Menschen stellt sie eine existenzielle Bedrohung dar. Umso wichtiger erscheint dabei die Solidarität der Menschen mit ihren Mitmenschen. Hier kann vielleicht auch der christliche Aspekt der Nächstenliebe eine wichtige Rolle spielen.

Christoph Müller Als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie bist Du in einer Klinik im Rhein-Main-Gebiet tätig. Dort bist du mit den Folgen von Stress und Burnout konfrontiert. Gehen Menschen, die von einer seelischen Krise betroffen sind, Deinen Weg mit, biblische Erfahrungen in den Alltag zu integrieren?

Jonathan Gutmann Menschen, die zu uns in die Klinik kommen, haben ja bestimmte Probleme und Einschränkungen in ihrem Leben. Leidensdruck und keine schnellen anderweitigen Alternativen lassen sie oft den Weg in die Klinik finden. Dann gilt es, gemeinsam (partizipativ) mit der Person nach Lösungswegen aus der Krise zu suchen.

Einer meiner Lieblingssprüche dabei lautet: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Der Satz stammt von Max Frisch. Mir ist es immer wichtig zu verdeutlichen, dass eine psychische Krise nichts Schlimmes ist und sie jeden Menschen treffen kann, unabhängig von Alter, Geschlecht, Konfession, Hautfarbe oder sozialem und finanziellem Status. Wichtig ist es dann, die Ressourcen der verletzlichen Menschen zu finden und zu aktivieren. Ebenso wichtig ist dann, verschiedene Lösungswege zu suchen und zu finden – und das unabhängig von der christlichen oder biblischen Gesinnung.

In der pflegerischen Arbeit geht es ja neben einer gewissen Grundhaltung auch um evidanzbasiertes Handwerkszeug. Dieses biete ich an, ohne großen Verweis, dass das meiste davon bereits im biblischen Kontext vorherrscht. Da ich allerdings in einer christlich-orientierten Klinik arbeite, kommen Gespräche zwangsläufig auch einmal auf die religiöse Ebene. Wenn dies so ist, gehe ich dazu im Rahmen der Transparenz und Selbstoffenbarung gerne darauf ein und berichte diesbezüglich auch persönliche Dinge oder Erfahrungen aus meinem Leben.

Ziel meiner Arbeit ist es, Menschen zu helfen und nicht, sie zu bekehren. Wenn eine Person im Arbeitsalltag Interesse am christlichen Glauben hat oder bestimmte Fragen dazu auftauchen, bin ich immer offen für ein Gespräch, denn auch das gehört meiner Meinung nach zu einer guten Pflege – aber eben alles auf freiwilliger Basis.
Einer meiner weiteren Lieblingssätze dazu lautet: „Preach the gospel, and if necessary, use words.“ (Franz von Assisi). Ich bin kein „Missionar“ und möchte auch keiner werden. In der Klinik habe ich die Rolle des Fachpflegers für Psychiatrische Pflege inne und möchte meine Patient*innen fachlich kompetent, pflegerisch aus der Krise heraus begleiten und sie auf ihrem individuellen Genesungsweg unterstützen. Oft begegnen mir in der Klinik Menschen, die unbedingt von christlichen Therapeuten und Pflegefachpersonen behandelt und begleitet werden möchten. Das kann ich einerseits nachvollziehen, vor allem, wenn Problematiken aus diesem Kontext heraus rühren, aber dies sollte meiner Meinung nach nicht verallgemeinert werden.

Wenn ich die Wahl zwischen einem kompetenten, aber nicht gläubigen Therapeuten und einem gläubigen, aber eher weniger kompetenten hätte, würde ich mich sicher für ersteren entscheiden. Bestenfalls findet man jemanden, der beide Eigenschaften besitzt, oder jemanden, der offen gegenüber religiösen oder spirituellen Themen ist und ein einfühlendes Verstehen zeigt. Gerade bei religiösen Themen und Problematiken bietet sich an, sich durch einen professionelle(n) Seelsorger*in begleiten zu lassen.
Grundsätzlich glaube ich, dass jeder Mensch im Leben auf der Suche nach Sinn ist. Der christliche Glaube ist für mich persönlich sinnerfüllend und sinnstiftend. Manchmal gelingt es mir, durch den gelebten Glauben und die daraus resultierende Haltung sowie abgeleitete Handlungsweisen den Mitmenschen gegenüber Hoffnung und Sinn zu vermitteln.

Christoph Müller Den Zeitgenoss*innen schlägst Du vor, die eigenen Fehler schätzen zu lernen. Ist dies nicht zu viel verlangt? Wie können sie lieben lernen, was sie abgrundtief abgeschafft wissen wollen?

Jonathan Gutmann Das hört sich natürlich erst einmal etwas fragwürdig oder komisch an. Wenn man allerdings einmal hinter die Kernthematiken dieser Aussage geblickt hat, wird man schnell merken, wie hilfreich dies sein kann. Es geht hierbei ja als ersten Schritt um die Akzeptanz. Marsha Linehan spricht in der Dialetktisch Behavioralen Therape (DBT) ja von der „radikalen Akzeptanz“. Die Akzeptanz kann bekanntermaßen ein wichtiger erster Schritt in der Bearbeitung von Problematiken oder ungünstigen Denkmustern und Verhaltensweisen sein. Eine Sache erst einmal achtsam wahrzunehmen, ohne sie gleich zu bewerten, sie einfach so anzunehmen, wie sie gerade nun einmal ist, wird von vielen Personen als große Erleichterung empfunden. Auch dazu gibt es wieder einen schönen Satz, der auch als „Gelassenheitsgebot“ vielerorts Einzug gehalten hat:
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“ (Reinhold Niebuhr).

Christoph Müller Viele Ideen aus Deinem Buch lassen einen gewissen Pragmatismus erkennen, der uns als Pflegenden nahe liegt. Irgendwie beschleicht beim Lesen des Buchs einen das Gefühl, dass diese Haltungen vielen Menschen nicht zu eigen sind. Wie können diese Menschen ihren Alltag verändern?

Jonathan Gutmann Ich denke, hier kommen Offenheit, Reflexionsfähigkeit und Lernbereitschaft ins Spiel. Erkenntnis ist ja bekanntermaßen oft der erste Schritt zur Besserung. Um Dinge zu verändern, benötigt es unser aktives Zutun. Das ist wie mit Menschen: Man kann keine Menschen ändern, sie müssen selbst dazu bereit sein, es wollen und dann auch tun. Dabei können wir Pflegefachpersonen unterstützend und empowermentorientiert unterstützen.
Die Psychiatrie befindet sich ja in einem Spannungsfeld. Zum einen sind da psychisch beeinträchtigte Menschen, die möglichst viel an Autonomie gewinnen möchten. Dann gibt es die Angehörigen und die Gesellschaft, die mit ihren Fragen und Sorgen gehört werden wollen. Und als dritte Partei sind dann noch die professionellen Helfer, die mit ihrer manchmal noch sehr paternalistischen Fürsorge auf den Plan gerufen werden.

Aus der Recovery-Praxis wissen wir ja sehr gut, dass es viele unterschiedliche Wege geben kann, zu genesen und ein subjektiv gutes Leben zu führen. Daher scheint es sehr wichtig, dass wir in der Psychiatrie verschiedene Möglichkeiten und auch Alternativen anbieten können. Leider wird meiner Meinung nach immer noch zu sehr auf die biologische Komponente und die Psychopharmakotherapie gesetzt, die bislang ja leider oft nicht den erwünschten Effekt hervorruft, und wenn, dann oft nur mit teilweise schweren und lebenseinschränkenden Nebenwirkungen.

Ich denke, dass die Veränderung nur im Trialog gelingen kann, wenn Experten durch Fachwissen (professionelle Helfer), Experten durch Erfahrung (Betroffene) und Experten durch Miterleben (Angehörige) gemeinsam auf Augenhöhe zusammenkommen und gemeinsam konstruktiv nach Veränderungen und Lösungen suchen – und diese dann auch gemeinsam umsetzen. Die trialogische Denkweise muss also in jeder Einrichtung der psychosozialen Versorgung Basis werden und darf nicht nur auf Hochglanzbroschüren als oft leere Worthülse stehen. Ebenso müssen Räume für Reflexion geschaffen werden.
Wenn es gelingt, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten, über den eigenen Schatten zu springen sowie offen und lernbereit gegenüber „Neuem“ oder „Fremdem“ zu sein, dann kann auch Veränderung und Verbesserung gelingen, davon bin ich überzeugt.

Christoph Müller Es verwundert schon, dass in schwierigen Zeiten wie der Corona-Krise der Glaube an Gott wieder Konjunktur zu bekommen scheint. Ist dies ein subjektiver Eindruck? Inwieweit kann der Glaube für seelische Ruhe in stürmischen Zeiten sorgen?

Jonathan Gutmann Diesen Eindruck kann ich teilen. In einer Krise wie dieser fragen die Menschen wieder vermehrt nach Sinn, nach dem, was wirklich wichtig im Leben ist. Spiritualität oder Religiosität sind dazu beispielswiese für viele Menschen wichtige Bausteine – der Glaube an etwas.

Der Glaube schützt niemals 100% vor den Stürmen des Lebens. Die wird es auch weiterhin geben. Mit der Zuversicht darauf, dass es nach diesem irdischen Leben noch nicht vorbei ist, sondern es vermutlich erst richtig losgeht, gelingt vielen gläubigen Menschen die Standhaftigkeit gegenüber Sturmböen oft etwas leichter. Neben der Hoffnung und Zuversicht kann Dankbarkeit hier eine entscheidende Rolle spielen, deren Auswirkungen zudem persönlich bereichern können.
Es gibt einige Studien, die belegen, dass intrinsischer, als echter, gelebter Glaube ein wichtiger Resilienz- und Schutzfaktor sein kann. Wenn allerdings eher eine extrinsische Motivation vorherrscht oder falsche Gottesbilder (zum Beispiel eines strafenden Gottes) vorhanden sind, kann sich Glaube auch schädigend auswirken. Albert Schweitzer hat zu der Thematik (intrinsisch/extrinsisch) einmal einen schönen Satz gesagt: „Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, der irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht.“

Der Glaube verhindert also nicht das Auftreten von Stürmen, aber er kann verschiedene Handlungsräume eröffnen, die dazu beitragen können, ihn sicher zu überstehen, nicht den Mut zu verlieren und den Blick auf den Leuchtturm zu richten.

Christoph Müller Vielen Dank für die vielen Gedankenanstöße.

 

Das Buch um das es geht
Jonathan Gutmann: Jesus aber schlief – Biblische Tipps für ein effektives Stressmanagement, Francke-Buch-Verlag, Marburg 2021, ISBN 978-3-96362-206-9, 175 Seiten, 12,95 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at