Kaltes Denken, warmes Denken – Über den Gegensatz von Macht und Empathie

21. Mai 2020 | Rezensionen | 0 Kommentare

„Das warme Denken unterscheidet sich von dem kalten dadurch, dass es auf dem Weg „ins Wort“ nicht allein der starren Durchsetzung des Gedankens und der geistigen Macht über die Angesprochenen dient, sondern die ganze Bandbreite der Welt der Gefühle mitnimmt“, schreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer schon im ersten Satz des Buchs „Kaltes Denken, warmes Denken“. Damit zeigt er bereits am Startpunkt, worum es in der zeitanalytischen Arbeit geht, die er vorgelegt hat. Es ist ein Buch, das immer auf die beiden Ufer eines Bachs schaut, damit die Polarität, aber auch die Widersprüchlichkeit der Gegenwart deutlich macht.

Schmidbauer schaut sich vor allem den Alltag der Menschen an. So formuliert er mit dem Fokus auf die Konflikte von zusammenlebenden Menschen. Obwohl Paartherapie eine sehr praktische Angelegenheit sei, führe die Begegnung mit den Vorwurfswelten unversöhnlicher Paare zur philosophischen Frage, „wie aus dem heißen Anfang einer Ehe die eisige Welt von Scheidungskriegen werden kann“ (S. 12). Je mehr nach Schuldigen gesucht und sich der Frage hingegeben werde, „ob wir für eine Kränkung Schadenersatz beanspruchen“ (S. 13), desto weniger Kraft und Aufmerksamkeit bleibe für die Bewältigung der Gegenwart.

Schmidbauer stellt auf der Matrix des kalten und warmen Denkens die Medizin und die Psychotherapie gegeneinander. Er schaut nach dem kalten und warmen Denken in Partnerschaft und Familie, in gesellschaftlichen Gruppen und in Medien, in der Kommunikation und in der Neurowissenschaft. In den 1980er-und 1990er-Jahren hat Schmidbauer das Helfer-Syndrom beschrieben. In der Beschreibung des kalten und warmen Denkens kommt er auf diesen Diskurs zurück.

Gleichzeitig vergleicht Schmidbauer die Beschäftigung mit der „kalten Neurowissenschaft“ als „Flucht ins Gehirn“ (S. 202). Seit langem gelte es naturwissenschaftlich gebildeten Menschen als bewiesen, „dass alle Erlebnisse auch Aktivitäten des Gehirns sind“ (S. 203). Dem setzt Schmidbauer entgegen, dass wer eine angeblich wissenschaftlich fundierte Gehirnmythologie entwickele und festhalte, der könne die Komplexität kulturwissenschaftlicher Fragestellungen reduzieren.

Das Aufbauen der Gegensätze versucht Schmidbauer wohl mit dem Ziel, die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen aufzuwecken. Was ihm über die mehr als 200 Seiten nicht am Herzen liegt, dies ist die Suche nach einem Kompromiss. Dies bedeutet für die Leserin und den Leser, sich den Kompromiss und die Schnittmengen selbst erarbeiten zu müssen.

Schmidbauer sieht den „Homo consumens“ (S. 220) in einer Gefahr. Psychologische Kritik an den Mechanismen der Konsumgesellschaft bleibe ein Teil der Truppenunterhaltung. Der eigentliche Kampf finde auf der politischen Ebene statt. Mit dem Blick auf den Dichter Heinrich Heine schreibt Schmidbauer: „Gemildert durch Ironie macht er deutlich, dass es zwar absolute Kälte gibt … , aber keine absolute Wärme, im Gegenteil: Wer nicht freundlich mit den Grenzen umgehen kann, an denen der Raum für Empathie endet, gerät in den Sog der Kälte“ (S. 218).

Schmidbauers Buch „Kaltes Denken, warmes Denken“ ist als politischer Weckruf eines Psychoanalytikers zu verstehen, der sich nicht nur Sorgen um die Gesellschaft, sondern vielmehr um die Menschen macht.

Wolfgang Schmidbauer: Kaltes Denken, warmes Denken – Über den Gegensatz von Macht und Empathie, Kursbuch Edition, Hamburg 2020, ISBN 978-3-96196-134-4, 231 Seiten, 20 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at