Die Tagungen des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie im westfälischen Lippstadt kommen alljährlich einer Bestandsaufnahme der inhaltlichen Arbeit eines komplexen Handlungsfeldes gleich. Sie nicht nur einen interdisziplinären Austausch, sondern garantieren, dass sich gegenseitig auf den neuesten Stand der Forschungen und Konzeptentwicklungen gebracht wird. Mit dem „Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2019“ ist es auch wieder so. Der Tagungsband überzeugt mit einer Breite an Themen und Tiefe an Inhalten. Und, man mag es nicht glauben, die psychiatrisch Pflegenden führen den Diskurs mit den vielen anderen Professionen in dem schwierigen Arbeitsfeld auf Augenhöhe.
So stellen André Nienaber und Pascal Wabnitz die „niedrigschwellige Psychotherapie am Beispiel der Adhärenztherapie“ dar. Nach Ansicht der beiden Lehrstuhlinhaber an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, die im Studiengang „Psychiatrische Pflege / Psychische Gesundheit“ lehren, meint Adhärenz „die Einhaltung der gemeinsam zwischen Patient und Arzt vereinbarten Behandlung“ (S. 185). Ziel von Adhärenz-Interventionen sei es, „ dass der Patient aus eigener Kraft heraus, auf der Grundlage einer eigenen informierten Entscheidung in der Lage ist, therapeutische Vorgaben langfristig umzusetzen oder eine fundierte und zu seiner aktuellen Lebenssituation passende Entscheidung gegen die Einnahme von Medikamenten zu treffen“ (S. 185). Niedrigschwellige Psychotherapie eröffne die Möglichkeit, „psychiatrisch-pflegerisches Handeln um manualisierte, bedarfsorientierte und evidenzbasierte Angebote zu erweitern“ (S. 186).
Nienaber und Wabnitz werden mit den Überlegungen natürlich der Akademisierung Pflegender in der Gegenwart gerecht, wo Handlungsfelder identifiziert werden müssen, die der hochschulischen Qualifizierung Pflegender Rechnung tragen. Dies machen auch Anja Rohlfing und Daniel Kasel. Sie machen deutlich, was es heißt, Pflegeexpertin und Pflegeexperte zu sein. Bei den patientenbezogenen Aufgaben betonen Rohlfing und Kasel, dass es unter anderem um eine Fokussierung auf Patientenberatung und therapeutische Gruppenangebote geht. Somit komme es zu einer Steigerung der Behandlungsqualität.
Der Beitrag psychiatrisch Pflegender bei der Weiterentwicklung forensischen Arbeitens erscheint also unverzichtbar. So ist es glücklicherweise ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Psychiatrisch Pflegende können bei den Tagungen in Lippstadt, aber auch bei der Lektüre des Tagungsbandes besonders von den praxisorientierten Beiträgen profitieren.
André Müller-Jekosch beschreibt die forensische Aufnahmestation als den „Vorhof zur Hölle“ (S. 161). An vielen Orten forensisch-psychiatrischer Versorgung wird dies sicherlich stimmen. Er verdeutlicht diese krasse Kennzeichnung mit den sich entwickelnden Dynamiken auf einer solchen Station. Die professionell Tätigen hat Müller-Jekosch vor allem im Blick. Er gesteht zu, dass alle forensischen Einrichtungen spezielle Besonderheiten und Eigenarten hätten. Destruktiven Entwicklungen könne durch klare Handlungsrichtlinien begegnet werden. Keine Einrichtung stehe destruktiven Mechanismen in der Einrichtung hilflos gegenüber.
Wer wissen will, was gegenwärtig in der forensischen Psychiatrie erforscht wird, welche Entwicklungen es in der Konzeptentwicklung von Einrichtungen gibt und für welche Fragen Mitarbeitende und Untergebrachte sensibilisiert werden sollten, der kommt an dem Tagungsband „Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2019“ nicht vorbei. Schon jetzt bin ich auf die Dokumentation der Veranstaltung 2020 gespannt.
Bernd Wallenstein (Hrsg.): Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2019, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2020, ISBN 978-3-95466-474-0, 300 Seiten, 34.95 Euro.