Jeder Mensch ist einzigartig – und auch unsere körperlichen Geschlechtsmerkmale sind individuell verschieden. Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG) sind Teil unserer Gesellschaft, haben aber mit Tabuisierung, Pathologisierung, normierenden Behandlungen und fehlender psychosozialer Unterstützung zu kämpfen. Dieser Artikel klärt aus Sicht von Selbstvertretung und Peer-Beratung, von welchen Variationen die Rede ist und welche Problematiken sich dabei ergeben, welche besondere Herausforderungen für Pflegekräfte dies mit sich bringen kann und welche Tips für einen guten Umgang es gibt.
Variationen der Geschlechtsmerkmale
Von Intergeschlechtlichkeit oder VdG sprechen wir, wenn der Körper eines Menschen nicht klar den Normvorstellungen eines weiblichen oder männlichen Körpers entspricht. Dabei können diese Variationen die Anatomie, die Hormone und/oder die Chromosomen betreffen – so haben etwa 1,7% der Bevölkerung eine ganz individuelle Kombination von sowohl weiblich als auch männlich konnotierten oder ambivalent erscheinenden Geschlechtsmerkmalen.[1]
Bei manchen Menschen ist eine VdG bereits bei der Geburt anhand der äußeren Genitalien erkennbar, bei einem Großteil zeigt sich die Variation allerdings erst in der Pubertät (wenn der Körper sich anders entwickelt als erwartet, wenn also z.B. bei einem „Mädchen“ statt der Brust ein Bart wächst) oder später im Leben, wenn etwa der Kinderwunsch unerfüllt bleibt und deshalb eine Untersuchung vorgenommen wird. In der Medizin werden heute die Begriffe „DSD“ (für Disorders bzw. Differences of Sex Development) oder „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ als Überbegriffe verwendet. Darüber hinaus gibt es unzählige Diagnosen zur Beschreibung der einzelnen Variationen bzw. der Symptomaiken, die damit einhergehen können, mit jeweils recht geringen Fallzahlen und oft als seltene Erkrankungen geführt.[2]
Problematik: nicht-konsensuelle, medizinisch nicht notwendige Behandlungen an Kindern
Wenn eine Variation bereits beim Neugeborenen diagnostiziert wird, sind die Eltern oft sehr verunsichert – und auch Mediziner*innen und Hebammen sind häufig überfordert. Leider wird aus diesem Grund immer noch zu vermeintlich „einfachen, schnellen“ operativen Lösungen gegriffen, die aber schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen haben. So wird in diesen Fällen anhand von Voraussagen über die zukünftige Geschlechtsidentität des Kindes entschieden, dessen körperlichen Geschlechtsmerkmale zu verändern, um den Normvorstellungen eines weiblichen oder männlichen Körpers zu entsprechen.[3]
Problematisch an solch frühen, irreversiblen Entscheidungen ist dabei einerseits, dass es nie eine komplette Sicherheit geben kann, wie sich das Kind entwickeln wird und ob es mit den gewählten „Anpassungen“ dann auch zufrieden ist – selbst bei jenen Diagnosen, wo Studien eine gewisse Sicherheit vermittelt, kann niemals ausgeschlossen werden, dass Einzelne sich später eben nicht als weiblich bzw. männlich identifizieren. Und andererseits wird körperliche Vielfalt ganz klar als etwas Unerwünschtes bewertet, wenn davon ausgegangen wird, dass ästhetische Eingriffe im Sinne der Betroffenen sind. Darüber hinaus können solche Eingriffe erhebliche Komplikationen und lebenslange Folgen mit sich bringen, müssen also wohlüberlegt und vor allem selbstbestimmt sein – das ist in den ersten Lebensjahren aber grundsätzlich nicht möglich.[4]
Viele Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend solche nicht-konsensuellen und medizinisch nicht notwendigen Behandlungen erfahren haben, treten heute für ein Verbot dieser Methoden ein – unterstützt wird diese Forderung nach der Wahrung des grundsätzlichen Menschenrechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit von Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale auch von internationalen Organisationen (u.a. UN, Europarat oder EU-Parlament).[5] Zuletzt wurde Österreich im Februar 2020 im Rahmen der Universal Periodic Review von vier UN-Mitgliedsstaaten aufgefordert, derartige Eingriffe zu verbieten, solange die Betroffenen nicht vollumfassend augeklärt werden und informiert einwilligen können. Mit der Annahme dieser konkreten Empfehlungen hat sich die Republik daraufhin zum ersten Mal öffentlich bereit erklärt, dies auch tatsächlich umsetzen zu wollen, was einen großen Erfolg für die Inter* Bewegung darstellt.[6]
Geschlechtsidentität, Geschlechtseinträge & Geschlechtervielfalt
Das Thema Intergeschlechtlichkeit hat in den letzten Jahren in der medialen Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit bekommen, zuletzt vor allem durch die 2018 vom Verfassungsgerichtshof ermöglichte Option, einen alternativen Geschlechtseintrag in persönlichen Dokumenten zu führen („inter“, „divers“, „offen“ oder ersatzlose Streichung). Obwohl dies ein großer Erfolg für die Inter*Bewegung war und die Sichtbarkeit von Geschlechtervielfalt erhöht, hat die Einführung alternativer Geschlechtseinträge allerdings auch dazu geführt, dass die Ebene der Geschlechtsidentität sehr im Vordergrund steht.
Viele gehen nun davon aus, dass alle Menschen mit VdG sich auch als inter* bzw. nicht-binär identifizieren. Das ist so nicht der Fall: Die meisten Menschen mit einer Variation begreifen sich als Mädchen oder Buben, als Frauen oder Männer. Doch obwohl sich viele Menschen mit VdG geschlechtlich binär verorten, bedeutet dies eben nicht, dass es in Ordnung wäre, ungefragt die körperlichen Geschlechtsmerkmale an eine vermeintliche Norm anzupassen – es bedeutet vielmehr, dass unsere Gesellschaft ein an die tatsächliche Realität angepasstes Verständnis von geschlechtlicher Vielfalt entwickeln muss.
Der Begriff „Geschlechtervielfalt“ wird oft dazu verwendet, um über jene Gruppe von Personen zu sprechen: inter-, transgeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. In vielen Kontexten (z.B. Antidiskriminierung, Gleichstellung) ist es auch sehr sinnvoll, diese Personen als Gruppe zu sehen. Gleichzeitig ist eine klare Differenzierung ebenso wichtig, um jeweils auf spezifische Problematiken und Bedarfe (z.B. in der Gesundheitsversorgung) eingehen zu können.
Trans- und Intergeschlechtlichkeit sind also nicht das Gleiche, aber müssen einander nicht ausschließen: Eine intergeschlechtliche Person kann sich beispielsweise auch als transgeschlechtlich erfahren, wenn das bei der Geburt – mitunter operativ und hormonell – zugewiesene und durch Sozialisation geprägte Geschlecht nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt. Gleichzeitig gibt es viele Personen, die erst durch medizinische Untersuchungen im Rahmen einer Therapieabklärung erfahren, dass ihr Körper Variationen der Geschlechtsmerkmale aufweist.[7]
Gesundheitliche Bedarfe, Versorgungssituation
Neben den oben beschriebenen problematischen, medizinisch nicht notwendigen Behandlungen kann eine VdG bei Kindern aber in manchen Fällen auch mit einem tatsächlichen gesundheitlichen Bedarf verbunden sein (z.B. Salzverlustkrise bei AGS) und wird in der Regel bereits bei Neugeborenen-Screenings festgestellt – in solchen Fällen ist eine Behandlung natürlich notwendig. Einen umfassenden Überblick sowie eine Versorgungslandkarte mit spezialisierten Einrichtungen bieten hier die „Empfehlungen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung“ aus dem Gesundheitsministerium.[8]
Auch erwachsene Menschen mit VdG können unterschiedliche gesundheitliche Bedarfe haben, die mit ihrer Variation zusammenhängen – beispielsweise Unterstützung in endokrinologischen (hormonellen) Fragen, Milderung negativer Folgen von vergangenen Behandlungen, Wunsch nach selbstbestimmten Veränderungen der Geschlechtsmerkmale oder Unterstützung beim Kinderwunsch. Da die meisten auf VdG spezialisierten Mediziner*innen in der Kinder- und Jugendheilkunde zu finden sind, kann die Versorgungssituation für Erwachsene teils problematisch sein. Für bestimmte Bedarfe können auch auf Transgender spezialisierte Mediziner*innen unterstützen.
Leider ist es für intergeschlechtliche Menschen oft auch eine große Hürde, medizinische Hilfe zu suchen, selbst wenn es sich um „alltägliche Bedarfe“ wie z.B. eine Gesundenuntersuchung handelt. Die Gründe dafür sind oft vielfältige negative Erfahrungen in der Vergangenheit: traumatisierende Erlebnisse in medizinischen Settings; Exotisierung, Zurschaustellung oder schlichtem Unverständnis der eigenen Variation vonseiten des medizinischen Personals; übertriebene Neugier bezüglich der Intergeschlechtlichkeit auch bei Beschwerden, die sicher nicht damit zusammenhängen u.a. Dies kann dazu führen, dass die ohnehin oft gefährdete Gesundheit von intergeschlechtlichen Menschen noch weiter geschwächt wird.
Chance Peer-Beratung
Durch die große Vielfalt an möglichen Diagnosen ist leider auch Vereinzelung vorprogrammiert. Dass die eigene Variation in das Spektrum von Intergeschlechtlichkeit fällt, wird bei der Diagnosestellung oft nicht erwähnt – obwohl die körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen bei vielen Menschen mit VdG sehr ähnlich sind und eine Unterstützung durch Selbsthilfe oder Peer-Beratung als sehr hilfreich erlebt wird.
Besonders für Eltern von Kindern mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale kann Peer-Beratung enorm wichtig sein, denn medizinische Aufklärung kann soziale Herausforderungen nie ausreichend umfassen und reguläre psychosoziale Unterstützungseinrichtungen sind in der Regel nicht genügend zum Thema sensibilisiert. Durch die Unsichtbarkeit von Geschlechtervielfalt in unserer Gesellschaft fehlt es außerdem an Vorbildern, die zeigen können, dass ihr Kind auch mit Variationen der Geschlechtsmerkmale ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führen kann – egal ob es sich später als Frau, Mann, inter* oder nochmal anders definiert.
Mögliche Unterstützung durch Pflegekräfte
Pflegekräfte sind – besonders natürlich im stationären Setting – jene Personen, die den meisten Kontakt zu den Patient*innen haben. Egal ob es sich um Kinder mit VdG, deren (junge) Eltern oder Erwachsene bzw. Senior*innen mit VdG handelt: der direkte Kontakt mit Mediziner*innen ist in der Regel meist eher kurz – und Pflegekräfte übernehmen eine entscheidende Rolle. Sie übernehmen Körper- und Wundpflege, werden um Rat gefragt, wenn Aussagen von Mediziner*innen nicht (oder nicht vollständig) verstanden wurden, sind Ansprechpartner*innen für Angehörige und vieles mehr. Ein respektvoller und entpathologisierender Umgang von Pflegekräften mit geschlechtlicher Vielfalt kann daher enorm unterstützend sein.
Mögliche Herausforderungen, die eine adäquate Unterstützung durch Pflegekräfte erschweren können, liegen dabei vor allem in der Tabuisierung des Themas und der damit einhergehenden weit verbreiteten Unwissenheit sowie in der traditionell sehr starken Position von pathologisierenden Haltungen gegenüber Variationen der Geschlechtsmerkmale auf Seiten der Medizin. Die aus Selbstschutz oft geübte Nicht-Thematisierung der eigenen Variationen durch Betroffene und das Fehlen von entpathologisierender oder wertfreier Sprache für geschlechtliche Mehrdeutigkeiten können einen offenen Umgang ebenfalls schwierig machen.[9]
Was also am besten tun, um einen guten Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen zu finden?
- Sich selbst und sein Umfeld sensibilisieren
- Den Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen in der eigenen Organisation thematisieren
- Bei Bedarf an Peer-Beratung bzw. Selbsthilfe verweisen
- Akzeptanz für geschlechtliche Vielfalt üben!
Zur Sensibilisierung gibt es mittlerweile eine enorme Bandbreite an verfügbaren Medien und Fortbildungsangeboten – sowohl allgemein zu Geschlechtervielfalt als auch spezifisch zu Intergeschlechtlichkeit, und auch speziell zugeschnitten für den Gesundheitsbereich.
Peer-Beratung und Sensibilisierungstrainings bei VARGES
Mit der Beratungsstelle VARGES bietet der Verein VIMÖ seit 2019 qualifizierte Peer-Beratung für all jene Menschen, die Unsicherheiten bezüglich ihrer Variation der Geschlechtsmerkmale besprechen möchten oder aufgrund dessen Diskriminierung, Pathologisierung, Unsicherheit, Isolation oder andere negative Effekte erleben – oder sich einfach mit anderen Erfahrungsexpert*innen zum Thema austauschen wollen. Außerdem gibt es bei VARGES auch Fortbildungs- und Beratungsangebote für Organisationen (besonders im Sozial- und Gesundheitsbereich), die in ihrer Tätigkeit inklusiver für Geschlechtervielfalt werden möchten.
Links:
VARGES Beratungsstelle für Variationen der Geschlechtsmerkmale www.varges.at
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich www.vimoe.at
Plattform Intersex Österreich www.plattform-intersex.at
Quellen:
Blackless, Melanie et al. (2000): How sexually dimorphic are we? Review and synthesis, in: American Journal of Human Biology 12
BMASGK (2019): Empfehlungen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Gesundheitssystem/Gesundheitssystem-und-Qualitaetssicherung/Planung-und-spezielle-Versorgungsbereiche/Empfehlungen-zu-Varianten-der-Geschlechtsentwicklung.html
Katzer, Michaela (2016): Ärztliche Erfahrungen und Empfehlungen hinsichtlich Transsexualismus und Intersexualität, in: Katzer/Voß (Hg): Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, Gießen
Krämer, Anike et al. (2016): Varianten der Geschlechtsentwicklung – die Vielfalt der Natur, in: Kinder- un Jugendarzt Nr. 5/2016. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.vlsp.de/files/pdf/kraemer2016.pdf
Regenbogenportal (2021): Gesundheitsversorgung von intergeschlechtlichen Menschen. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.regenbogenportal.de/informationen/gesundheitsversorgung-von-intergeschlechtlichen-menschen
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (2020): Positionspapier VIMÖ-PIÖ. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://vimoe.at/wp-content/uploads/2020/05/2020_Positionspapier_VIMO%CC%88_PIO%CC%88.pdf
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (2021): Jänner 2021: UN-UPR. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://vimoe.at/2021/01/28/jaenner-2021-un-upr/
[1] Blackless et. al (2000)
[2] Katzer (2016)
[3] Krämer et. Al (2016)
[4] BMASGK (2019), S.19ff
[5] VIMÖ (2020)
[6] VIMÖ (2021)
[7] Katzer (2016), S.101
[8] BMASGK (2019), S.78ff
[9] Regenbogenportal (2021)