Was brauchen Sie, wenn Sie in eine seelische Krise geraten? Die Antworten auf diese Frage können sicher vielfältig sein. Eine Einrichtung, die seit Jahren nicht nach den einfachen Erwiderungen auf schwierige Situationen sucht, ist das Atriumhaus in München. Für viele Akteurinnen und Akteure in der deutschsprachigen psychiatrischen Versorgungsszene gilt es als ein Ort, dessen Gütesiegel man selbst einmal erreichen will.
Dabei stellt sich natürlich die Frage, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Atriumhauses im Münchner Osten ausmacht. Da kommt man zuerst einmal auf die Grundhaltung, die seit der Gründung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gelebt wird. Es ist eine konsequente sozialpsychiatrische Haltung, die das Modellprojekt auszeichnet. Es ist sicher die Orientierung an den Bedürfnissen und den Bedarfen betroffener Menschen.
Dies zeigt beispielhaft das Nachdenken über die „Balance zwischen Nähe und Distanz“. Schleuning und Menzel beschreiben das Atriumhaus als einen „Behandlungsort mit einer besonderen, sehr individuellen Atmosphäre“ (S. 180). Weil die therapeutische Arbeit von dem Wunsch nach möglichst viel Normalität getragen sei, „kommt man sich unweigerlich sehr nahe“ (S. 180). Und trotzdem: „… und jederzeit gilt es darauf zu achten, dem Menschen in der Krise nicht zu nahe zu treten, seinen „Eigensinn“ zu achten, ihm den Kontakt nicht aufzudrängen“ (S. 180).
Das Buch „Ins Leben verrückt“ kommt sympathisch bei der Leserin und dem Leser an. Denn die kreative Gestaltung des Buchs spiegelt sicher den Alltag im Atriumhaus ab. Es gibt keine schablonenhaften Dokumentationen der inhaltlichen Grundsätze. Die Texte sind übersichtlich und inhaltlich komprimiert gehalten. Die unzähligen Fotos geben einen Eindruck von dem Miteinander von Helfenden und Hilfebedürftigen. Sie zeigen viel Atmosphäre und viel Wärme. Die abwechslungsreiche Gestaltung lässt für die Leserin und den Leser niemals Langeweile aufkommen.
Das Atriumhaus wird als ein Ort der Gastlichkeit dargestellt. Dies ist unbedingt gewollt. Dieser Anspruch sei nicht leicht einzulösen, bedeute er doch für die Mitarbeitenden, „den Neuankömmling primär nicht als Objekt unseres professionellen Könnens wahrzunehmen, zu beschreiben, zu beurteilen, sondern eben als Gast“ (S. 162). Betrete man das Atriumhaus, „findet man sich in einem Mikrokosmos sozialer Begegnungen und Ereignisse wieder“ (S. 162).
Das Atriumhaus sieht den eigenen Auftrag in der Krisenintervention bei seelischen Notlagen. Mit einem vielfältigen Angebot werden die Mitarbeitenden dieser Aufgabe gerecht. Sie leisten stationär, teilstationär und vor allem aufsuchend Hilfe. Dies machen viele Akteurinnen und Akteure in der psychiatrischen Versorgung. Doch unterscheidet die Mitarbeitenden in München sicher die Fokussierung auf den Begriff der Krisenintervention, der Klarheit schafft.
Es gehe unter anderem darum, „miteinander die wichtigsten und dringendsten veränderungsbedürftigen Aspekte der Krise herauszufinden“ (S. 111). Inmitten der eigenen Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit könne ein solcher Fokus helfen, erste Bezugspunkte wiederzufinden und dadurch ein Gefühl für die Endlichkeit und Bewältigbarkeit der Krise zu entwickeln (S. 111).
Irgendwie ist das Buch „Ins Leben verrückt“ ein Lichtblick inmitten einer Fülle von Veröffentlichungen, die evidenz-basiert und sachorientiert daherkommen.
Gabriele Schleuning / Susanne Menzel: Ins Leben verrückt – Das Atriumhaus als Pionier einer offenen Psychiatrie, Psychiatrie-Verlag, Köln 2018, ISBN 978-3-88414-696-5, 223 Seiten, 30 Euro.