Gehören Sie zu den Menschen, die mit Trauer und Melancholie auf das Älterwerden und das Alter reagieren? Sollte dies der Fall sein, so ist ein Griff zum Buch „In Ruhe alt werden können?“ unverzichtbar. Der namhafte Experte für Fragen um das Alter hat mit dem Buch das eigene Altwerden in den Blick genommen. Die Überzeugungskraft des Buchs lebt von der Offenheit und Authentizität Schützendorfs. Dies werden auch Gründe dafür sein, dass Schützendorfs Buch inzwischen in der zweiten Auflage vorliegt.
Schützendorf fragt beispielsweise, ob sich die Leserin oder der Leser ein Pflegebett unter einem Glasdach mit Blick in Bäume oder auf die vorbeiziehenden Bäume vorstellen können? So leicht sich die Gedanken lesen, so legen sie offen, dass Naheliegendes in der Pflege von alten und gebrechlichen Menschen kaum Bedeutung zu haben scheint. Schützendorf betont, wie wichtig es ist, „den Menschen, die als Müll aus unserer auf reibungsloses Funktionieren bedachten Gesellschaft aussortiert wurden, ein ordentliches Leben zu ermöglichen“ (S. 118).
Schützendorf bringt auch Dinge zur Sprache, die viele Menschen lieber verschweigen. Ausscheidungen nimmt er quasi unter die Lupe. Er drückt seinen Ekel aus, den er empfunden hat, wenn er als Alten-Experte in Heimeinrichtungen gegangen ist. Er versucht gleichzeitig, die Perspektive der alten Menschen einzunehmen: „Wenn man abhängig geworden ist, bleibt einem jede Freude versagt. Ich stelle mir angesichts der Kloszenen in deutschen Pflegeheimen manchmal vor, wie ich demnächst auf einem dieser sterilen Nasszellenklos sitze. Von der lästigen Einlage befreit, kann ich mich meinem Penis widmen und endlich meine Vorhaut untersuchen. Nur die Pflegerin hat keine Lust, meinem Treiben zuzusehen. Sie steht vor mir und bedrängt mich: Drücken Sie mal, Herr Schützendorf! Feste …“ (S. 91)
Das breite Schmunzeln verschwindet auf vielen Seiten dieses lebhaften Buchs nicht. Schützendorf weiß die Leserin und den Leser zu unterhalten, vor allem aber ins Nachdenken über den unausweichlichen Prozess des Älterwerdens zu bringen. Als jemand, der sein Berufsleben lang als Dozent und Autor unterwegs gewesen ist, bekennt Schützendorf auch, dass er von seinem Wissen nicht mehr viel halte. Er könne die eigenen Verbalstrategien, die Argumentationsketten, die Bilder, die ewig gleichen Begriffe, die phrasenweise vorgetragenen Thesen nicht mehr hören. Wahrheiten seien immer nur in einem historischen und gesellschaftlichen Kontext gültig, so Schützendorf.
Schützendorf macht sich Gedanken über schwierige Alte und den Generationenkampf, Wechseljahre und alte Ehen, ver-rücktes Alter und Beckenbodentraining. Es gibt wenig Unangenehmes, was er unausgesprochen lässt. Für Pflegende lohnt sich das Kapitel „Frauensache“ in besonderer Weise. Schützendorf schildert die Altenpflege als frauendominierten Lebens-und Arbeitsbereich. Den alten Männern, „die im Pflegeheim landen“ (S.104), rät er: „Machen Sie sich nicht das Leben schwer. Tun Sie das, was die Pflegerinnen von Ihnen erwarten. Unterdrücken Sie Ihr Interesse für Sport, Sex und Saufen. Die drei großen S werden in der Altenpflege klein geschrieben und heißen: satt, sauber, still“ (S. 104).
Nach der Lektüre des Schützendorf-Buchs können die Leserin oder der Leser nicht in Ruhe alt werden. Vielmehr ist jede und jeder aufgefordert, sich zum Alter und zum eigenen Altwerden zu positionieren. Und vor allem lässt Schützendorf kaum Platz, sich in die Trauer und die Melancholie zurückzuziehen. Wunderbar.
Erich Schützendorf: In Ruhe alt werden können?, Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2016 (2. Auflage), ISBN 978-3-938304-05-1, 121 Seiten, 16.95 Euro.