Bernd Reuschenbach und Kai Koch im Gespräch mit Christoph Müller
Musik und insbesondere Singen bereichert jedes menschliche Leben. Auch Menschen, die dementiell verändert sind, machen noch diese Erfahrung. Christoph Müller hat die beiden Professoren Bernd Reuschenbach und Kai Koch interviewt.
Christoph Müller Mit dem Perspektivwechsel in der Begleitung dementiell veränderter Menschen meinen Sie es ernst, Herr Prof. Reuschenbach. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass Musik positiv auf das Wohlbefinden älterer, verwirrter Menschen wirkt?
Bernd Reuschenbach Die positive Wirkung von Musik auf Menschen mit Demenz ist schon lange belegt und auch die Erkenntnis, dass die kulturelle Teilhabe zu einer erhöhten Lebensqualität und Entstigmatisierung der Betroffenen führt. Bringt man beides zusammen, dann ist es offensichtlich, dass Konzerte für Menschen mit Demenz in vielfacher Hinsicht hilfreich und nützlich sind. Durch die Begegnung mit Kai Koch entstand zunächst die Idee, eine eigene Konzertreihe zu gestalten. Viele Planungen und Ideen sind an der COVID-19-Pandemie gescheitert, aber wir wollten die Erkenntnisse zu Papier bringen und auch die Expertinnen und Experten zu Wort kommen lassen, die schon lange solche musikalischen Angebote nutzen. Und die Konzertreihe wird demnächst kommen.
Christoph Müller Der Neurowissenschaftler Stefan Kölsch beschreibt in seinen Forschungen zur Musik in der Begleitung erkrankter Menschen, dass emotionales Anstecken zur menschlichen Bindung beiträgt. Inwieweit kennen Sie aus Ihrer Arbeit seine Erkenntnisse, dass das gemeinsame Musik-Erlebnis zu Ermutigung und Entspannung führen?
Kai Koch Aus meiner musikgeragogischen Praxis in Alteneinrichtungen oder anderen musikalischen Formaten könnte ich unzählige Beispiele dafür nennen, wie Musik bei Menschen mit demenziellen Veränderungen unterschiedlichste Emotionen wecken kann oder sie in besonderer Weise animiert oder beruhigt werden. Sehr geprägt wurde ich von einem Erlebnis nach dem Zivildienst, als ich einen an Demenz erkrankten Herren pflegte, der anderen Menschen grundsätzlich aggressiv und verbal verletzend (schreiend) begegnete. Durch das gemeinsame Singen fanden wir einen ganz wertschätzenden freundschaftlichen Umgangston und „verblüfften“ damit das festangestellte Pflegepersonal. Eine andere Situation bleibt mir ebenfalls sehr im Gedächtnis: Beim Besuch eines Konzerts für Menschen mit Demenz erlebte ich eine Dame, die während der Veranstaltung aufstand, mittanzte und schließlich auf die Sängerin auf der Bühne zuging, um sie während des Auftritts in den Arm zu nehmen und zu beglückwünschen.
Christoph Müller In Anlehnung an den Altersforscher Erich Schützendorf schreiben Sie, dass dementiell veränderte Menschen ein Anderland erfahren. Wie schafft es die Musik, die Menschen aus dem Anderland wieder nach Normalien zurückzuholen (um Schützendorf zu erinnern)? Oder ist dies überhaupt notwendig?
Bernd Reuschenbach Um bei der Metapher zu bleiben: Es geht um den Wohlklang in Normalien UND in Anderland. Die Idee eines „Zurückholens“ geht von der Vorstellung aus, dass nur die Anschlussfähigkeit an unsere Konstruktion der Welt (unsere Realität) das alleinige Ziel ist. Ich halte das für eine Fehlkonzeption, denn gerade bei hohem Schwergrad der Demenz wird das nicht mehr möglich sein. Es geht darum positive Emotionen zu erschaffen, Freude zu bereiten und eine Schwingungsfähigkeit zwischen Betroffenen und der Musik zu erreichen. Musik soll bewegen, egal ob das in Anderland oder in Normalien ist. Das ist das zentrale Ziel und der Anspruch des Buches.
Christoph Müller Das Buch „Konzerte für Menschen mit Demenz“ zeigt, dass sich eine kleine Bewegung entwickelt hat, mit der Betroffene zur Musik zurückgeführt werden. Wie ist es dazu gekommen?
Kai Koch Ausgangspunkt war wohl das Pilotprojekt von 2012 „Auf Flügeln der Musik“, das zum Ziel hatte, Konzertprogramme für Menschen mit Demenz zu entwickeln und zu erproben. Dieses Vorhaben wurde 2014 mit dem BKM-Preis Kulturelle Bildung ausgezeichnet und hat großen Anklang gefunden. An verschiedenen Orten wurden ähnliche Formate erprobt und weitergedacht, sodass es heute eine lohnenswerte Vielfalt zu entdecken gilt. Ich glaube, dass einerseits das Ziel besteht, wie Sie sagen, die Menschen wieder zur Musik zu führen, aber dass auch andererseits ein Verantwortungsbewusstsein der Institutionen entstand, neue Zielgruppen anzusprechen.
Christoph Müller In Pandemie-Zeiten sind viele Musiker_innen auf die dementiell veränderten Menschen zugegangen und haben unter anderem Garten-Konzerte gegeben. In den Einrichtungen ist eher auf Singen verzichtet worden. Stehen da nicht ethische Konzepte im Widerstreit?
Bernd Reuschenbach Die ethische Reflexion über und die Aufarbeitung zum Umgang mit Menschen in stationären Pflege-Einrichtungen während der COVID-19-Pandemie wird uns sicherlich noch lange beschäftigen. Trotz gleicher Rahmenbedingungen gelang es kreativen Einrichtungen sehr wohl, Singen und Teilhabe zu ermöglichen. Mir sind keine Regelungen bekannt, die das Muszieren verbietet oder verboten hat. Die Krise ist sicherlich auch ein Test für die Flexibilität der Einrichtung gewesen. Diese Flexibilität und Kreativität sind sicherlich auch notwendig, um musikalischen Angeboten zu wagen.
Christoph Müller Die musiktherapeutische Forschung ist noch jung. Zwar noch begrenzt, aber es wird immer deutlicher, dass Musik positive Effekte auf Menschen und ihre Krankheitsbilder hat. Welche Konsequenzen sollte dies aus Ihrer Sicht für professionell Pflegende haben?
Bernd Reuschenbach Ich glaube, es ist dringend notwendig, zwischen musiktherapeutischen Angeboten im Heim und Musik im Heim zu unterscheiden, denn ein therapeutisches Vorgehen verlangt nach großer Expertise, Fortbildung und evtl. einem Studium. Dennoch kann Musik auch im Alltag von Pflegenden hilfreich sein. Um einiges zu nennen: Das Singen oder Pfeifen bei der morgendlichen Grundpflege kann hilfreich sein, um Menschen zu erreichen, die Bereitstellung von Instrumenten im Aufenthaltsraum kann manche ungeahnte musikalischen Fertigkeiten offenlegen und die Erfragung von Vorlieben für Musikstilen/-richtungen sollten grundlegend für eine personenzentrierte Pflege sein. Jenseits von Musiktherapie sind auch (professionell gestaltete) musikgeragogische Angebote wichtiger Bestandteil der musikalischen Angebote in Alteneinrichtungen.
Christoph Müller Den Begriff der kulturellen Teilhaben nennen Sie im Zusammenhang mit den Konzerten für Menschen mit Demenz. Wie kann dies untermauert werden? Welche Ideen haben Sie für die Zukunft?
Kai Koch Viele Menschen, die eine lange Zeit ihres Lebens an Konzertangeboten unterschiedlichster Couleur teilnahmen, meiden diesen Teil des kulturellen Lebens aufgrund von Einschränkungen, Scham und Hemmungen, die das Krankheitsbild Demenz mit sich bringen kann. Die Musik, die Konzertorte (z. B. Konzertsaal, Kirche, Jazzkneipe oder Rockfestival), das Ambiente und die sozialen Dimensionen, die im Zusammenhang mit dem Konzertereignis stehen, sind jedoch quasi alternativlos. Von daher wäre es wünschenswert, dass viele Konzertschaffende und Institutionen sich Gedanken machen, wie inklusive Konzertformen Einzug in deren Angebote vor Ort oder in Alteneinrichtungen finden können. Die bestehenden Formate zeigen, dass mit etwas Hintergrundwissen und konzeptionellen Geschick sowohl sehr kleine als auch große inklusive Veranstaltungen realisierbar sind. Ich wünschte, dass es nicht nur mehr, sondern auch neue Formen solcher Konzertangebote künftig geben wird, um die unterschiedlichsten Bedürfnisse zu erfüllen und die jeweiligen Gegebenheiten dazu bestmöglich zu nutzen.
Christoph Müller Ein großes Dankeschön.
Kai Koch & Bernd Reuschenbach: Konzerte für Menschen mit Demenz Grundlagen, Durchführung, Erfahrungen, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-17-038848-2, 140 Seiten, 32 Euro.