„Ich will, dass sie mich in die Arme nimmt“

26. Januar 2020 | Christophs Pflege-Café, Demenz | 0 Kommentare

Christian Luksch hat sich als Psychiatrie-Pfleger den älteren Menschen verschrieben, die seelisch aus der Balance geraten sind. Mit seiner Webseite www.geronto.at zeigt er, dass das Plädoyer für Menschen, die gesellschaftlich gerne in Vergessenheit geraten, auch politisch-gesellschaftlich gelebt werden kann. Christoph Müller hat das Gespräch mit Christian Luksch gesucht.

Christoph Müller Wenn Sie Vorträge halten, stellen Sie immer wieder fest, dass dementielle Veränderungen in der Psychiatrie als sukzessiver Verlust der kognitiven Fähigkeiten beschrieben wird. Demenz bedeutet für Sie jedoch nicht den Verlust von Emotionen. Wieso sind Sie sich da so sicher?

Christian Luksch Durch eine gute psychiatrische Ausbildung und ein berufliches Umfeld, das die Bereitschaft zur Reflexion und Selbstreflexion fördert und fordert, lernt man bald das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung kennen. Übertragen werden vom jeweiligen Gegenüber Stimmungen und starke Gefühle. Wehrt man sie nicht ab, sondern ist offen dafür und kann sie von den eigenen Emotionen differenzieren, dann fühlt man quasi mit diesem Menschen mit.

Dies ist zum einen die Grundlage der Psychoanalyse wie sie Freud beschreibt, zum anderen aber auch die der Psychobiographischen Pflege und der Validation.  In den letzten Jahren wurde dies durch die Neuropsychologie (Stichwort Spiegelneuronen) nachgewiesen. Wer viel und intensiv gerade mit dementen Menschen arbeitet (und sich ausreichend dafür Zeit nehmen kann), erlebt es täglich und weiß, dass die Demenz vieles nimmt – aber nicht die Fähigkeit, Emotionen zu haben.

Christoph Müller Kommen wir zum Thema „Verhaltensstörungen“. In Fachkreisen sprechen wir immer über „herausforderndes Verhalten“. Sie sind der Überzeugung, dass die Lebensgeschichte des Menschen einen unmittelbaren Bezug zum Verhalten hat. Können Sie dies begründen?

Christian Luksch Also, dass wir alle unsere Einstellungen und Handlungsweisen mal gelernt haben, dürfte ja klar sein. Die Kernfrage aber ist: Wann, in welcher Situation und unter welchen sozialen und kulturellen Bedingungen? Hier halte ich es sehr mit Erwin Böhm und seiner These von der Prägungszeit – also die ersten 20 bis 25 Lebensjahre. Alles was wir da erleben, wie wir auf diese Erlebnisse reagieren sowie ob und wie diese Reaktionen von unseren Bezugspersonen in dieser Zeit verstärkt werden, welches Verhalten hier konditioniert wird, das ist maßgeblich für unsere Verhaltensweisen in ähnlichen Situationen während des ganzen Lebens. Es sind quasi die Ziegelsteine unseres Hauses.

Das, was wir sehen, ist nur der Verputz dieser rohen Ziegelsteine durch die gesellschaftlichen Normen, an die wir uns halten. Bröckelt dieser Verputz ab, die „Fassade“ wie wir in der Psychiatrie sagen, weil wir uns aufgrund der Demenz nicht an die hier und jetzt geltenden Normen erinnern können, dann steht diese nackte Ziegelmauer da. Dies passt wiederum nicht in die Vorstellungen der Mitwelt. Die Mitwelt fühlt sich herausgefordert, diese Abnormität zu beseitigen, eben das, was sie für normal hält, wiederherzustellen. Dies funktioniert jedoch bei Dementen meist nicht.

Christoph Müller An Pflegenden kritisieren sie, dass sie dementiell veränderte Menschen über den Verstand zu erreichen versuchen und fordern auf, dass sie sich an die Gefühle der Betroffenen wagen. Wie soll den Kolleginnen und Kollegen dies gelingen?

Christian Luksch Ich halte es für eine irrige, ja sogar arrogante Annahme, dass wir Menschen vernunftgesteuerte Wesen sind. Es ist die Idealvorstellung von Immanuel Kant, aber nicht die Realität, in der wir leben. Tatsächlich bestimmen unsere Emotionen, was wir tun oder nicht. Freud reduziert dies auf zwei emotionale Cluster, nämlich Lust oder Unlust. Er behauptet – für mich sehr nachvollziehbar –, dass der Mensch zunächst bestrebt ist, Unlust zu vermeiden und danach, Lust zu gewinnen. Übertrage ich dies jetzt auf die Pflege dementieller Menschen, ergibt es sich bereits von selbst, was zu tun ist.

Da das stärkste Unlust-Gefühl die Angst ist, müssen wir in der Arbeit mit Dementen zuerst für ein angstfreies Milieu sorgen und in weiterer Folge für eines, das Lust und Freude macht. Interessant ist, dass wir es mittlerweile recht gut beherrschen, Lust oder Freude zu bereiten, aber sehr oft daran scheitern, jemandem die Angst zu nehmen. Es funktioniert nur über den Aufbau von Vertrauen. Das wieder braucht, neben Empathie und Authentizität, vor allem Zeit – etwas, das wir ja alle angeblich nicht haben. Die Zeit müssen wir uns nehmen und nicht darauf warten, dass sie uns jemand zur Verfügung stellt. Der Rest umfasst leicht erlernbare Techniken.

Christoph Müller Der Begründer des psychobiographischen Pflegemodells, Erwin Böhm, hat Ihnen in der gemeinsamen beruflichen Zeit einmal empfohlen, einfach einmal nichts zu machen. Sie nennen es simples Da-Bleiben. Wie können Pflegende dies kultivieren?

Christian Luksch Indem wir unser Handeln am ersten Watzlawickschen Axiom ausrichten: Wir können nicht nicht-kommunizieren. Wir kommunizieren in jedem Fall und immer neunmal mehr nonverbal als verbal. Das heißt, wenn wir dableiben und uns nicht umdrehen und weggehen, weil der Mensch für uns gerade nicht mehr kognitiv oder sprachlich erreichbar ist, dann kommunizieren wir mit ihm trotzdem: Du bist nicht alleine. Ich bin bei dir. Und werden damit in ihm, wenn wir empathisch und authentisch bleiben und uns Zeit nehmen, ein Gefühl auslösen, dass das Gegenteil von Angst ist: Vertrauen.

Das Zweite ist, dass wir unsere eigene Machtlosigkeit gegenüber manchen psychischen Situationen akzeptieren müssen. Sie ist nämlich häufiger da als wir denken. Wir sind in unserer professionellen Prägung voll auf „Machen“ programmiert. Wenn wir dann auf Situationen stoßen, wo wir nichts mehr machen können, gehen wir. Genau das ist aber das Verkehrte. Wir müssen bleiben, aber wir müssen nichts machen, wenn wir nichts machen können. Es ist verdammt schwer, weil es einen eben mit der eigenen Machtlosigkeit konfrontiert.

Christoph Müller Gleichzeitig sprechen Sie häufig darüber, dementiell veränderten Menschen Raum gegeben werden soll, um ihre Daseinsweise auszuleben. Was kann dies konkret heißen?

Christian Luksch Im Jahre 1991 erschien Erich Schützendorfs erstes Buch mit dem Titel „In Ruhe verrückt werden dürfen“. Sehr viel konkreter kann man die Frage nach dem Raum, der dementiell veränderten Menschen gegeben werden soll, nicht mehr ausdrücken. Tatsächlich geht es nämlich genau darum – nämlich auch als dementer Mensch in Ruhe gelassen zu werden. Was natürlich nicht heißt, allein gelassen zu werden, sondern einfach akzeptiert zu werden, als der oder die man geworden ist.

Ich finde es eine unzumutbare Anmaßung der sogenannten Normalen, alles zu normalisieren – in einem Sinne der Anpassung an die eigenen Vorstellungen. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen so zuzurichten, wie es ihm passt. Im Gegenteil: Wir sind es, die sich an den Bedürfnissen der uns Schutzbefohlenen zu orientieren haben, nicht die Alten an unseren krankmachenden Strukturen. Nicht die Verrückten sind es, die normalisiert werden, müssen sondern wir müssen uns verrücken. Anders funktioniert es nicht!

Christoph Müller Zeit beschreiben Sie als einen existentiellen Begriff in der Begleitung dementiell veränderter Menschen. Was meinen Sie zum Beispiel mit Prägungszeit?

Christian Luksch Konkret sind es die ersten 20 – 25 Lebensjahre, in denen wir in unseren persönlichen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen von bestimmten Erlebnissen und Menschen geprägt werden. Theoretisch habe ich dies ja schon zu beantworten versucht, aber lassen Sie mich das an einem persönlichen Beispiel darlegen, das vielleicht auf der emotionalen Ebene erklärt, wie ich als Pflegender ticke, diesmal ohne dabei auf die rationale Ebene zurückzugreifen.

Im Alter von sechs Jahren kam ich mit Scharlach ins Krankenhaus. Eine interessante Erfahrung in vielen Bereichen: ein allmächtiger Großvater, der vor Angst weint, eine sozialdemokratische Mutter, die plötzlich betet, ein Dutzend Kinder, die mich beneiden. Und eine große dicke Krankenschwester namens Hilde. In der zweiten Nacht kam dann ein Fieberdelir: Ich träume, der Himmel sei auf Amstetten gefallen und habe alles zerstört, springe aus meinem Bett, laufe laut schreiend in die dunklen Gänge und mitten in Schwester Hildes weit ausgebreitete Arme. „Es ist alles gut“, sagt sie, „Es war nur ein böser Traum. Alles ist gut.“ Nicht mehr. War einfach nur da. Sie tat nichts und war da. Und das reichte.

Christoph Müller Aus Ihrer Sicht findet Biographie oft nicht statt. Erläutern Sie doch einmal, was dies für die Pflegenden und die Gepflegten bedeutet.

Christian Luksch Biographie bedeutet, wenn im Jahre 2050 diese gerade erzählte Geschichte aus dem Leben des dann vielleicht dementen Christian Lukschs den ihn pflegenden Menschen bekannt ist und diese ihr Handeln daraus ableiten. Unter Garantie: Ich werde dann nachts Schwester Hilde suchen. Und ich will, dass sie mich in die Arme nimmt, wie 1967 und sagt, dass alles gut ist. Nichts weiter. Nur das. Und genau das ist biographisches Arbeiten.

Christoph Müller Ganz lieben Dank, Herr Luksch, für die Erweiterung des persönlichen Horizontes.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at