Hölderlin – Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm

8. Mai 2020 | Rezensionen | 0 Kommentare

Der 250. Geburtstag Friedrich Hölderlin hat dafür gesorgt, dass sich eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren wieder einmal mit dem Sonderling aus Tübingen beschäftigt hat. Auch die Psychiater Uwe Gonther und Jann E. Schlimme haben den Ehrentag Hölderlins zum Anlass genommen, wieder einmal den Blick auf den beeindruckenden Autoren und auffälligen Menschen zu werfen.

Worauf schauen Gonther und Schlimme mit besonderer Aufmerksamkeit? Gonther und Schlimme nehmen die Rezeption des Patienten und Sonderlings besonders unter die Lupe. Dabei vermeiden sie es, die Fakten besser zu kennen oder interpretieren zu können, die viele Psychiaterinnen und vor allem Psychiater in den vergangenen Jahrzehnten versucht haben. In den Schlussfolgerungen bleiben sie oft zurückhaltend, lassen der Leserin und dem Leser Interpretationsraum.

Vielmehr geben sie in ihrem Fazit der Beschäftigung mit der Person Hölderlins großen Raum. Sie nennen das Fazit einen „Reiseführer ans Neckarufer“. Dabei fordern sie die Leserin und den Leser nicht auf, den Turm im Wohnhaus der Familie Zimmer am Neckarufer in Tübingen zu besuchen. Wer dies nach der Lektüre des Buchs noch immer nicht will, der verpasst sicher eine Gelegenheit, sich authentisch mit der Person des Schriftstellers Hölderlin auseinanderzusetzen.

Hölderlin gilt als ein Mensch, der stark unter einer Psychose-Erkrankung gelitten hat. Gonther und Schlimme stellen sich dagegen, wenn sie schreiben: „Bei sorgfältiger Betrachtung der Datenlage lässt sich keine ewig gültige Diagnose stellen … Diese haarspalterische Unterscheidung der Psychosen ist jedoch sowohl für eine Begleitung der Genesung als auch für ein Verständnis der betreffenden Person nicht notwendig“ (S. 101). Mit dieser Haltung distanzieren sich Gonther und Schlimme nicht nur von einem engführenden diagnostischen Begriff. Sie rücken vor allem den Menschen Hölderlin in das Licht.

Natürlich versuchen Gonther und Schlimme eine Begründung dafür. Die Entpsychiatrisierung Hölderlins sei keine Gutwilligkeit durch die Autoren, sondern eine Hölderlin als Mensch zustehende Selbstentfesselung und Selbstermächtigung. Jede und jeder wolle einen eigenen Weg finden, „um die Dinge, die uns wichtig sind, gegen alle Widrigkeiten des Lebens irgendwie zu tun“ (S. 101).

Gleichzeitig erklären sie, dass eine psychotische Erfahrung durchaus eine alltägliche Erfahrung im Leben sei. Unter Psychose-Erfahrung verstünden sie „einen umfassenden Verständigungsabbruch mit den Mitmenschen, einen umfassenden Verlust an Selbstverständlichkeiten“ (S. 102). In schweren Krisen betreffe der Verlust von Selbstverständlichkeiten eine Vielzahl nonverbaler Muster des Wahrnehmens, Bewertens, Bedeutens und Handelns (S. 103).

Hölderlin erscheint als Autor und als Sonderling so fern. Gonther und Schlimme holen ihn irgendwie aus der Einsamkeit des Turms am Neckarufer in Tübingen in die Gemeinschaft derjenigen, die es heute noch gut mit ihm meinen. Sie schlagen eine Brücke zwischen dem Alltäglichen und dem, was in sozialen Gemeinschaften oder wo auch immer aus einem Menschen, einer Idee gemacht wird. Insofern ist die Lektüre des Buchs „Hölderlin – Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm“ nicht nur erfrischend, sondern vor allem ein Zeichen der Hoffnung. Der Hoffnung, dass Menschen sich solidarisieren und nicht das Alltägliche dramatisieren.

Uwe Gonther / Jann E. Schlimme: Hölderlin – Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm, Psychiatrie-Verlag, Köln 2020, ISBN 978-3-96605-059-3, 126 Seiten, 20 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at