„Ihre Hämatome könnten auch von stattgefundener Gewalt herrühren. Kann es sein, dass Ihnen jemand Gewalt angetan hat?“ Diese Frage kann für die gewaltbetroffene Patientin das Ende eines jahrelangen Leidens einläuten. Jede fünfte Frau in Österreich ist von körperlicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt betroffen – meist im häuslichen Umfeld. Oftmals sind die in niederschwelligen Gesundheitseinrichtungen tätigen Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte die einzigen Ansprechpersonen für die häufig sozial isolierten Gewaltopfer.
Interprofessionell arbeiten
Aufbauend auf den seit 2004 gesetzlich verankerten Kinderschutzgruppen sind Krankenanstalten seit dem Jahr 2011 verpflichtet, „Opferschutzgruppen für volljährige Betroffene häuslicher Gewalt“ einzurichten, erklärt Mag. Dr. Helga Zellhofer, Abteilung Strategie und Qualität Pflege, NÖ Landesgesundheitsagentur (LGA).
Um die Opferschutzgruppen der Kliniken in ihrer regionalen Arbeit zu unterstützen, wurde im Auftrag der LGA eine interprofessionelle Arbeitsgruppe (AG) gegründet.
Die Mitglieder wurden jeweils aus den Regionen benannt und entsandt – Expertinnen und Experten bzw. mit Opferschutz erfahrene Personen. Ziel der AG ist es, das Thema Opferschutz zentral und niederösterreichweit einheitlich zu bearbeiten. Trotz der aktuell großen und vielfältigen Herausforderungen rund um Covid-19, die alle Aufmerksamkeit massiv beanspruchen, hat im November ein erstes virtuelles Treffen der AG stattgefunden. Die nächsten konkrete Schritte der regionalen und überregionalen Vernetzungsarbeit sind geplant und werden aktiv von der Arbeitsgruppe Opferschutz bearbeitet.
Einfühlsam agieren
Eine besonders aktive Opferschutzgruppe ist etwa jene in Tulln. Ende des Vorjahrs war das Universitätsklinikum Austragungsort eines österreichweiten Vernetzungstreffens der Opferschutzgruppen. Für April 2020 war ein Symposium geplant, das wegen Corona verschoben wurde. Die Klinische Psychologin und Opferschutzbeauftragte im Haus, Mag. Viktoria Wentseis, engagiert sich seit langem für das Thema, hat eine Homepage erstellt, auf der alle Aktivitäten und Projekte der Tullner Opferschutzgruppe zu finden sind (www.hinschauenstattwegschauen.at).
„Ein Drittel der von Gewalt betroffenen Frauen kontaktiert eine Einrichtung des Gesundheitswesens“, weiß die Psychologin, „einige Berufsgruppen wie Unfallchirurgie, Gynäkologie oder Pflege sind schon erfahren im Umgang. Was mache ich, wenn ich Gewalt vermute? Wann muss Anzeige erstattet werden? Wohin kann ich Betroffene schicken? Welche Hilfseinrichtungen gibt es in der Nähe?“ Oft hätten die Opfer Schamgefühle und Angst – daher gelte es besonders einfühlsam zu sein und keine wertende Haltung einzunehmen.
Entschließt sich eine Frau dazu, die Gewaltspirale zu durchbrechen, hat man im Klinikum die Möglichkeit einer Auskunftssperre oder eines Betretungsverbots. Das bewirke in vielen Fällen etwas bei den gewalttätigen Männern, weiß Wentseis aus Erfahrung: „In 80 Prozent hört die Gewalt dann auf. Auch Täterarbeit ist wichtig, wir verweisen auf eigene Beratungsstellen für Männer.“
Expertise aus Niederösterreich
Möglichst viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken sollen geschult werden, um Verdachtsfälle von Misshandlung zu erkennen und der Situation angepasst zu reagieren. Eine wertvolle Unterstützung für die Kliniken ist die neue „Toolbox Opferschutz“, an der Viktoria Wentseis gemeinsam mit ihrer Arbeitsgruppen-Kollegin Prim. Dr. Jutta Falger, MBA, MAS, Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf, mitgearbeitet hat. Der einheitliche Leitfaden enthält Informationen, Materialien und viel niederösterreichische Expertise.
Toolbox Opferschutz
Die Toolbox enthält standardisierte Informationen und Materialien, um den Aufbau und die Arbeit von Opferschutzgruppen zu erleichtern. Dieses „Starterset für Opferschutzgruppen“ wurde erstellt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesundheit Österreich GmbH in enger Zusammenarbeit mit dem Expertenbeirat. Auftraggeber ist das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.
Informationen: toolbox-opferschutz.at