Die Bezeichnung als „Handbuch Alzheimer-Krankheit“ hat sich das Herausgeberwerk wahrhaftig verdient. Denn auf den mehr als 600 Seiten haben der Gerontopsychiater Frank Jessen sowie die zahlreichen Autorinnen und Autoren den State of the art auf den Punkt gebracht. Oder konkreter: der Stand der Forschung um die Alzheimer-Erkrankung ist auf einen Blick zu finden.
Dabei wird den Leserinnen und Lesern ein differenziertes medizinisches und neurowissenschaftliches Grundwissen abverlangt. Denn die Autorinnen und Autoren thematisieren molekulare Mechanismen der Amyloid-Pathologie bei der Alzheimer-Erkrankung, neuropsychologische Diagnostik und bildgebende Verfahren. Dies erweckt den Eindruck, dass Menschen aus pflegenden Berufen keinen Nutzen aus der Beschäftigung mit dem „Handbuch Alzheimer-Krankheit“ ziehen. Dies ist jedoch ein Trugschluss.
Denn unter anderem zeigt ein Kapitel über die Pflege von Menschen, die von einer Alzheimer-Erkrankung betroffen sind, wo Schwerpunkte in der praktischen Arbeit zu legen sind. So wird einmal mehr betont, dass es bei der Pflege von Menschen mit einer Alzheimer-Krankheit um eine höhere Lebensqualität geht. Diese Lebensqualität wird erreicht, wenn der Wohnraum möglichst klein und übersichtlich ist sowie einen häuslichen Charakter hat. Die Autoren unterstreichen die Wichtigkeit des Begriffs der demenzsensiblen Lebensräume.
Im Umgang mit Menschen mit Demenz sei für Pflegende das Vertrauen in die eigene Kompetenz einer der wichtigsten Faktoren, um das Gelingen einer guten Versorgung zu ermöglichen. Kompetente Pflegende gingen beispielsweise reflektiert mit herausforderndem Verhalten um. Apropos herausforderndes Verhalten: Die Autoren erarbeiten, dass herausforderndes Verhalten eine sinnvolle Reaktion sein kann – als Ergebnis vieler interagierender psychosozialer Ursachen.
Auch im Kapitel, in dessen Fokus die pflegenden Angehörigen stehen, geht es darum, die Angebote für Menschen mit einer Alzheimer-Erkrankung individuell passend zu gestalten. Auch Menschen aus anderen Kulturkreisen hätten spezielle Anforderungen. Pflege-und Betreuungsangebote müssten kultursensibel sein.
Viele in dem „Handbuch Alzheimer-Krankheit“ vorgestellten Erkenntnisse sind bekannt, werden an dieser Stelle nochmals in unterschiedliche Zusammenhänge gestellt. Den psychiatrisch – pflegerischen Praktiker irritiert allerdings die Schere zwischen dem eigentlich vorhandenen und wissenschaftlich gestützten Wissen und der Umsetzung in den unterschiedlichen Versorgungssettings.
Aufhorchen lässt, dass im Zusammenhang mit der pharmakologischen Behandlung betroffener Menschen der Begriff der Frailty in den Diskurs eingebracht wird. In der pflegewissenschaftlichen Diskussion wird dieser Terminus bislang lediglich im anglo-amerikanischen Raum diskutiert. Frailty könne man als geriatrisches Syndrom definiert werden, das durch eine verminderte Resistenz auf Stressoren gekennzeichnet sei. Resilienz und Frailty sei gemeinsam, dass in einem komplexen, nichtlinearen biologischen System ein Punkt erreicht werde, an dem beide Faktoren zum Erhalt der Integrität nicht mehr reichten.
Das „Handbuch Alzheimer-Krankheit“ entfaltet seine Kraft erst bei einer wiederholten Lektüre bzw. einem konkreteren Blick auf die eine oder andere Fragestellung. Auf den ersten Blick sollte sich die Leserin und der Leser nicht von der Wissensfülle und Erkenntnistiefe erschlagen lassen. Es ist ein Startblock für viele weitere Überlegungen, die sich in der Begleitung und Behandlung der betroffenen Menschen niederschlagen sollte.
Frank Jessen: Handbuch Alzheimer-Krankheit – Grundlagen, Diagnostik, Therapie, Versorgung, Prävention, Verlag de Gruyter, Berlin 2018, ISBN 978-3-11-040345-9, 654 Seiten, 99.95 Euro.