Aggression, Gewalt und Zwang sind Themen, die im Gesundheitswesen von zunehmender Bedeutung sind. Tagtäglich nehmen Gesundheitsberufe erlebte Gewalt an Patient*innen wahr, sind selbst von Aggression und Gewalt im Arbeitsalltag betroffen oder müssen – zur Abwehr von akuten Lebens- und Gesundheitsgefahren – selbst als letztes Mittel Zwangsmaßnahmen am Patienten anwenden. Im Beitrag werden die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt samt den juristischen Möglichkeiten, damit umzugehen, aufgezeigt. Zusätzlich werden juristische Kurzantworten zu ausgewählten Fallbeispielen der Praxis gegeben.
Begriffsklärungen
Das Wort „Aggression“ leitet sich vom lat. „aggredi“ ab und bedeutet soviel wie „Angreifen, aktives Herangehen oder Heranschreiten“ und stellt demnach das Gegenteil von Passivität dar. Die Aggression kann offen (verbal, körperlich) oder verdeckt (in der Phantasie) auftreten; sie kann positiv (also von der Gesellschaft akzeptiert) oder negativ (also unerwünscht, störend) sein.
Die Aggression ist nicht nur ein Verhalten, sondern auch ein Gefühl. Wenn das Gefühl bzw. die Verhaltensweise häufig und intensiv auftritt, so kann es Anlass für ein problematisches, antisoziales Verhalten werden. Dies gilt vor allem dann, wenn durch einen unangepassten Ausdruck von Emotionen die Absicht verfolgt wird, Schaden zu bewirken. Und hier beginnt die Abgrenzung zur Gewalt.
Als Gewalt werden Handlungen bezeichnet, bei denen man bei anderen beeinflussend, verändernd oder schädigend einwirkt. Für den Kontext „Gesundheitswesen“ ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heranzuziehen. Demnach wird Gewalt definiert als der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation (= Verlust von Vertrautem, Gefühl der Benachteiligung) führt (WHO, Weltbericht Gewalt und Gesundheit, 2003).
Weshalb ein Mensch gewalttätig wird, ein anderer dagegen nicht, das lässt sich nach dem WHO-Bericht nicht monokausal erklären. Auch lässt sich die Frage, warum das soziale Gefüge einer Gemeinschaft durch die unter ihren Mitgliedern herrschende Gewaltkultur zerfällt, während eine benachbarte Bevölkerungsgruppe in Frieden lebt, nicht eindeutig klären. Gewalt ist ein außerordentlich komplexes Phänomen, das in der Wechselwirkung zahlreicher biologischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Faktoren wurzelt.
Studienlage zur Gewalt in Österreich
Das Österreichische Institut für Familienforschung an der Universität Wien hat 2011 eine Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern publiziert. Im Detail wird in der Studie die Thematik rund um Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld beleuchtet.
Zentrales Ziel der Studie war es, ein möglichst umfassendes Bild der Gewalterlebnisse von Frauen und Männern zu erhalten. Die Gewalterlebnisse umfassten drei Dimensionen:
- Gewalterfahrungen der 16- bis 60-jährigen Frauen und Männer über den gesamten Lebenszyklus
- Gewalterfahrungen innerhalb der der Befragung vorangegangenen drei Jahre (2007–2010)
- Rückblick auf Gewalterfahrungen in der Kindheit
Die Gewalterlebnisse wurden systematisch nach folgenden Gewaltformen abgefragt:
- Psychische Gewalt
- Körperliche Gewalt
- Sexuelle Belästigung
- Sexuelle Gewalt
Übergriffe in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind ein gesellschaftliches Phänomen, von dem nahezu alle Studienteilnehmer*innen berichteten. Nur eine kleine Gruppe der befragten Frauen (7,4 %) und Männer (14,7 %) hat noch nie derartige Erfahrungen gemacht. Allerdings ist dazu anzumerken, dass schon kränkende Demütigungen, Einschüchterungen oder Eifersuchtsszenen als „Übergriffe” gezählt worden sind.
Ein gesellschaftlich relevantes Thema ist die sexuelle Belästigung bzw. sexuelle Gewalt. Die sexuelle Belästigung ist jene Gewaltform, die am häufigsten an öffentlichen Orten erfahren wird (Frauen: 51,3 %, Männer: 12,5 %). Über sexuelle Gewalt berichten 29,5 % der Frauen und 8,8 % der Männer. Im Detail widerfuhr es
- 25,7 % der Frauen und 8,0 % der Männer, dass sie von jemandem „intim berührt oder gestreichelt” wurden, obwohl sie sagten oder zeigten, dass sie das nicht wollten;
- 13,5 % der Frauen und 8,0 % der Männer, von jemandem „zu sexuellen Handlungen genötigt” worden zu sein, die sie nicht wollten;
- 8,9 % der Frauen und 2,0 % der Männer, dass jemand versuchte, „gegen meinen Willen in meinen Körper einzudringen oder mich zum Geschlechtsverkehr zu nötigen. Es kam aber nicht dazu”.
- 7,0 % der Frauen und 1,3 % der Männer, dass jemand „gegen meinen Willen mit einem Penis oder etwas anderem in meinen Körper eingedrungen ist”.
Rechtliche Entwicklungen im Gewaltschutz
Die gesellschaftliche Haltung zu Gewalt und die konkreten Wirkungen auf das individuelle Verhalten der Menschen in einem Staat werden maßgeblich durch die jeweiligen gesetzlichen Regelungen mitbestimmt. Österreich nimmt im internationalen Vergleich zweifellos eine Vorreiterrolle in Bezug auf Schutz vor Gewalt, insbesondere in der Familie, ein. Ein Überblick:
- 1977: Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts
- 1989: Absolutes Gewaltverbot in der Erziehung
- 1997: Erstes Gewaltschutzgesetz (Wegweisung Gewalttäter, Betretungsverbot der gemeinsamen Wohnung, Errichtung von Opferschutzeinrichtungen)
- 2009: Zweites Gewaltschutzgesetz (Ausbau Dauer des Betretungsverbots, Strafdelikt „Fortgesetzte Gewaltausübung“ samt Strafverschärfung)
- 2011: Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern (Grundrecht von Kindern auf Gewaltfreiheit)
- 2019 / 2020: Drittes Gewaltschutzgesetz (Verschärfungen im Bereich Gewalt- und Sexualdelikten, Anzeigepflichten durch die Gesundheitsberufe, Erweiterung des Betretungsverbots um ein Annäherungsverbot, verpflichtende Gewaltpräventionsberatung)
Patient*in als Opfer: Neue Anzeigepflichten seit Oktober 2019
Im Rahmen der Task Force Strafrecht 2019 wurden seitens der Bundesregierung auch Maßnahmen erarbeitet, die einem effektiven Opferschutz dienen. Dabei wurde festgestellt, dass häufig die Gesundheitsberufe die ersten und einzigen Ansprechpersonen für Gewaltopfer sind. Um den Opferschutz hier herauszustreichen, wurde vorgeschlagen, den Gesundheitsberufen eine einheitliche Anzeigepflicht gesetzlich vorzugeben. Mit 30.10.2019 trat diese neue Pflicht in Kraft.
Bevor die Regelung vorgestellt wird, ist es wichtig zu erwähnen, dass Gesundheitsberufe im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht eine Sensibilität in Richtung Gewalterkennung haben sollten. Die Gesundheitsberufe können zwar in der Regel die Lebensbedingungen der Betroffenen nicht ändern bzw. deren Gewaltsituation beenden, aber sie können in einer Notsituation Schutz bieten (z.B. durch stationäre Aufnahme in einer Klinik) bzw. auch die betroffenen Personen an Hilfs- oder Schutzeinrichtungen und gegebenenfalls an die Polizei weiterverweisen.
Gewaltanamnese
Im Rahmen der Anamnese empfiehlt es sich, separat auf eine erlittene Gewalt zu achten („Gewaltanamnese“); vor allem dann, wenn erste Anzeichen dafür sprechen. Solche sind z.B.:
- Unplausible Erklärungen zum Unfallhergang
- Untypische Stellen einer Verletzung
- Multiple Hämatome unterschiedlichen Alters
- Untypische Brandwunden (etwa mit Abdruck von Herdplatte, Bügeleisen oder Zigaretten)
- Verletzungen im Genital- / Analbereich, ggf. zerrissene oder blutige Unterwäsche
- Desinteresse der Eltern an den Verletzungen des Kindes
- Beobachtung einer aggressiven / gewalttätigen Interaktion im Wartebereich einer Gesundheitseinrichtung zw. Patient*in und An- / Zugehörigen; auch Verletzungen der Begleitperson z.B. an der Hand
- Verzögerte Beiziehung des Arztes / Rettungsdienstes
- Aufsuchen der Notambulanz nachts oder am Wochenende
- Schilderungen des Rettungsdienstpersonals bei Patientenübergabe in der Krankenanstalt bzgl. Wahrnehmungen im häuslichen Umfeld (z.B. Drogenmilieu, alkoholisierte Eltern …)
- Ängstliche/r, schreckhafte/r Patient*in
- Überangepasstes Patient*innen-Verhalten
- Nervöses, flüchtendes Verhalten bei Ansprechen der Gewalt
Anzeigepflicht
Die Gesundheitsberufe sind zur Anzeige an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft verpflichtet, wenn sich in Ausübung der beruflichen Tätigkeit der begründete Verdacht ergibt, dass durch eine gerichtlich strafbare Handlung
- der Tod, eine schwere Körperverletzung oder eine Vergewaltigung herbeigeführt wurde oder
- Kinder oder Jugendliche misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind oder
- nicht handlungs- oder entscheidungsfähige oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder einer geistigen Behinderung wehrlose Volljährige misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind.
Ein „begründeter Verdacht“ liegt vor, wenn über die bloße Vermutung hinausgehende, konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung einer konkreten Person vorliegen. Die Anhaltspunkte dazu können sich insbesondere aus den wahrgenommenen Tatsachen und Schlüssen, die aus dem fachlichen Wissen und der Berufserfahrung gezogen werden, ergeben. Dabei kann es sich u.a. um die Ergebnisse von Untersuchungen, Beobachtungen oder Inhalte von Gesprächen handeln. Allgemeine unsubstantiierte Vorwürfe, bloße Gerüchte oder Vermutungen stellen jedenfalls keinen begründeten Verdacht dar. Der begründete Verdacht ist zu dokumentieren.
Die Anzeige wird erstattet durch Kontaktaufnahme mit der nächstgelegenen Polizeidienststelle oder einer Staatsanwaltschaft. Laut Auskunft der Website der Polizei wird es empfohlen, Anzeigen wegen Straftaten nicht via E-Mail zu erstatten, da in diesem Fall keine Sofortmaßnahmen garantiert werden können. Die persönliche Vorsprache an einer Polizeidienststelle erspart Rückfragen bei der Sachverhaltsaufnahme und ermöglicht die erforderliche Identitätsfeststellung des Zeugen in kurzem Wege.
Als Täter kommt auch ein/e Berufskolleg*in in Frage. Auch dann haben die Gesundheitsberufe eine Anzeigepflicht, wenn sie in Ausübung ihrer Tätigkeit Wahrnehmungen machen, dass ein/e Kolleg*in bei/m Patient*innen ein oben beschriebenes strafbares Verhalten gesetzt hat.
Ausnahmen zur Anzeige
Die Regelung der Ausnahme lautet wie folgt: Eine Pflicht zur Anzeige besteht nicht, wenn
- die Anzeige dem ausdrücklichen Willen des volljährigen handlungs- oder entscheidungsfähigen Patienten widersprechen würde, sofern keine unmittelbare Gefahr für diesen oder eine andere Person besteht (Zusatz für Ärzte: und die klinisch-forensischen Spuren ärztlich gesichert sind), oder
- die Anzeige im konkreten Fall die berufliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf, sofern nicht eine unmittelbare Gefahr für diese oder eine andere Person besteht, oder
- das Gesundheitspersonal, das seine berufliche Tätigkeit im Dienstverhältnis ausübt, eine entsprechende Meldung an den Dienstgeber erstattet hat und durch diesen eine Anzeige an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft erfolgt ist.
Zudem gibt es eine Besonderheit bei Kindern / Jugendlichen: Hier kann die Anzeige unterbleiben, wenn sich der Verdacht gegen einen Angehörigen richtet, sofern dies das Wohl des Kindes oder Jugendlichen erfordert und eine Mitteilung an die Kinder- und Jugendhilfeträger und gegebenenfalls eine Einbeziehung einer Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt erfolgt.
Zu den Details: Die Ausnahme 1 und 2 greift stets nur dann, wenn nicht eine unmittelbare Gefahr für die von der Straftat betroffene Person oder eine andere Person besteht. Dies gilt es herauszufinden. Ob unmittelbar, also insbesondere zeitnah, eine entsprechende Gefahr besteht, kann nur im Sinne einer Prognose auf Basis der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dauert die Gewalt gegen den/der Patient*in (das Opfer) an, während das Gesundheitspersonal anwesend ist, so ist unverzüglich die Polizei über den Notruf 133 beizuziehen. Dies auch dann, wenn das von der Gewalttat betroffene Opfer bittet, diese nicht beizuziehen. In diesem Fall hat die unmittelbare Beendigung der Gewalt und das Herstellen von Sicherheit oberste Priorität. Die Anzeige durch das Gesundheitspersonal kann in diesen Konstellationen dazu dienen, Machtstrukturen, denen die betroffene Person unterliegt, zu durchbrechen. Das Gesundheitspersonal hat aber auch auf einen Selbstschutz zu achten!
Dokumentation
Sowohl eine zeitnahe Dokumentation als auch eine gewissenhafte Spurensicherung sind aber Voraussetzung für eine gerichtsverwertbare Beweissicherung. Ohne rasche Spurensicherung und richtige Dokumentation der Verletzungen gehen Beweise unwiederbringlich verloren.
Eine detaillierte und nachvollziehbare schriftliche Dokumentation der erlittenen Verletzungen sowie die Spurensicherung sind spätestens dann unterstützend, wenn diese für folgende Gerichtsverfahren herangezogen werden können. Dies sollten die Gesundheitsberufe, die in Erstanlaufstellen für Gewaltopfer tätig sind, bedenken. Aus diesem Grund ist im Rahmen des Projektes „MedPol“ (Medizin–Polizei) ein standardisierter, gerichtstauglicher Dokumentationsbogen von Experten der Gerichtsmedizin, der Österreichischen Ärztekammer, des Opferschutzes und des Bundesministeriums für Inneres erstellt worden. Diese Checkliste erleichtert die Beweisführung (auch in späteren Strafverfahren) und soll daher österreichweit von den Gesundheitsberufen, den Mitarbeiter*innen der Opferschutzeinrichtungen und der Polizei genutzt werden.
Der Bogen kann z.B. auf der Website der Österreichischen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin downgeloadet werden: https://oeggm.com (Rubrik „Service“ – Unterkategorie „Gewaltopfer – Verletzungsdokumentation“).
Aggression und Gewalt gegenüber Gesundheitspersonal
Um einen Eindruck von der Gewalt gegenüber Gesundheitsberufen zu bekommen, kann die Statistik der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA in Bezug auf Arbeitsunfälle herangezogen werden. Im Beurteilungszeitraum 2013–2017 ging die Ursache eines Arbeitsunfalles bei Gesundheitsberufen in 8,8 % auf eine Gewalt zurück (3.125 bei gesamt 35.523). Die 3.125 Unfälle bei Gesundheitsberufen mit Gewaltkonnex verteilen sich auf das unterschiedliche Gesundheitspersonal wie folgt:
- 65,2 % Pflegepersonen, Hebammen
- 14,7 % Gesundheits- / Betreuungsberufe, die zu Hause bzw. in einer Familie tätig sind
- 5,5 % Tierärzte, veterinärmed. Fach- und Hilfspersonen
- 5,1 % Rettungsdienstpersonal (Sanitäter)
- 2,1 % Ärzte
- 7,4 % Sonstige
Im Zeitraum Juli bis September 2019 gab es im Wiener Gesundheitsverbund (vormals: Wiener Krankenanstaltenverbund) eine Mitarbeiter*innen-Befragung. Von ca. 30.000 Personen nahmen 7.260 an der Befragung teil und bezogen zu ihren persönlichen Erfahrungen mit Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz Stellung. Ein Blick auf die konkreten Zahlen zeigt: 85,4 % der Befragten geben an, im Laufe ihres Berufslebens Aggressionserfahrungen gemacht zu haben; 61,6 % von ihnen in den letzten 12 Monaten. Dabei wurden sie zum überwiegenden Teil verbal attackiert. Der Bogen spannt sich hier sehr weit auf: Verbale Aggression kann von der Beschimpfung bis hin zur sexuellen Belästigung gehen.
Die Bandbreite an Aggressions- und Gewalterfahrungen, die das Gesundheitspersonal im Berufsalltag mitunter erlebt, ist groß. Einblicke werden durch die in Anhang dargestellten Fallgeschichten gegeben. Da alle Gesundheitsberufe gleichermaßen mit dem Thema Aggression und Gewalt konfrontiert sind, gehört es zur allgemeinen Sorgfalt, sich im Rahmen der Aus- und Fortbildung auch mit diesen Themen zu beschäftigen:
- Gefahren und Risikoquellen erkennen, richtig einschätzen
- Gewaltprävention, Umgebungsgestaltung
- Professionelles Kommunizieren / Deeskalieren in der Krise
- Beachten des Selbstschutzes
- Professionelles Abwehren von Angriffen
- Grundkenntnisse zum Recht (Befugnisse, Rechte und Pflichten, Schutzmaßnahmen)
- Ethische Reflexion
Notwehr / Nothilfe
Wird ein Gesundheitspersonal von einer/m Patient*in angegriffen, so ist die (professionelle) Abwehr des Angriffs erlaubt. Wird im Zuge dessen ein/e Patient*in z.B. verletzt, in der Freiheit beschränkt der eine Sache beschädigt, so ist das Gesundheitspersonal strafrechtlich nicht zu belangen, wenn die Regelung zur Notwehr / Nothilfe eingehalten wurde. Nach dem Strafrecht handelt nicht rechtswidrig, wer sich nur der Verteidigung bedient, die notwendig ist, um einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff auf
- Leben,
- Gesundheit,
- körperliche Unversehrtheit,
- sexuelle Integrität und Selbstbestimmung,
- Freiheit oder
- Vermögen
von sich oder einem anderen abzuwehren.
Da Notwehr „Abwehr“ bedeutet, muss sich die Notwehrhandlung auf die notwendige Verteidigung beschränken. Dieses „notwendig“ ist im Sinne von „unbedingt erforderlich“ zu lesen. Nach ständiger Judikatur ist stets nur jene Verteidigung notwendig, die unter den verfügbaren Mitteln das schonendste darstellt, um einen gegenwärtigen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff sofort und endgültig abzuwenden. Dabei sind Art und Intensität, des Angriffs, die Gefährlichkeit des/der Angreifer*in und die zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mittel zu berücksichtigen. Auch die körperliche Unterlegenheit des/der Angegriffenen ist ein entscheidendes Kriterium. Vom Opfer wird aber keine subtile Abwägung bei der Dosierung seiner Verteidigungshandlung verlangt werden können. Vielfach wird der/die Angegriffene in Sekundenschnelle zum Handeln genötigt sein, was eine detaillierte Berücksichtigung der Folgen seiner Verteidigung oder gar ein Abwägen verschiedener Verteidigungsmittel vielfach unmöglich macht. Ist man jedoch als Berufsgruppe des Öfteren in ähnlich gelagerten Notwehrsituationen, sollte man unterschiedliche (und zielführende) Abwehrhandlungen eintrainiert haben und stets das gelindeste Mittel wählen.
Strafrechtlicher Schutz des Gesundheitspersonals
Im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes 2019 wurden Strafdelikte eingeführt, welche die Gesundheitsberufe schützen sollen. Denn es wurde im Begutachtungsprozess zum Gesetz klar herausgestrichen, dass eine zunehmende Gewaltbereitschaft und Gewalt gegenüber im Gesundheits- und Sozialbereich tätigen Personen zu verzeichnen ist und man sich von einem neuen Straftatbestand erhoffe, diesen Entwicklungen entgegenwirken und die Gewalt eindämmen zu können. Die neuen Straftatbestände sind seit 1.1.2020 in Kraft.
Die Strafnorm (§ 91a StGB) lautet auszugsweise: Wer eine Person, die [Ziffer 2] in einem gesetzlich geregelten Gesundheitsberuf, für eine anerkannte Rettungsorganisation oder in der Verwaltung im Bereich eines solchen Berufs, insbesondere einer Krankenanstalt, tätig ist, während der Ausübung ihrer Tätigkeit tätlich angreift, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
Als „tätlicher Angriff“ ist jede vorsätzliche, unmittelbar gegen den Körper des Gesundheitspersonals oder den Hilfspersonen gerichtete Aggressionshandlung zu werten, die Schmerzen bereiten soll. Beispiele für tätliche Angriffe sind:
- Versetzen von Stößen
- Reißen an der Bekleidung (z.B. Stoff beschädigt, Knopf gelöst)
- Schlagen, Kratzen, Würgen
- Drücken gegen eine Mauer
- Hindern am Weggehen durch Verstellen der Tür
- Wurf einer Infusion, eines Desinfektionsmittelbehälters oder eines Sessels …
Eine tatsächliche Berührung des Körpers ist nicht erforderlich. Auch das Werfen von Gegenständen reicht aus, auch wenn das Gesundheitspersonal nicht vom Wurfgeschoss getroffen wurde. Die Tat ist mit dem Angriff vollendet. Ein strafbarer Versuch ist denkbar, wenn der Täter – z.B. durch Eingreifen eines Dritten – am Werfen gehindert wird.
Anspucken, Anschütten mit Wasser, wörtliche Beleidigung, Herunterschlagen einer Kopfbedeckung, Bewerfen mit Tomaten oder Ergreifen am Oberarm fällt mangels Zufügen von Schmerz nicht unter das
Strafdelikt (vgl. auch OGH 12 Os 37/10y bzw. 12 Os 62/10z). Gegebenenfalls kann das Strafdelikt der „Beleidigung“ (§ 115 StGB) erfüllt sein.
Als weitere Abgrenzung ist zu sagen, dass der tätliche Angriff mehr ist als eine bloße Beleidigung, aber weniger als eine Körperverletzung. Tritt eine Verletzung ein, so ist das Delikt der Körperverletzung erfüllt (§§ 83 ff. StGB). Der tätliche Angriff gilt dann als konsumiert (OGH 11 Os 81/11p).
Zudem wurde durch das Gewaltschutzgesetz die Strafnorm bezüglich der vorsätzlichen Körperverletzung bzw. Gesundheitsschädigung verschärft; und zwar dann, wenn als Opfer ein Gesundheitsberuf feststeht. Der sonst für den/die Täter*in geltende Rahmen für die Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen ist in diesen Fällen verdoppelt auf bis zu zwei Jahre.
Anzeige durch das Gesundheitspersonal?
Jede Person, die vom Schutzbereich einer Strafnorm erfasst ist, darf natürlich ein selbst erlebtes strafbares Verhalten bei den Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft) zur Anzeige bringen. Vor einer Anzeigeerstattung (z.B. bei einem tätlichen Angriff) sollte jedoch stets eine Reflexion stattfinden, ob man als Gesundheitspersonal nicht selbst ein abwehrendes (und ggf. auch tätliches) Verhalten bei der/beim Patient*in durch ein zu rasches oder wenig einfühlsames Verhalten provoziert hat. Dies entschuldigt zwar nicht den Angriff, kann ihn aber nachvollziehbar machen.
Die Anzeigeerstattung sollte ein Mitarbeiter stets mit Vorgesetzten abklären. Es darf daraus aber keine arbeitsrechtliche Sanktion resultieren. Bei den angeführten Delikten handelt es sich um Offizialdelikte. Die Ermittlungen sind von den Strafverfolgungsbehörden dann von Amts wegen zu führen.
BEISPIELE UND EMPFEHLUNGEN FINDEN SIE IN DER SONDERAUSGABE 2020
Literaturhinweis:
- Halmich, Gewaltschutzrecht für Gesundheitsberufe (2020) € 32, Link