„Gesundheitsverhalten wird schnell vergessen“

15. August 2020 | Christophs Pflege-Café, Covid19 | 0 Kommentare

Es gibt viel Wirbel um die Corona-Pandemie, die das Leben aller Menschen einschneidend verändert hat. Dass es Epi-und Pandemien in der Vergangenheit häufig gegeben und die Menschen der jeweiligen Zeit herausgefordert hat, dies zeigen die Medizin-Historiker Heiner Fangerau und Alfons Labisch in dem Buch „Pest und Corona“. Christoph Müller hat das Gespräch mit Heiner Fangerau gesucht, der an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf forscht.

Christoph Müller Mit dem Buch „Pest und Corona“ versachlichen Sie die aktuellen Diskurse um die Corona-Pandemie. Diese Einsicht gewinnt jede Leserin und jeder Leser. Wie nötig ist es, beim Nachdenken und Sprechen über die Corona-Pandemie mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben?

Heiner Fangerau Seit Beginn der Pandemie herrscht große Unsicherheit auf vielen Ebenen. Die Natur des Virus ist zwar bekannt und gut erforscht, aber seine Wirkung auf den Menschen war und ist immer noch mit einigen Rätseln behaftet. Das zeigen die Auseinandersetzungen, die Expert/-innen um seine Ausbreitung, Schädlichkeit und die richtigen gesundheitspolitischen Maßnahmen seit Anfang des Jahres führen. Diese Unsicherheit führt dazu, dass Legenden sprießen und oft eher Emotionen die Debatte zu bestimmen scheinen. Es ist sowohl verständlich als auch in Ordnung, wenn Angst und Sorge geäußert werden, aber am Ende ist es meines Erachtens wichtig, dass in jedem Fall Tatsachen und Verstand entscheidungsleitend sind.

Christoph Müller Eindrucksvoll beschreiben Sie „skandalisierte Krankheiten“. Am Beispiel des HIV-Virus zeigen Sie auf, inwieweit dies auch zur Stigmatisierung von Menschen beigetragen hat. Wie kann aus der Sicht des Medizin-Historikers und des Medizin-Ethikers dies verhindert werden?

Heiner Fangerau Das mag nun altmodisch klingen, aber Aufklärung und Sensibilisierung für den/die jeweils anderen halte ich für die Schlüssel, Stigmatisierung zu begegnen. Denen, die stigmatisieren, muss verdeutlicht werden, dass sie andere Menschen herabsetzen, was wiederum gegen viele Normen menschlichen Zusammenlebens verstößt. Respekt, Achtung und Wertschätzung im Umgang mit Erkrankten würde jeder Mensch für sich selbst einfordern, also ist sie auch allen anderen zu gewähren.

Christoph Müller Im Zusammenhang mit den „skandalisierten Krankheiten“ erwähnen Sie den Graben zwischen den Wissenschaftslogiken und den Inszenierungslogiken. Derzeit sprechen wir schon über eine zweite und dritte Welle der Corona-Pandemie. Wird dieser Graben breiter werden? Welche Gegenmaßnahmen können aus Ihrer Sicht ergriffen werden, um die Kluft kleiner werden zu lassen?

Heiner Fangerau Ich glaube, dass je länger die Pandemie anhält, die wissenschaftliche Logik die Oberhand gewinnen wird. Wir, das heißt unsere Gesellschaften, werden uns einrichten, mit dem Coronavirus zu leben so wie wir mit vielen anderen Krankheiten zu leben gelernt haben, obwohl sie nur schwierig oder gar nicht kurativ behandelt werden können. Die Inszenierung, die „Outbreak Szenarien“, die Orientierung an kollektiv erinnerten Bildern vom Massensterben werden in dem Maße zurückgehen, in dem sich der Umgang mit der Seuche normalisiert bzw. in dem wir uns mit dem Virus und den von ihm ausgehenden Gefahren einrichten werden.

Christoph Müller Mit dem Blick auf das Mittelalter, aber auch viele Kriege in der Vergangenheit ist uns die Möglichkeit von Epi-und Pandemien durchaus bewusst gewesen. Irgendwie haben wir in dem Glauben gelebt, dies würde uns nie betreffen. Nachdem uns die Corona-Pandemie mit Wucht getroffen hat, bleibt die Frage: Wie sehr müssen wir in Gegenwart und Zukunft mit dem Dasein von Gefahren rechnen?

Heiner Fangerau Leider deuten die epidemiologischen und virologischen Prognosen darauf hin, dass uns das aktuelle Pandemie-Geschehen in Zukunft immer wieder treffen wird. Verschiedene Faktoren vom Zusammenleben der Menschen auf engem Raum über Umweltverschmutzung und vor allem auch Formen der Tierhaltung bis hin zu klimatischen Veränderungen begünstigen derzeit das Auftreten neuer Viruserkrankungen. Viele der schlimmsten Erreger sind so genannte Zoonosen. Dies heißt, dass sie von Tieren auf den Menschen übergehen. Diese Form von Übergang wird durch die aktuellen Arten zu wirtschaften nahezu weltweit begünstigt.

Christoph Müller Krankheiten jedweder Art sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten als individuelle Erfahrungen und Schicksale bewusst gewesen. Dass Erkrankungen kollektiv auftreten können und ein öffentliches Phänomen sind, ist uns durch die Corona-Pandemie bewusst geworden. Was müssen wir auch in der Bildung, der öffentlichen Gesundheitsförderung und der Erziehung leisten?

Heiner Fangerau Leider erinnert uns die Pandemie daran, dass etliches an Gesundheitsverhalten, das schon Kinder lernen sollten, auch schnell wieder vergessen wird. Husten- und Nies-Etikette, Händewaschen, Lüften, nicht auf den Boden spucken – das sind alles Dinge, die sehr banal und nicht besonders inspiriert daherkommen. Aber es sind alles Grundregeln, die über die letzten 200 Jahre sehr erfolgreich eingeführt und eingeübt wurden, um die Ausbreitung verschiedener ansteckender Krankheiten zu verhindern. Manche dieser Maßnahmen werden gerne vergessen. Händewaschen gilt als uncool und Fußballer machen im Fernsehen vor, wie man in großem Bogen auf den Boden spuckt. Es scheint so, als müssen wir mit dem Einüben einiger Hygiene-Regeln wieder ganz von vorne anfangen.

Christoph Müller An einigen Stellen stellen Sie fest, dass die Ausbreitung der Corona-Pandemie natürlich auch mit der zunehmenden Mobilität der Menschen in Verbindung zu sehen ist. Inwieweit sind wir aufgefordert, unsere Lebensweisen anzupassen?

Heiner Fangerau Da kann man in meinen Augen wenig fordern. Kein Mensch lässt sich gerne von anderen erziehen – hier gibt es natürlich auch einen Bezug zur vorigen Frage. Aber ein Appell an Eigenverantwortung könnte schon hilfreich sein. Es ist am Ende so einfach: Wenn man krank ist oder sich krank fühlt, sollte man zum Schutz aller nicht ins Büro oder sonst wo zur Arbeit gehen. Natürlich sind hier auch Arbeitgeber/-innen gefordert, eine entsprechende Haltung und Unternehmenskultur zu pflegen. Wenn man krank ist oder sich krank fühlt, sollte man zum Schutz aller dann aber auch nicht in ein Flugzeug steigen, um zu verreisen. Kurzum: Man sollte auf sich selbst und andere achten. Nicht nur zu Hause, sondern gerade auch beim Reisen.

Christoph Müller Zum Abschluss will ich Ihnen eine persönliche Frage stellen: Was hat die Corona-Pandemie für Sie verändert? Wie sehr haben Sie den eigenen Lebensstil verändert?

Heiner Fangerau Im ersten Moment wirkte die Pandemie ein bisschen entschleunigend, fast lähmend. Ich konnte einige Kongressreisen nicht machen und Archive, die ich für meine Arbeit besuchen wollte, waren geschlossen. Auf die Entschleunigung folgte eine ungeheure Beschleunigung. Der Email-Verkehr hat zugenommen, eine Videokonferenz folgt auf die andere. An der Universität haben wir fast den gesamten Unterricht neugestalten und auf Online-Lehre umstellen müssen. Dies ist in einem Fach, in dem es um Reflexion und Diskussion geht, nicht schön. Für die Wissenschaft allgemein könnte die Pandemie die Folge haben, das weniger gereist und öfter auf Online-Meetings zurückgegriffen werden wird. Das hat nicht nur Nachteile. Für die Umwelt ist es evtl. sogar besser, aber persönliche Begegnungen mit ihren Besonderheiten werden fehlen. Kurzum, bei mir persönlich hat die Pandemie dazu geführt, dass ich wie so viele andere weniger unterwegs bin, dafür aber mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringe. Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt, aber ich kann mich damit arrangieren.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank für den lebhaften Austausch.

 

Heiner Fangerau / Alfons Labisch: Pest und Corona – Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, ISBN 978-3-451-38879-8, 18 Euro.

 

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at