„Gesellschaftsgeschichte auch als Pflege-Geschichte schreiben“

1. Februar 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Mit nachdenklichen Stunden hat die Woche begonnen. Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz von den Nationalsozialisten jährte sich zum 75. Mal. Politische Verantwortungsträger haben sich an den Orten des Grauens getroffen. An vielen Gedenkorten hat es Veranstaltungen gegeben, in deren Mittelpunkt die Erinnerungsarbeit gestanden hat. Die Radio-und Fernseh-Programme haben sich intensiv und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven den NS-Verbrechen genähert.

Das oberösterreichische Schloss Hartheim ist beispielsweise eine der sechs Tötungsanstalten im Euthanasie-Programm des Dritten Reichs gewesen. In psychiatrischen Anstalten und Behindertenheimen der damaligen Zeit mussten Menschen damit rechnen, dass ihr Leben durch die Machthaber beendet wurde. Ihr Leben war es nicht wert. Die braunen Diktatoren haben Menschen in brauchbar und unbrauchbar unterschieden.

Was hat dies mit uns als Pflegenden zu tun? Auch Pflegende sind an den menschenunwürdigen Aktionen der Nationalsozialisten beteiligt gewesen. Sie haben sich an den Transporten der sogenannten T 4-Aktion beteiligt. Sie waren wohl auch Täter bei den Tötungen kranker und behinderter Menschen. Sie waren Teil einer organisierten Tötungssystematik.

Es ist mehr als nötig, eigene Haltungen zu entwickeln, wenn jemand in einem pflegenden Beruf arbeitet. In Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Versorgungssettings erleben wir wie unter einem Brennglas, wie sich Gesellschaften von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr verändert. In unserem alltäglichen Handeln offenbaren wir, wessen Geistes Kind wir sind. In unserem alltäglichen Handeln zeigen wir, ob wir einem gesellschaftlichen Mainstream zu widersprechen wagen oder ob wir einfach mitmachen.

Die Nachdenklichkeit anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat wieder einmal zur Konsequenz gehabt, dass auch in pflegenden Berufen Erinnerungsarbeit geleistet werden muss. Aus der Erinnerung an schreckliche Ereignisse erwächst eine Sensibilität für die Arbeit in der Gegenwart. Es braucht historische Gedenktage, um der Geschäftigkeit und Flüchtigkeit des Alltags entfliehen zu können. Indem wir an historischen Tagen überlegen, ob sie auch für Pflegende von Bedeutung sind, nehmen wir die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft wahr.

Die Aufarbeitung von Geschichte macht es uns Pflegenden oft leicht, eine sichere Distanz zu halten. Geschichte wird gewöhnlich als Medizin-Geschichte geschrieben. Nur am Rande werden in dunklen Kapiteln Pflegende als Täterinnen und Täter erwähnt. Auch wenn es darum geht, geschichtliche Größen zu beschreiben, dann tauchen Pflegende nicht auf.

Dabei muss und bewusst sein, dass wir in der Gegenwart Geschichte schreiben. Als Pflegende sind wir pars pro toto. Wenn – in welchem Versorgungssetting auch immer – Paradigmenwechsel stattfinden, so haben wir als Pflegende ganz unmittelbar damit und mit den Auswirkungen zu tun. In meinen Augen ist es an der Zeit, Gesellschaftsgeschichte auch als Pflege-Geschichte zu schreiben. Wir sind nicht bloß ein Ausschnitt der Medizin-Geschichte, sondern tragen wie alle anderen Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Dies kann nur gelingen, wenn wir uns der Vergangenheit bewusst sind. Der Nachdenklichkeit müssen Taten folgen.

 

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at