In der pflegerischen Fachliteratur werden Essstörungen oft nicht thematisiert. Dabei tauchen sie in der Praxis wider Erwarten häufig auf. Psychiatrisch Pflegende reagieren mit einer gewissen Sprachlosigkeit und Orientierungslosigkeit, wenn sie nicht gerade in einer Einrichtung tätig sind, die sich auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert hat. Mit dem Buch … ist nun ein Buch erhältlich, das der Hilflosigkeit begegnet. Mit der deutschsprachigen Herausgeberin des übersetzten Werks, Pamela Otto, hat Christoph Müller den Kontakt gesucht.
Christoph Müller In der psychiatrischen Versorgung tun sich die professionellen Helfer mit Menschen schwer, die an einer Essstörung leiden. Haben Sie eine Idee, woran dies liegt?
Pamela Otto Oft mangelt es bei Helfenden an spezifischem Wissen bezüglich Essstörungen und deren Behandlung. Rückfälle, Rückschläge und Widerstände gehören zum Alltag in der Behandlung und müssen von Helfenden angenommen werden. Jedoch kommen Zweifel über die eigenen professionellen Fähigkeiten auf. Man fragt sich, was man anders machen könnte, um der betroffenen Person besser zu helfen. Manchmal sind Betroffene noch nicht bereit für eine Behandlung bzw. Therapie. Genau diese Ambivalenzen muss man als Helfender akzeptieren und aushalten können.
Darüber hinaus gehen Essstörungen häufig mit Persönlichkeitsstörungen einher, die besondere Fähigkeiten von Helfenden erfordern. Empathie, Mitgefühl und ein Verständnis dafür, dass die Betroffenen sehr krank sind, können Gegenübertragungen entgegenwirken, obwohl sie die menschliche und therapeutische Beziehung belasten. Stigmatisierung oder Stereotypen (ob bewusst oder unterbewusst) sollten an dieser Stelle erwähnt werden. Es hat wenig mit freiwilligem Handeln der Betroffenen zu tun. „Iss doch einfach“, hilft da auch nicht wirklich, weil es eben nicht so einfach ist. Nahrung verursacht Angst, Schuld, Ekel und Gewichtszunahme mit Körperbildverzerrungen. Essstörungen fordern viel von Betroffenen und Helfenden.
Christoph Müller Für Essstörungen haben wir ganz unterschiedliche Erklärungsmodelle. Eines der Erklärungsmodelle geht hinlänglich von Familienstrukturen aus, die eine Essstörung begünstigen. Das Buch räumt mit diesem Schubladendenken etwas auf. Wie kommt es zu diesem Paradigmenwechsel?
Pamela Otto Essstörungen sind komplexe Erkrankungen mit sehr unterschiedlichen Ursachen. Es lässt sich nicht eindeutig erklären, inwieweit Familien- oder Umfeldstrukturen das Entstehen begünstigen. Jedoch lässt sich sagen, dass die Entstehung auf ein Zusammenspiel verschiedener Auslöser hinweist. Die Forschung hilft, die Ursachen weiter zu untersuchen. Eine genetische Veranlagung, persönliche Charakteristika, Alter, Multimediagebrauch, Gruppeneinflüsse und andere Umfeldfaktoren wirken beeinflussend auf die Entstehung. Es muss eingeräumt werden, dass eben nicht alle Personen, bei denen diese Ursachen bestehen, eine Essstörung entwickeln.
Ein einfaches Beispiel: Viele junge Mädchen mit ähnlichen Familienstrukturen machen eine Diät, weil Freundinnen es auch tun und weil sie eine Sommerfigur haben wollen. Nicht jede entwickelt eine Anorexie, einige wenige aber dann doch. Ursache? Familie oder ein Zusammenspiel von mehreren Ursachen? Ein Paradigmenwechsel hilft, von einer Schuldzuweisung abzukehren und Familie als unterstützende Rolle in der Behandlung anzuerkennen. Familienangehörige und Betroffenen erlernen Anpassungsmechanismen, um die Essstörung auch im häuslichen Umfeld zu therapieren. Familienbasierte Therapie ist eine gute Methode, besonders Jugendliche im häuslichen Umfeld zu behandeln. Es erlaubt, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht in der Familie vorzubeugen.
Christoph Müller In der Gegenwart scheint ein gewisser Körperkult en vogue zu sein. Haben Essstörungen etwas mit einer Life-Style-Entscheidung zu tun?
Pamela Otto Ja schon, zum Teil. Die Bulimie wurde 1903 von Pierre Janet, so wie wir sie heute kennen, beschrieben. Fasten, viel essen (binge) und Erbrechen (purge) zur Regulierung des Körpergewichts und Angstvermeidung bezüglich Gewichtszunahme. Die Anorexie hingegen ist länger bekannt. Im 17 Jahrhundert beschrieb Richard Morton zwei Kinder mit Appetitverlust und Abmagerung und erklärt es als nervösen Verzehr. Und dann beinah zeitglich berichten Sir William Gull, ein englischer Arzt, und Ernest Charles Lasegue, ein französischer Arzt, 1873 von Personen mit einer hysterischen Anorexie.
Zu jener Zeit war der Körperkult ganz anders als heute. Sicherlich unterstützen Fotoshop und andere Foto-Gestaltungssoftware ein verzerrtes Bild von der Realität der Körper. Besonders die Anorexie hat nichts mehr mit Schlanksein zu tun. Dies sind unterernährte und ausgehungerte Körper von medizinisch instabilen Personen. Schlanke Körper werden mit viel Disziplin, Ausdauer und Verzicht assoziiert. Werte, die in leistungsorientieren Gesellschaft viel Zuspruch finden, führen eben auch zu sehr viel Körperunzufriedenheit. Und wie schon gesagt, es kommen sehr viele Ursachen zusammen, dass Menschen eine Essstörung entwickeln, obgleich wir alle in der westlichen Welt mit demselben Körperkult konfrontiert sind.
Christoph Müller Im Zusammenhang mit Essstörungen wird in dem Buch auch über Recovery geschrieben. Recovery bedeutet ja unter anderem das Wiederentdecken der eigenen Lebensgeschichte. Wie kann dies einem Menschen gelingen, der jeden Halt verloren zu haben scheint?
Pamela Otto Essstörungen sind von vielen Rückfällen und Rückschlägen geprägt, aber es ist eben auch möglich symptomfrei zu leben. Recovery kann als komplett oder teilweise verstanden werden. Manchmal braucht es mehrere teilweise Genesungen, d. h. Zeiten, in denen Verhaltensweisen aufgegeben werden und an anderen festgehalten wird. Dies führt oft zu Rückfällen, gehört aber zum Krankheitsbild.
Eine komplette Recovery ist Ziel einer jeden Behandlung von Essstörungen, aber wird nicht immer bei der ersten Behandlung oder Therapie erreicht. Besonders bei schweren psychiatrischen Erkrankungen, wie den Essstörungen, ist es wichtig, die Hoffnung nicht zu verlieren, sowohl bei Helfenden als auch bei Betroffenen. Bei Recovery geht es um einen Prozess, der jederzeit möglich ist. Es geht hier nicht darum, als geheilt zu gelten, sondern einfach in der Lage zu sein, die Essstörung und deren Symptome soweit zu kontrollieren und ein Leben mit relativ „normalen“ Essverhalten zu führen.
Nahrung als etwas „Normales“ zu erleben, gehört zum Leben und eben auch die Gewichtsschwankungen. Gedanken an ein Leben nach einer Essstörung verursachen Angst, weil die Betroffenen oft einfach nicht mehr wissen, wie „normales“ Essen geht. Sie haben es im Laufe der Zeit verlernt und erlernen in der Therapie, mit diesem Stress umzugehen und Neues auszuprobieren. Personen in Recovery agieren als Beweis, dass Genesung möglich ist. Für viele Betroffene ist das eine große Motivation, denn oft, vor allen nach vielen Rückfällen, wird es schwer an Genesung zu glauben.
Helfenden wird vorgeworfen, die Essstörung nicht zu verstehen, weil sie keine Essstörung haben. Dennoch erlaubt ein empathischer Ansatz, dass man sich in die Lage von Betroffenen versetzen kann. Man muss nicht alles selbst erfahren haben, um es zu verstehen. Aber die Erfahrungen anderer Betroffenen, also Experten ist notwendig, da sie ihre Erfahrungen teilen, ihre Fehler, Auslöser für Rückfälle und wichtige Aspekte, die die Genesung möglich machten. Genesung ist ein Weg, auf dem es Hürden zu überwinden gilt. Nur anhand von Herausforderungen wächst eine Person. Denn oft sind es viele kleine Elemente, die am Ende dazu führen, dass eine betroffene Person den Genesungsprozess beginnt und mit Unterbrechungen fortführt.
Christoph Müller Das Buch beschreibt die Möglichkeit, dass soziale Medien auch Grund für eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sein können. Was haben Sie in der praktischen Arbeit erlebt?
Pamela Otto In den sozialen Medien werden gesunde Körper im Zusammenhang mit Schlankheit, Sportlichkeit und Fitness präsentiert. Bilder werden retuschiert, um diesem Ideal zu entsprechen. Leider nutzen Betroffene soziale Medien, besonders Internetseiten, die Ratschläge geben, wie am besten Gewicht verloren wird, welche Tricks angewendet werden und zum Ansporn und Vergleich. Mit anderen Worten, es werden abgemagerte Körper verglichen und dann als Zielvorgabe genutzt. Also wenn jemand mit 45 Kilogramm Körpergewicht ein Bild von einer anderen Person mit 38 Kilogramm Körpergewicht sieht, dient das als Ansporn, dieses Gewicht auch zu erreichen, indem eben noch weniger Nahrung zu sich genommen wird. Soziale Medien können immer Grund für eine Unzufriedenheit sein, führen aber dann eben nicht immer zu Essstörungen. Für Betroffene sollte der Umgang mit sozialen Medien im Behandlungsteam besprochen werden. Bilder auf Facebook vor einer Behandlung und danach können zu Kommentaren führen, die zu einem Rückfall beitragen können. Das gesunde Körpergewicht heißt eben nicht immer auch gleich, zufrieden mit dem eigenen Körper zu sein.
Christoph Müller Wer in der psychiatrischen Versorgung arbeitet, der muss immer auch für sich selbst sorgen. Was ist die eigentliche Aufgabe für professionell Tätige, um bei der Arbeit mit essgestörten Menschen ein Coolout zu vermeiden?
Pamela Otto Viel Reden und ein gutes Arbeitsteam bilden! Leider ist es nicht so einfach, aber ich habe das große Glück, in einem richtig guten Team zu arbeiten, indem wir uns vertrauen und respektieren, um diese berufliche Herausforderung zu meistern. Es muss Raum geschaffen sein, auch negative Gedanken vertraulich zu diskutieren, ohne sich zu verurteilen. Der Anblick der besonders abgemagerten Körper kann manchmal verstörend sein. Darüber muss im Team respektvoll besprochen werden, Gefühle ausdrücken und Gleichgültigkeit vorbeugen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Patient_innen sehr krank sind. Da muss man sich oft wieder ins Gedächtnis rufen, wirklich gut die Erkrankung kennen und sich Wissen darüber aneignen. Patient_innen treffen Entscheidungen, die nicht immer die Zustimmung von professionell Tätige findet. Das muss man aushalten und annehmen können, vor allem wenn sich gegen eine Behandlung entschieden wird.
Es geht nicht darum, an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln, weil man oft wirklich alles gibt und trotzdem nicht das gewünschte Ergebnis bei Patient_innen erreicht. Dann gibt es diese Momente, wo die Behandlung direkt manipuliert, boykottiert und sabotiert wird. An der Stelle muss ein kühler Kopf bewahrt werden, ohne gleichgültig zu sein, und nicht sofort reagieren, sondern in Ruhe reflektieren und dann entscheiden. Sicherlich können organisatorische Konfigurationen von Gesundheitsorganisationen zum Gleichgültigwerden führen und dann nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ arbeiten.
In einem guten Team wird das schnell bemerkt und entgegengesteuert. Und ich finde ja, Meditation besonders die Achtsamkeitspraxis nach Jon Kabat-Zinn (MBSR) und körperliche Bewegung sehr sinnvoll, um einer moralischen Desensibilisierung vorzubeugen. Also nach Hause kommen, nicht auf die Couch fallen, sondern für 20 bis 30 Minuten eine Form von Sport betreiben. Und dann ist es auch wichtig, die Arbeit wirklich vom Privaten zu trennen, auch wenn es schwerfällt. Und ja, in meiner Abteilung essen wir viel gemeinsam (unter Einhaltung von Hygieneregeln!). Es scheint eine Form gegen den Coolout, weil es das Gemeinschaftsgefühl stärkt und Unterstützung bietet.
Christoph Müller Was macht für Sie persönlich den Reiz aus, mit essgestörten Menschen zu arbeiten?
Pamela Otto Essstörungen sind eine Herausforderung für Betroffene und die Behandelten. Ich mag die Herausforderung, weil dieses Krankheitsbild psychiatrische und körperliche Elemente vereint. Eine stark untergewichtige Person wieder zu ernähren und zugleich vor schweren medizinischen Komplikationen wie dem Refeeding-Syndrom zu schützen, ist eine Aufgabe, die viel evidenz-basiertes Wissen und Erfahrung braucht. Ich kann mein Wissen aus der Psychiatrie, Psychologie und der Pflegewissenschaft hier sehr gut kombinieren. Und ich finde es spannend, zu dem recht kleinen internationalen Kreis von Personen zu gehören, die Erfahrung mit der Behandlung von essgestörten Personen haben und dieses Wissen teilen.
Das Buch, um das es geht, „Menschen mit Essstörungen pflegen“ im Original von Morrissey und Oberlin, bei dem ich die deutsche Herausgeberschaft übernehmen durfte, liefert Einblicke in theoretischer Erklärungsmodelle, beschreibt Essstörungen aus der Sicht von Betroffenen, diskutiert verschiedene Behandlungsansätze und zeigt Sichtweisen von Angehörigen auf. Zielgruppe sind unterschiedliche Personen, die mit Essstörungen und deren Behandlung konfrontiert sind. Mit klarer Sprache, Fallbeispielen und evidenz-basiertem Wissen vereint es, was über Essstörungen umfassend zu wissen notwendig ist. Betroffene und Angehörige leiden unter Essstörungen und dieses Buch bietet Hilfe, die Krankheit besser zu verstehen sowie Stigmatisierung und Vorurteilen entgegenzuwirken.
Christoph Müller Herzlichen Dank für die neuen Einsichten.
Das Buch, um das es geht