Gehorsam und Konformität führen zu einem vordergründigen Zugehörigkeitsgefühl

20. Januar 2021 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Das Buch „Sektenkinder – Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg“ fasst Studienergebnisse zusammen. Es begleitet Sektenkinder dabei chronologisch von der frühen Kindheit, über die Erfahrungen in den Gruppierungen, die Jugendzeit, erste Zweifel, dem Ausstieg oder Ausschluss, der Zeit danach und der weiteren Lebensgestaltung. Ziel war und ist es, Sektenkindern eine Stimme zu geben, da sie in unserer Gesellschaft oft unter den Radar des öffentlichen Interesses fallen. Die Autor*innen wünschen sich, dass das Buch vor allem Betroffenen dabei hilft zu verstehen, dass sie mit ihren Gefühlen und Gedanken nicht allein sind. Auch soll es dazu beitragen, helfenden Professionen einen Einblick in die Gefühlswelt und die Bedürfnisse von Betroffenen zu geben. Mit Kathrin Kaufmann und Laura Illig hat Christoph Müller gesprochen.

Christoph Müller Das Buch „Sektenkinder“ ist ein beeindruckendes Zeugnis dafür, dass Menschen sich von einem Vermächtnis des Lebens befreien können. Was ist der Impuls gewesen, die Forschungen zum Phänomen der Sektenkinder gewesen und es schließlich als Buch zu veröffentlichen?

Kathrin Kaufmann

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Im Zuge unseres Masterstudiums der klinisch-therapeutischen Sozialen Arbeit standen wir vor der Aufgabe, ein eigenständiges Forschungsprojekt durchzuführen. Es war uns ein Anliegen, einen Bereich der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen, der bisher noch wenig beleuchtet worden war. Im Zuge unserer Recherchen stießen wir auf das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit im weltanschaulichen Kontext. Diesbezüglich bildete sich ab, dass es innerhalb Deutschlands neben generellen Beratungsstellen zu Glaubens- und Lebensfragen auch Beratungsstellen für Aussteiger*innen aus destruktiven Gruppierungen gibt. In uns stieg die Frage auf, ob und inwiefern Menschen, die in eine destruktive Gruppierung hineingeboren sind, im Vergleich zu anderen Aussteiger*innen einen besonderen Hilfebedarf aufweisen. Im Rahmen unserer Literaturrecherchen wurde deutlich, dass es zum Thema ‚Aufwachsen in destruktiven Gruppierungen‘ im deutschsprachigen Raum bis dato nur sehr wenige, bis keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gab. So konzipierten wir im Zuge unseres Forschungsprojektes eine Grundlagenstudie und befragten in einer Interviewstudie 19 erwachsene und ausgestiegene oder ausgeschlossene Sektenkinder aus insgesamt neun unterschiedlichen Gruppierungen zu ihren ganz persönlichen Erfahrungen in Kindheit, Jugend und der Zeit nach ihrem Ausstieg oder Ausschluss.

Christoph Müller Im Buch wird über gravierende Beschränkungen, Belastungen und Traumatisierungen geschrieben. Was geschieht da konkret?

Laura Illig

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Eine spannende und sehr vielschichtige Frage. Zunächst kristallisierte sich in unserer Studie heraus, dass es nicht entscheidend ist, in welcher Gruppierung die Befragten aufwuchsen. Vielmehr geht es um die übergreifenden Strukturen, die sich ungeachtet der inhaltlichen Glaubenssätze sehr ähnelten. Wir sprechen hier zum Beispiel von der Isolation von der Außenwelt, der Indoktrination von Glaubenssätzen wie „die Welt ist böse“, „Menschen außerhalb der Gruppe wollen dir nur schaden“, „ich muss Gott oder dem Guru dienen, um im nahenden Weltuntergang zu überleben“. Im Zuge dessen schraffierten sich Beschränkungen wie Kontaktverbote zu Außenstehenden, Nicht-Teilnahme an Geburtstagen, Weihnachtsfeiern, Klassenfahrten und ähnliches heraus. Die Sektenkinder erlebten also zu einem Großteil eine ständige Ausgrenzung und Isolation gegenüber gleichaltrigen Mitschüler*innen und generell andersgläubigen Menschen. Viele wurden in der Schule von Mitschüler*innen aufgrund ihres Verhaltens oder Kleidung ausgelacht; einige berichteten von Mobbingerfahrungen. Als belastend oder traumatisierend würden wir vor allem die „unsichtbare Gewalt“ in Form von psychischer Gewalt gegenüber den Sektenkindern beschreiben. Insbesondere der von den Studienteilnehmer*innen beschriebene Eingriff der destruktiven Gruppierungen in die Erziehung der Kinder und die daraus resultierenden unterkühlten Eltern-Kind-Beziehungen, in denen unter anderem Bedürfnisse nach Nähe, Zuneigung, Wertschätzung und Sicherheit unerfüllt blieben, sind als erhebliche Bindungstraumata zu werten. Ferner sind an dieser Stelle die von Kindesbeinen an existenzielle Bedrohung durch einen nahenden Weltuntergang, die geschürten (Todes-)Ängste bei Verstoß gegen die Gruppenregeln, die Sanktionen wie die öffentliche Bloßstellung vor der Gruppe bis hin zum Ausschluss aus der Gruppierung durch das sogenannte „shunning“ (Ächtung) zu nennen. Diese „unsichtbaren Gewalterfahrungen“ sind unseres Erachtens nicht weniger gravierend als die physische Gewalt, welche die meisten der Interviewten ebenso erfahren mussten.

Christoph Müller Die Glaubensgemeinschaft wird als „wichtigste Instanz“ beschrieben. Nach einem Ausstieg aus der Bindungskraft einer religiösen Gemeinschaft folgt bekanntlich eine Leere. Wie kann die Leere gefüllt werden?

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Das ist eine Frage, die unserer Ansicht nach jede und jeder individuell beantworten muss. Fest steht für uns, dass die meisten Sektenkinder nach ihrem Ausstieg oder Austritt auf Hilfe angewiesen sind. Es geht sowohl um Fragen der beruflichen Identität, die bisher in vielen Gruppierungen einfach vorgeschrieben wurde, als auch um die individuelle Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, die aufgrund der strengen und determinierten Glaubensansichten nicht oder nur bedingt erfolgen konnte. Eine Gefahr besteht aus unserer Sicht darin, dass sich Sektenkinder, wenn sie nach Verlassen der Gruppierung auf sich allein gestellt sind und keine Hilfsangebote finden oder wahrnehmen, erneut in eine sektiererische Gruppierung oder in abhängige Beziehungsstrukturen mit Partner*innen begeben. Wir wünschen uns, dass unsere Studie und unser Buch Sozialarbeiter*innen und Psychotherapeut*innen anspornt, die Thematik für sich näher zu betrachten, um ausgestiegenen Sektenkindern mittels präziser und guter Beratungs – und Psychotherapieangebote unterstützen zu können.

Christoph Müller Junge Menschen tragen Sehnsüchte in sich, die manchmal ganz widersprüchlich erscheinen. Diese Widersprüchlichkeit hat aufgrund eines klaren Weltbildes in einer neureligiösen Gruppierung nicht seinen Ort. Wie gehen junge Menschen in der Gemeinschaft damit um, dass die Sehnsüchte unbeantwortet bleiben? Was geschieht nach dem Ausstieg?

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Junge Menschen in einer destruktiven Gruppierung beginnen, so unsere Studienergebnisse sowie Erfahrungen aus Gesprächen mit anderen Expert*innen im Feld der Weltanschauung, vor allem in der Pubertät, zu zweifeln. Also einer Zeit, in der entwicklungspsychologisch eine notwendige und wichtige Loslösung vom Elternhaus und eine Hinwendung zu Gleichaltrigen erfolgt. Auch hier kann keine pauschale Antwort auf den Umgang mit eigenen Sehnsüchten und den Widersprüchen zu dem klaren, strengen Weltbild einer neureligiösen Gruppierung gegeben werden. Unseres Erachtens stellt es besonders für Sektenkinder eine große Herausforderung und Leistung dar, eigene Sehnsüchte und Wünsche überhaupt wahrzunehmen und zu spüren. Sie werden ja von Beginn ihres Lebens an gelehrt, dass genau dies sündig ist. Schließlich soll immer die Gruppe und nie das Individuum an erster Stelle stehen. Dringen individuelle Sehnsüchte jedoch bis in die bewusste Wahrnehmung vor, können sie zu Zweifeln und zu einem „mis-fit“ mit den bisherigen Verhaltensweisen führen, welche die Gruppierung vorgibt. Viele junge Menschen wagen dann den Ausstieg aus der Gruppierung, und damit dem Ort, der für sie die einzige bisher gekannte Heimat darstellte. Andere stellen die eigenen Sehnsüchte zurück, fühlen sich vielleicht sogar „schlecht“ oder „sündig“, diese überhaupt wahrgenommen zu haben und leben weiterhin nach den Glaubensansichten der Gruppierung.

Viele Befragte berichteten uns davon, dass sie nach dem Ausstieg eine Zeit der Orientierungslosigkeit erlebten. Plötzlich sagte ihnen niemand mehr, was richtig oder falsch ist, welchen beruflichen oder privaten Weg sie einzuschlagen haben. Zwar beschrieben viele eine Überforderung, gleichzeitig aber auch eine Chance, sich auszuprobieren. Dinge nachzuholen, die ihnen bis dahin verwehrt wurden. Nicht vergessen werden darf dabei jedoch, dass die meisten ausgestiegenen Befragten von anhaltenden (Todes-)Ängsten, Schuldgefühlen, Wut und Einsamkeit und damit einer starken psychischen Belastung berichteten. Gerade hier müssen unseres Erachtens professionelle Hilfsangebote vonseiten der Sozialen Arbeit oder Psychotherapie etabliert werden.

Christoph Müller Neureligiöse Gemeinschaften bieten eine klare Orientierung im Alltag, solange sich jemand daranhält. Nach einem Ausstieg erwarten die jungen Menschen Verunsicherung und Haltlosigkeit. Was sind dann die Rettungsringe im Alltag?

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Das ist, so die Erfahrungen unserer Interviewten, vor allem der soziale Anschluss. Die Erfahrung, dass die „Weltmenschen“ nicht so böse und gefährlich sind wie seit jeher dargestellt, ist eine sehr wichtige. Freundschaften aufbauen, in Kontakt mit anderen Menschen treten, sich trauen, um Hilfe zu bitten. Viele der Interviewten hatten bereits vor ihrem Ausstieg Kontakte zur Außenwelt geknüpft. Auch die Vernetzung mit anderen Sektenkindern oder ehemaligen Sektenmitgliedern via Internetforen oder Aussteigertreffen wurde als besonders wichtig beschrieben.

Christoph Müller Was sind denn trotz des Benennens zahlreicher Kritikpunkte die positiven Seiten eines Lebens in einer neureligiösen Gemeinschaft? Wie können sich Aussteigerinnen und Aussteiger diese nützlichen Momente an einem anderen Ort holen?

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Unser Interviewleitfaden war offen und breitgefächert gestaltet. Das heißt, die Interviewten konnten uns frei von ihren Erfahrungen und Belastungen erzählen. Die Auswertung ergab, dass es aus Sicht der Interviewten wenig positive Seiten eines Lebens in einer destruktiven Gruppierung gab. Das kann natürlich von Mensch zu Mensch variieren und spiegelt nur die Eindrücke unserer Interviewten wider. Vereinzelt gaben die Betroffenen an, kein Problem damit zu haben, vor größeren Menschenmengen zu sprechen und aufzutreten.

Womöglich denken Außenstehende bei dieser Fragestellung an das durch destruktive Gruppierungen oftmals suggerierte ‚Gemeinschaftsgefühl‘. Hierzu lässt sich sagen, dass aus den Aussagen unserer Interviewten hervorgeht, dass das Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl innerhalb destruktiver Gruppen stets an die strikte Gruppenkonformität der Mitglieder geknüpft ist. Die Befragten gaben hierzu an, dass Gehorsam und Konformität zu einem vordergründigen Zugehörigkeitsgefühl führten, während Abweichungen und individuelle Interessen unteranderem durch den Entzug von Nähe bestraft wurden. Aufgrund dessen charakterisiert sich der zwischenmenschliche Kontakt innerhalb destruktiver Gruppen laut Aussagen der Studienteilnehmer*innen neben dem vordergründig suggerierten Zusammenhalt vor allem durch Druck, Angst, Misstrauen und Ohnmacht.

Ferner simplifizieren destruktive Gruppierungen das Weltgeschehen. Anstelle von Pluralität erleben ihre Mitglieder eine Reduktion der Wirklichkeit, was womöglich für manch einen auf den ersten Blick als eine Erleichterung erscheinen kann. Schließlich bieten sie innerhalb einer hochkomplexen Welt scheinbar simple Lösungen. Es entfällt somit ein Stück weit der ‚Entscheidungszwang‘, dem wir Menschen in der postmodernen Gesellschaft nun mal ausgesetzt sind.  Dies ist womöglich auch ein Punkt weshalb sich Menschen aus Überforderung einer solchen Gruppierung anschließen. Jedoch entfällt innerhalb dieser Gruppierungen neben dem ‚Entscheidungszwang‘ auch die gesamte ‚Entscheidungsmacht‘ und ‚Entscheidungsmöglichkeit‘. Individuen, die einer destruktiven Gruppierung angehören, müssen nicht nur keine Entscheidung treffen, sondern sie dürfen es nicht. Es wird ihnen verwehrt, denn alles ist ganz klar bereits irgendwo in einer der vielen Schriften definiert und vorgegeben. Sektenkinder, die in einer solchen Gruppe aufwachsen, wird von Beginn ihres Lebens der Umgang mit Pluralität, das eigenständige Treffen von Entscheidungen und somit das Aufwachsen in einer bunten, facettenreichen und entwicklungsfördernden Umwelt verwehrt, wodurch sie sich nach ihrem Ausstieg häufig als überfordert und in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt erleben.

Christoph Müller Das Leben in einer neureligiösen Gemeinschaft wird in dem Buch auch als schweres Erbe bezeichnet. Mit dem Blick zurück: Was bleibt als schwere Last im Rucksack des Lebens?

Kathrin Kaufmann / Laura Illig Oftmals berichteten die Sektenkinder von einem mangelnden Vertrauen in andere Menschen. Das hat sicherlich mit den Erfahrungen in der frühen Kindheit zu tun und damit, dass die Eltern oft nicht als vertrauenswürdige Bezugspersonen wahrgenommen wurden und die Gruppe einen starken Einfluss auf die Erziehung nahm. Das Leben als solches wird Sektenkinder unseres Erachtens als etwas Schweres und Gefährliches beigebracht. „Auf der Hut sein“, „Nach Gefahren Ausschau halten“ bis hin zur „drohenden Vernichtung im Weltuntergang“. All diese Glaubenssätze sitzen tief in der Psyche eines Sektenkindes. Und diese wahrzunehmen, zu bearbeiten und loszulassen, anderen Menschen Vertrauen zu schenken, aber vor allem sich selbst und den eigenen Gefühlen zu vertrauen und Raum zu geben ist mit Sicherheit ein schweres Erbe und eine Lebensaufgabe.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank für die Einsichten bei einem schwierigen Thema.

 

Das Buch, um das es geht

Kathrin Kaufmann / Laura Illig: Sektenkinder – Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppen und das Leben nach dem Ausstieg, Balance Medien Verlag, Köln 2020, ISBN 978-3-86739-182-5, 173 Seiten, 15 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at