Gefühle werden in einer modernen Gesellschaft häufig als Schwäche interpretiert. Rationales Verhalten gilt als professionell und seriös. Zudem will keine Person als schwach und damit auch angreifbar gelten. Im pflegerischen Handlungsfeld gestaltet es sich ähnlich: noch vor 25 Jahren wurden Gefühle wie Ekel abgelehnt. Pflegepersonen, die zugaben, sich zu ekeln, wurde eine Nichteignung für den Beruf attestiert. Dabei spielt auch die berufsgeschichtliche Tradition eine Rolle: „Gute Krankenpflege muss sich im Dienst in jedem Augenblick geistig und körperlich in der Gewalt haben […]“ (Alter, 1931, S.633f zitiert nach Bischoff, 1997, S.90). Dabei sollte gerade die bürgerliche Frau Pflege ausüben, da sie aufgrund der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden für pflegerische Tätigkeiten besonders geeignet war.
Der Begriff der Gefühlsarbeit [1] wird von professionellen Pflegepersonen im Zusammenhang mit dem Konzept des Carings und des Mit-Fühlens gebracht, nicht jedoch auf sich selber als Pflegeperson bezogen. Erstmalig hat Arlie Hochschild „Gefühlsarbeit“ beschrieben, als etwas, was helfen soll, die äußere Haltung zu wahren. (vgl. Bohn, 2015, S. 41). Für Pflegepersonen bedeutet dies, dass das Ziel der fürsorglichen Pflege und Wohlbefinden des zu Pflegenden zu erhalten, auch in belastenden Situationen gewährleistet werden muss.
Von Pflegenden wird erwartet auf hohem Niveau fachpraktische und emotionale Arbeit zu leisten und im Besonderen in belastenden Situationen die eigenen Gefühle zu regulieren. Denn Gefühle wie Ekel und Angst als angeborene, nicht verlernbare Emotionen (vgl. Pernlocher-Kügler, 2010, S.6) müssen in entsprechenden Situationen trotz allem unterdrückt werden, so dass das zentrale pflegerische Ziel, die Förderung des Wohlbefinden des zu Pflegenden, erreicht werden kann und dieser nicht beschämt wird. Pflegepersonen müssen also die eigenen Gefühle regulieren, insbesondere wenn sie authentisch handeln wollen (vgl. Bohn, 2015, S. 41). Dabei ist diese Gefühlsregulierung aber eine implizite unbewusste Fähigkeit, die im Laufe der beruflichen Tätigkeit entwickelt wird. Über eigene Ekel- oder Schamgefühle wird nicht gesprochen, es gilt noch immer als ein Tabu und wird als Schwäche ausgelegt. In Ausbildungssettings findet das Thema Gefühlsarbeit wenig Platz. Jedoch wurde in den letzten 25 Jahren begonnen, die von Pflegepersonen im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit empfundenen Gefühle zu beleuchten und auch Konsequenzen, wie z.B. ein Burnout-Syndrom oder moralischen Stress zu beschreiben (z.B. Kleinevers, Krey, Pernlocher-Kügler, Zettl,…). Trotzdem fällt Pflegepersonen die Wahrnehmung und Verbalisierung von eigenen Gefühlen schwer, wobei dies jedoch Grundlage einer erfolgreichen Gefühlsarbeit darstellt. (vgl. Bohn, 2015, S. 41). Bohn verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe Emotionsmanagement, Gefühlsmanagement und Gefühlsregulierung synonym.
Die wenig beachtete Leistung eines mehr oder weniger gelungenen Emotionsmanagements jeder einzelnen Pflegeperson, wird in vielen pflegerischen Alltagsituationen täglich geleistet, unter anderem wenn eigene Gefühle unterdrückt und umgewandelt werden, um ein neues Gefühl zu erzeugen, das dem Pflegebedürftigen gezeigt wird, z.B. in ekelerregenden Situationen (vgl. Bohn, 2015, S. 41 f). Ein „funktionierendes Gefühlsmanagement ist […] wichtig, damit die Pflegenden rechtzeitig Abstand zu belastenden Gefühlen bekommen. Denn erst durch die Regulierung der eigenen Gefühle sind sie in der Lage, ihre emotionale Balance besser aufrechtzuhalten und Gefühle des Ekels, des Mitleids oder der Scham abzuspalten“ (Rastetter, 2008; zitiert nach Bohn, 2015, S. 41 f). Die Bedeutung einer gelingenden Gefühlsarbeit wird deutlich, wenn die Folgen einer unzureichenden Gefühlsregulierung betrachtet werden: Gefühle informieren uns über unsere Bedürfnisse, z.B. weisen Ekelgefühle auf das Grundbedürfnis nach Schutz hin. Wird das Gefühl für längere Zeit übergangen, wird das Bedürfnis „frustriert“ und „Angst, Aggression und psychische und/oder körperliche Beschwerden sind Reaktionen darauf“ (Pernlocher- Kügler, 2010, S.16). Insoweit zielt professionelle Gefühlsarbeit auf ein Gefühlsmanagement: als professionelle Pflegeperson empfinde ich in der Arbeit mit den zu Pflegenden Gefühle, die ich situationsbedingt reguliere, mir aber der Gefühle bewusst bin. Eine andauernde Unterdrückung insbesondere von „negativen“ Gefühlen, wie Angst, Wut, Ekel oder Scham kann in einem Burn-out-Syndrom gipfeln (ebd.)
Im Sinne der Gesundheitsförderung ist es wichtig, bereits Lernende [2] zu Beginn Ihrer Auseinandersetzung mit pflegerischen und bezugswissenschaftlichen Inhalten im Rahmen von geplanten und organisierten Lernsituationen mit Gefühlsarbeit zu konfrontieren. So wird Ihnen die Chance gegeben in einem geschützten Rahmen, z.B. Schamkompetenz (vgl. Bohn, 2015, S.30) zu erwerben und ein für sich passendes Emotionsmanagement zu entwickeln. Dabei kann die Entwicklung einer „Gefühls-“ oder „Emotionskompetenz“ ein Element des pflegerischen Handelns und damit der Pflegekompetenz sein. Berufliche Handlungskompetenz als leitendes Ziel pflegerischer Berufsausbildungen wird in „situationsgerechte[r] Bewältigung beruflicher Herausforderungen“ (Kraske et al., 2016, S.191) greifbar. Dies beinhaltet auch die situative Regulierung eigener Gefühle in Pflegesituationen. Dazu ist ein gelungener Lerntransfer vorauszusetzen, der basierend auf individuellen Mustern einer/s jeden/r Lernenden zum Ziel hat, fachliche Grundlagen und Basiskompetenzen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu speichern und zu organisieren, um die betrieblichen Aufgabenstellungen von Planung bis Evaluation, lösen zu können. Das für praktisches Handeln bedeutsame Wissen wird laufend ergänzt durch die Auseinandersetzung mit der Theorie (Marschelke, 2014, S.95). Dies umfasst auch die Beschäftigung mit für Gefühlsarbeit und Emotionsmanagement wichtigen Konzepten und Modellen. Neue Informationen werden in individuelle Lernmuster integriert, die von Giesecke (2004, S. 56ff). als „angelernte, vorgeprägte Vorstellungen“ beschrieben werden, „mit denen wir neue Informationen und Erlebnisse […] verständlich machen und erklären“. Neues explizites, aber auch implizites Wissen wird an bereits vorhandenes explizites und implizites Wissen angeknüpft. Im Kontext mit einer Auseinandersetzung mit Gefühlen in pflegepraktischen Handlungssituationen werden Erfahrungen gemacht, die Giesecke (vgl. 2004, S. 57f) als ein Lernen, das die Muster verändert, beschreibt. Meistens ist es ausreichend, neue Informationen mit der eigenen individuellen Methode zu deuten, in die Lernmuster zu integrieren und nicht Interpretationsmuster zu modifizieren. Bildungsangebote aus Aus-, Fort- und Weiterbildung können hier ansetzen und vorhandene Lernmuster nutzen, um im Sinne einer erfolgreichen Gefühlsarbeit nicht nur über Gefühle explizites Wissen zu Verfügung zu stellen, sondern auch auf Verhaltensebene Gefühlsarbeit in Form von implizitem Wissen für das praktische Handeln zugänglich zu machen.
Auch als Aspekt einer sich bildenden Pflegeidentität kann dem Thema Gefühlsarbeit ausbildungsrelevante Bedeutung beigemessen werden. Bohrer/ Walter (2015) führen ihre pflegedidaktischen Studien zusammen und beschreiben berufliche Identität als Ergebnis des Selbstständigwerdens, der Selbstbehauptung und der Position als Lernende. Dabei wird die Selbstbehauptung beeinflusst durch „erlebte Pflege“ und den „Modellpersonen“. Insoweit wird die Auseinandersetzung mit Gefühlen, Gefühlsregulierung und Emotionsmanagement von Lernenden von den Vorbildern im beruflichen Umfeld geprägt. Ergänzend geschieht auch Anpassung und Abgrenzung der Lernenden, also die fraglose Übernahme von Gefühlen, Haltungen und Handlungsweisen bzw. ein bewusstes Lossagen (ebd. S.26). Ein beobachtetes, erfolgreiches Gefühlsmanagement speziell im ersten Ausbildungs-/Studienjahr hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf eine sich entwickelnde Pflegeidentität, die im Laufe an andere Lernende weitergegeben und vorgelebt werden kann.
Bohn (2015, S.29 f) schreibt im Zusammenhang mit der Schamkompetenz, dass von Pflegenden eine hohe soziale, kommunikative und emotionale Kompetenz gefordert wird. Dazu gehört das Erkennen und Wahren von Grenzen und ein notwendiges Maß an Sensibilität. Die Erlangung von Empathie kann jedoch nur stattfinden, „wenn die berufliche Qualifikation auch über die Gefühlsebene und nicht ausschließlich über einen kognitiven Zugang erfolgt“. (Bohn, 2015, S.29) Um dies leisten zu können, sollten Pflegepersonen diese Gefühlsphänomene verstehen und auch partiell selber „wiederbeleben“. Auf das Ausbildungssetting umgelegt, bedeutet dies jedoch, dass der/die PflegepädagogIn sich in der Vorbereitung bereits auf das Gefühl einlassen und es für sich „wiederbeleben“ und nachempfinden muss. Und natürlich kann es schmerzhaft sein und wehtun, sich mit eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, die unweigerlich wieder ins Bewusstsein kommen, wenn an spezielle Situationen aus der eigenen Berufsgeschichte gedacht wird. Dieses „Wiederbeleben“ ist wichtig, um die Themen der Gefühlsarbeit authentisch mit den Lernenden des Pflegeberufs zu gestalten. Zudem werden in der Rolle der/s PflegepädagogIn ebenso Gefühle erlebt, die im Kontext von Unterrichtssituationen reguliert werden müssen, z.B. ein Gefühl der Wut, aufgrund eines herausfordernden Verhaltens eines/r Lernenden. Die Rolle einer/s LernbegleiterIn beinhaltet hier sehr stark das Verhalten als Vorbild. Ein reflektierter und bewusster Umgang mit Gefühlen in bestimmten Situationen wirkt authentisch und professionell. In weiterer Folge ist natürlich ein Ziel der Gefühlsarbeit in einer Lernsituation, die Bewältigung von erlebten Gefühlen bzw. daraus resultierende Lösungen zu finden. Kriseninterventionen im Kontext der Trauer können an dieser Stelle als Beispiel angeführt werden.
Tatsächlich stellt sich aber ein Perspektivenproblem: Im Zuge der Ausbildung werden Pflegephänomene bearbeitet, die im Sinne der Patientenorientierung den betroffenen Pflegebedürftigen fokussiert. Es wird zumeist im Sinne der Wissensvermittlung und Erwerb einer Fachkompetenz strukturiert, der Schwerpunkt auf pflegerische Interventionen bei Angst, Trauer oder Krise gesetzt und im Zuge des Pflegeprozesses dargestellt. Diese Gefühle können und dürfen jedoch auch professionelle Pflegepersonen situativ in Beziehung mit dem Pflegebedürftigen empfinden. Tatsächlich geschieht hier eine Gefühlsregulierung bei erfahrenen Pflegepersonen, die Lernende bewusst entwickeln und trainieren können. Kollegen als Vorbilder sind in diesem Zusammenhang sehr hilfreich, insbesondere wenn diese Gesprächsbereitschaft signalisieren und so auch dazu beitragen, berufliche Handlungskompetenz, Pflegekompetenz und Pflegeidentität entstehen zu lassen.
Gefühle didaktisch-methodisch aufzubereiten ist eine Herausforderung für alle PflegepädagogInnen. Fachkompetenz und damit explizites Wissen vorzubereiten und zu lehren ist im Verhältnis die einfachere Aufgabe, auch mit dem Ziel der Erbringung von Prüfungsleistungen. Natürlich ist es ein Weg, die Themen basierend auf Literatur aus Pflegewissenschaft und Bezugswissenschaften (Psychologie, Soziologie) mit Hilfe einer didaktischen Reduktion nach Klafki zu entwickeln. Die Beschäftigung soll jedoch das Thema spürbar machen. Das bedeutet, dass nicht nur Faktenwissen dargestellt wird, sondern auch der Versuch erlaubt sein soll, das jeweilige Gefühl zu reflektieren und auszudrücken. Die Vorbereitung muss sich an zwei Säulen orientieren: zum einen das fachlich-explizite Wissen, zum anderen das emotionale-implizite Wissen. Dabei entwickeln Lernende im Zuge ihres Lernprozesses Reflexionskompetenz, ebenso wie PflegepädagogInnen eine hohe Reflexionskompetenz entwickelt haben müssen, um die Gefühlsarbeit der Lernenden führen, begleiten und unterstützen zu können.
Literatur
Bischoff, C. (1997). Frauen in der Krankenpflege. Zur Entwicklung von Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert (3. Auflage). Frankfurt am Main: Campus.
Bohn, C. (2015). Macht und Scham in der Pflege. Beschämende Situationen erkennen und sensibel damit umgehen. München: Ernst Reinhardt.
Bohrer, A. & Walter, A. (2015). Entwicklung beruflicher Identität-empirische Erkenntnisse zum Lernen in der Berufspraxis. In Pädagogik der Gesundheitsberufe, 2, S.23-31.
Giesecke, Hermann (2004). Einführung in die Pädagogik (7. Auflage). Weinheim: Juventa.
Kraske, M., Niemann, B. & Fehling, P. (2016). Kompetenzentwicklung über Selbstreflexion. Der SeRPA© in der praktischen Pflegeausbildung. PADUA, 11(3), S. 191-195
Marschelke, E. (2014). Wie man den Abgrund zwischen Theorie und Praxis vermeidet. Pflegezeitschrift, 67 (2), S. 94- 97.
Pernlocher- Kügler, C. (2010). Ekel und Scham bei der Arbeit mit dem menschlichen Körper. Norderstedt: GRINVerlag.
Fußnoten
[1] Unterschiedliche Begriffe werden für diesen Umgang mit Gefühlen verwendet. So wird über Gefühlsarbeit, Emotionsmanagement und Gefühlsregulierung geschrieben, jedoch existiert keine einheitliche Definition für die pflegewissenschaftliche Disziplin.
[2] Im Folgenden wird der Begriff Lernende für Auszubildende und Studierende in allen Pflegeberufen verwendet