Forensische Psychiatrie und die gesellschaftliche Verurteilung

15. April 2019 | Politik | 0 Kommentare

Viele Filme, viele Fernsehserien, die in den meisten TV-Programmen zu sehen sind, viele Bücher, die gelesen werden, handeln von Verbrechen, die die Zuschauer und Leser faszinieren, handeln von Überlegungen, was Einzelne dazu bewegt, Anderen Schmerzen zuzufügen, sie zu quälen, zu verstümmeln, zu töten. Es ist ein allgemeines Interesse des Publikums, das die Künstler (Filmemacher, Schauspieler, Schriftsteller) dazu bewegt, sich noch kompliziertere Geschichten auszudenken, um noch fesselndere Historien zu beschreiben, noch intensiverere Beschreibungen der Ursachen und der Hintergründe der Verbrechens zu erfassen und analysieren.  Und die Zuschauer und Leser vertiefen sich immer mehr in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche, um endlich zu verstehen, warum grausliche, erschreckende Taten passieren, um einzuschätzen, wo die Gefahren lauern, wer kann gefährlich sein oder werden, um einzuschätzen, welche psychischen Hintergründe jemanden zu Mörder, Schläger, Brandstifter machen.

Die Mörder-Entdeckungs- und Mörder-Verstehen-Industrie kann sich nur entwickeln, wenn die Nachfrage stimmt. Und die Nachfrage sind die Konsumenten, die ein besonderes Interesse dabei haben, sich an den ungewöhnlich brutalen Situationen von außerhalb zu beteiligen, passiv, als Zuschauer, und vor allem als unbeteiligtes, gutes und angepasstes Wesen, das keiner Fliege was tun würde.

Die US-amerikanische Politologin und Philosophin Hannah Arendt (2017), die sich besonders intensiv mit dem Phänomen des Bösen beschäftigte, beschreibt die philosophische und religiöse Verwirrung menschlicher Geschichte in Bezug auf das Gute und das Böse: „…gemäß unserer menschlichen Tradition sind für alle menschliche Schlechtigkeit entweder menschliche Blindheit und Unwissenheit verantwortlich oder menschliche Schwäche, die Neigung, der Versuchung nachzugeben“ (Arendt, 2017, S. 53). Es wird angenommen, dass der Mensch nicht grundsätzlich gut oder böse ist, „..er wird versucht, Böses zu tun und muss sich anstrengen, um Gutes zu tun“ (ebd., S. 53). Daraus folgt, dass Menschen „…als Recht ansehen, was sie nicht tun mögen, und all das als Unrecht, was sie in Versuchung bringt.“ (ebd., S.54). Für mich persönlich ist es eine gute Erklärung der Faszination für das brutale Vorgehen der „Anderen“. Diese Faszination beruht auf dem Prinzip der Rangordnung (Schjelderup-Ebbe verwendete als erster diesen Begriff, um das soziale Verhalten der Hühner zu beschreiben, In: Lorenz, 2016, S. 50), dem zufolge es zu Kämpfen innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe kommen kann, um eine innere Struktur zu erhalten und interne Normen zu erstellen (Lorenz, 2016, S. 50-51). Die moralische Verurteilung der Taten eines Menschen dient der Herstellung der klaren Rangordnung und Positionierung in der Gruppe und Gesellschaft.

Daher faszinieren uns die gruseligen Geschichten im Film und in der Tageszeitung. Wir schauen sie uns an, wir zeigen das gesellschaftlich erwartete Schrecken und sprechen die ebenfalls erwartete Wertung und Verurteilung gegenüber dem Täter aus.

So ähnlich verhält es sich mit Maßnahmepatienten, die eine Tat begehen, die der allgemeinen Meinung nach zu verurteilen ist. Sie sind Mörder, Schläger, Betrüger, sie repräsentieren alles, was wir Menschen nicht haben wollen, was wir ausmerzen wollen, und – wenn es nicht möglich ist – mindestens verurteilen.  Am besten wäre es ja, diese Täter für immer einzusperren und die Schlüssel weit wegzuwerfen, damit sie nie befreit werden können. Die anziehende Wirkung der Brutalität lässt vergessen, dass der vermeintliche Täter eine schwere Erkrankung durchlebt, die voraussichtlich chronisch verlaufen wird, d.h. über einen langen (lebenslangen) Zeitraum bestehen wird. Und dass die Tat aus nachvollziehbaren oder auch irrationalen Gründen begangen wurde.

Es darf nicht vergessen werden, dass ein Mensch in einem sozialen Gefüge lebt und wirkt. Er und seine Umgebung wirken aufeinander und beeinflussen sich ständig, was zu einer steten Anpassung an die Umgebung und einer personalen Veränderung führt (Mitchell, 2003, S. 101). Die Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung durch außenstehende Personen, was im Babyalter beginnt, ergeben sich aus den gesammelten Erfahrungen während der Entwicklung. Diese Erfahrungen wirken positiv oder negativ auf die Entstehung des bewussten Erlebens der eigenen Wirksamkeit im Leben und in der Community. Als soziales Wesen ist es immanent, um eigene Position und eigene Rolle in der Gruppe zu finden und zu gestalten. Ist es aus einem Grund nicht möglich, die Selbstwirksamkeit (Bandura, 1979) zu erleben, wird das eigene Handeln und Wirken in Frage gestellt, was wiederum die Position in der Gesellschaft gefährdet. Menschen, die in ihrem Leben keine Selbstwirksamkeit erfahren, was z.B. durch erschwerte Lebensumstände oder erlebte Traumata verursacht werden kann, können Ängstlichkeit in Bezug auf ihre Existenz entwickeln, von dem Kollektiv, in dem sie leben, ausgeschlossen zu werden. Doch die Unterstützung einer Gruppe ist einem sozialen Wesen von existenzieller Bedeutung. Bleibt diese Unterstützung aus, kann versucht werden, sich diese durch unkontrollierte Handlungen zu erkämpfen. Unkontrolliert bedeutet oft, dass anerkannte Normen und Werte der Gruppe im Sinne der moralischen Beurteilung nicht beachtet werden, weil sie in der ausweglosen Situation, in der sich die Person befindet, nicht im Vordergrund stehen. Und schon an diesem Punkt angelangt beginnt ein fast unaufhaltbarer Prozess, der aus Menschen Objekte macht, die keinen Einfluss auf ihr Leben mehr haben. Je weniger sich ein Mensch wirksam füllt, je weniger Kontrolle seine Handlungen aufweisen, desto impulsiver und unberechenbarer werden seine Taten. Die psychiatrischen Symptome, die in vielen Fällen schon davor bestanden, verstärken das Gefühl des nicht-dazu-gehören, nicht-akzeptiert und nicht-verstanden zu sein. Kommt es zu einer strafbaren Handlung, wird ein System in Bewegung gesetzt, das die Möglichkeiten des selbstwirksamen Lebens definitiv einschränkt, wenn nicht unmöglich macht.

Nach der Tat beginnt sich nämlich die unmögliche und ungebrochene Spirale weiter zu drehen. Und alle spielen mit. Das Gesetz bietet die Möglichkeit der sog. Resozialisierung, die unter Kontrolle stattfindet, die dem Betroffenen Grenzen aufzeigt, was in seinem Verhalten inakzeptabel ist und gleichzeitig bestimmt, dass er es nie wieder vergießt. Er wird ausgegrenzt, findet sich in der Gesellschaft nicht mehr zu Recht, es sei denn, er kann sich unterordnet und seine Rolle als Ausgestoßener mitspielt. Das ist die Rache an denen, die sich nicht gefügt haben. Unterstützend dabei ist die allgemeine Meinung der Öffentlichkeit, die durch mediale Präsenz des Verbrechens gebildet wird, dass ein Verbrechen bestraft werden soll.

Die Möglichkeiten des Rehabilitationssystems ist begrenzt, solange es um die Aufbewahrung der Insassen geht. Entscheidend für die Erhaltung diesen Systems ist die Haltung der betreuenden Personen. Die beschriebene Faszination für das Böse, für das Unmögliche und für das Unvorstellbare, lässt die Tat in den Vordergrund rücken und denjenigen, der sie ausgeführt hat, zu einem Objekt werden. Einem Objekt, das in der Stigmatisierung durch moralische Urteile gefangen ist und bleibt. Ich bezeichne es als die große Falle der Rehabilitation, die nicht an der Resozialisierung arbeitet, sondern an der Verhaltensänderung der Betroffenen, die angepasst an die bestehenden Verhaltensnormen der Gesellschaft ist. Doch die Veränderung des Verhaltens, die aus extrinsischen Motivation entsteht, hält nicht lange. Sobald die extrinsischen Motive wegbleiben, wird zu den gewohnten Verhaltensweisen gegriffen.

Die Beeinflussung der intrinsischen Motivation durch Verständnis und Akzeptanz der Person, nicht der Tat, hat eine weit intensivere Wirkung auf das künftige Verhalten des Betroffenen. Steht die Person im Vordergrund, wird sie als Individuum angesehen und nicht als Objekt, das sich leicht innerhalb der Gruppe „verschieben“ lässt. Das Individuum hat eine Position in der Gruppe, es kann sich behaupten, kann Entscheidungen treffen und es erlebt wieder Selbstwirksamkeit. Die positiven Erlebnisse (Lernen durch positive Verstärkung) können prägend für die künftige Lebensgestaltung sein.

In Rahmen der forensischen Maßnahmen sollen also die Stabilisierung des psychischen Zustandes und Verarbeitung der erlebten Traumen in den Vordergrund gestellt werden, sowie die Akzeptanz, empathisches Verstehen, Förderung der Reflexivität und vor allem die Möglichkeit, die Selbstwirksamkeit zu erleben. Nur dann  kann von einer angemessenen Betreuung gesprochen werden. Nicht früher und nicht unter anderen Voraussetzungen.

In Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit ist eine intensive Arbeit an der Toleranz gegenüber psychischen Erkrankungen und Wissensverbreitung bzgl. Betroffenen unbedingt notwendig. Das Ziel der Re-Sozialisierung ist ja, dass die Betroffenen IN DER GESELLSCHAFT wieder ihren Platz finden, nicht im stationären Bereich verbleiben. Ist aber die Gesellschaft mit Vorurteilen behaftet, aus Unwissenheit (daraus resultieren Ängste in Bezug auf Verhaltensweisen, die als eigenartig, fremd und unverständlich empfunden werden) oder Blindheit, wird sie es den Entlassenen spüren lassen.

Die Auseinandersetzung mit den Phänomenen des menschlichen Erlebens ist in den philosophischen und naturwissenschaftlichen Abhandlungen seit Jahren ersichtlich. Jetzt ist es an der Zeit, diese Erkenntnisse mit der Community, in der wir leben, zu teilen, um zu verhindern, dass Ausgrenzungen und Stigmatisierungen stattfinden. Menschen, die im Maßnahmenvollzug behandelt werden, haben oft Tramen erlebt, die schlimmer sind, als ein beeindruckender Horrorfilm – der Unterschied dabei ist, dass es den Zuschauen möglich ist, sich zu entscheiden, den Film zu unterbrechen. Diese Möglichkeit haben die Patienten der forensischen Psychiatrie nicht gehabt. Daher sollen sie Gerechtigkeit erfahren, indem sie in unserer Gesellschaft ihren Platz finden und sich selbstwirksam erleben können.

Autor

  • Ewa Zemann

    Mag.a, Diplom der psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflege (1994), Diplom der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege (2000), akademische Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege (2005), Trainerin für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement (2009), Magistra der Pflegewissenschaft (2012). Stellvertretende Direktorin der Schule für allgemeine und psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege. Fachbereichsleitung Theoretische Ausbildung. Berufspraxis im akuten und subakuten Bereich der Psychiatrie, in der Suchtkrankenpflege sowie in der forensisch-psychiatrischen Pflege. Kontakt: ewa.zemann@wienkav.at