Der 200. Geburtstag Florence Nightingales hat nicht nur die Weltgesundheitsorganisation WHO motiviert, das Jahr 2020 als Jahr der Pflegenden und Hebammen auszurufen. Es hat auch Historikerinnen und andere Schreibende inspiriert, sich mit der Person Nightingales intensiver zu beschäftigen. Das Buch „Florence Nightingale – Die Frau hinter der Legende“ ist das Ergebnis intensiver Forschungen, die Hedwig Herold-Schmidt angestellt hat. Christoph Müller hatte die Gelegenheit, ihr Fragen zu stellen.
Christoph Müller Was macht für eine Historikerin, die erst einmal nichts mit der Krankenpflege zu tun hat, die Faszination der Person Florence Nightingales aus?
Hedwig Herold-Schmidt Das ist so nicht ganz richtig. Ich bin ausgebildete Krankenpflegerin und habe etliche Jahre als Fachschwester für Intensivmedizin gearbeitet. Und mir damit auch mein Studium größtenteils verdient. Auch in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit und der universitären Lehre bildet die Kultur- und Sozialgeschichte von Medizin und Gesundheit einen meiner thematischen Schwerpunkte. Bei Florence Nightingale ergab es sich der glückliche Fall, dass ich dies mit meinem Interesse an Sozialgeschichte, an Frauen- und Religionsgeschichte verbinden konnte. Denn es geht hier um ein äußerst facettenreiches Leben einer vielschichtigen, faszinierenden Frau mit breit gestreuten Arbeitsfeldern und Interessen.
Christoph Müller Bei aller Idealisierung und Heroisierung Nightingales ist sie sicher „nur“ ein Beispiel für engagierte Frauen und Männer aus, die im 19. Jahrhundert Antworten auf soziale Fragen finden wollte. Was ist aus Ihrer Sicht das „Alleinstellungsmerkmal“ Nightingales?
Hedwig Herold-Schmidt Sie war extrem gut gebildet, so gut, dass sie an jeder Eliteuniversität der Zeit hätte studieren können – wenn sie ein Mann gewesen wäre. Schon in jungen Jahren war sie sehr sensibel für die sozialen Probleme, die das England der industriellen Revolution plagten. Sie war sowohl in Geistes-, Sozial- wie Naturwissenschaften, Mathematik und Statistik versiert – und suchte all ihre Erkenntnisse zusammenzudenken. Darüber hinaus hatte sie überragende organisatorische Fähigkeiten und Führungsqualitäten. Ihre Arbeit im Krimkrieg machte sie berühmt, und zusammen mit ihrem zahlreichen Kontakten zu Wissenschaftlern, Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschaffte ihr das einen Einfluss in Politik und Gesellschaft, den keine Frau ihrer Zeit auch nur annähernd erreichen konnte. Nicht nur im Bereich der Krankenpflege, sondern auf vielen Feldern der Sozial- und Gesundheitspolitik und darüber hinaus. Dies ist umso erstaunlicher, weil sie in der zweiten Hälfte ihres langen 90jährigen Lebens die meiste Zeit als Invalidin in der Einsamkeit ihres Krankenzimmers arbeitete, und das enorm diszipliniert und hoch produktiv.
Christoph Müller Lebhaft beschreiben Sie in dem Buch die vielen Seiten der Persönlichkeit Nightingales. Unermüdliches Engagement prägte wohl ihr Leben. Aber auch kräftezehrende Konflikte mit der Familie. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen, wo Nightingale die Kraft für ihr einflussreiches Wirken genommen hat?
Hedwig Herold-Schmidt Florence Nightingale war davon überzeugt, dass Frauen ihren Fähigkeiten entsprechend optimaler Entfaltungsmöglichkeiten bekommen sollten, die über Haus, Familie und private Wohltätigkeit hinausgingen. Ihre Argumente und ihre Kraft bezog sie vor allem aus ihrem Glauben. Mit 17 hatte sie ein Erweckungserlebnis, und von da an zweifelte sie nie mehr daran, dass sie eine Mission hatte, nämlich sich den Armen und Kranken zu widmen. Dafür ging sie bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit. Sehr kreativ entwickelte sie aus der Zusammenschau verschiedener Konfessionen und Religionen eine Art eigene, sehr tolerante und offene Theologie, die ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten als Fingerzeig Gottes erklären konnte. Und ein Gottesbild, das es ihr ermöglichte, zusammen mit Gott sein Werk in der Welt zu tun. Manchmal wird ihr hier taktisches Vorgehen bzw. ein kluger Schachzug unterstellt. Sicherlich war religiöse Berufung eine der wenigen Möglichkeiten, mit Hilfe derer ein Mädchen aus gutem Hause aus dem „goldenen Käfig“ von Ehe und Familie ausbrechen konnte. Doch die Bedeutung von Religion und Glauben darauf beschränken zu wollen, wäre viel zu kurz gegriffen. Religion war die zentrale Motivation ihres Lebens und Schaffens und sie beschäftigte sich zeitlebens intensiv damit.
Christoph Müller Sie wünschen sich eine „ausgewogene und fundierte Beurteilung von Leben und Werk“ Nightingales. Was meinen Sie als Historikerin konkret damit?
Hedwig Herold-Schmidt Zum einen, dass man Florence Nightingale als eine für das 19. Jahrhundert zwar außergewöhnliche Persönlichkeit, aber dennoch als Kind ihrer Zeit beurteilt. Ihren Einsatz für die Frauenfrage etwa an feministischen Positionen des 21. Jahrhunderts zu messen, hilft da nicht viel weiter. Dass man sie weder über die Maßen heroisiert, etwa als alleinige Retterin der britischen Armee im Krimkrieg oder als einzig nennenswerte Schöpferin der modernen Krankenpflege, noch sie in Grund und Boden verdammt, wie in Teilen der neueren Pflegegeschichte geschehen. Diese neigen dazu, ihre Leistungen zu minimieren bzw. als schädlich für die Entwicklung des Pflegeberufs zu beurteilen und sie für fast alle Übel der Pflege in der Gegenwart verantwortlich zu machen. Über all das darf mit jedem Recht kritisch diskutiert werden. Problematisch wird es, wenn man ihr Wirken nur mit der Brille der Gegenwart bewertet.
Christoph Müller In den historischen Beschreibungen aus Ihrer Feder wird deutlich, welchen politischen Einfluss Nightingale wohl in ihrer Zeit hatte. Wo sehen Sie auf dem Fundament Ihrer historischen Arbeit heute Notwendigkeiten, dass sich Pflegende politisch positionieren?
Hedwig Herold-Schmidt Seit Florence Nightingale seit den 1980er Jahren als Ikone der Krankenpflege vom Sockel gestoßen wurde, wurden ihr falsche Weichenstellungen und damit fast alle negativen Aspekte des modernen Pflegeberufs angelastet. Nämlich, dass sie maßgeblich dafür verantwortlich sei, dass sich ein Frauenberuf mit schlechter Bezahlung, wenig öffentlichem Prestige, verzögerter fachlicher Professionalisierung und oft miserablen Arbeitsbedingungen sowie einer wenig effektiven Interessenvertretung entwickelt habe.
Genau dies sind meiner Meinung nach die Felder, in denen sich künftig weiterhin Entscheidendes verändern muss. Dafür ist auf eine schlagkräftige Interessenvertretung und eine offensivere Sensibilisierung der Öffentlichkeit kaum zu verzichten, um die notwendigen politischen Entscheidungen herbeizuführen. Dass die tiefgreifende Ökonomisierung des Gesundheitswesens der letzten Jahrzehnte gerade in Frage gestellt wird, ist für die Situation in der Pflege meines Erachtens ein wichtiger Ansatzpunkt: Darf Gesundheit und Krankheit weiterhin vorwiegend marktwirtschaftlichen Erwägungen unterworfen werden? Als ich in den 70er und 80er Jahren in der Pflege arbeitete, glaubten wir nicht, dass sich die Arbeitsbedingungen noch weiter verschlechtern könnten. Wir wissen alle, dass wir uns da gründlich getäuscht haben.
Die gegenwärtige Situation bietet eine Chance, die aber auch konsequent genutzt werden muss. Augenblicklich habe ich allerdings den Eindruck, dass sich der Fokus der Aufmerksamkeit bereits wieder von den „Helden des Alltags“ im Krankenhaus wegbewegt.
Christoph Müller Pflege leidet bis in die Gegenwart an der eigenen Geschichte. Es gelingt kaum, sich aus den Fesseln des Heilhilfsberufs zu befreien. Die enge Verwobenheit mit der Krankenpflege, die von klösterlichen Gemeinschaften gepflegt wurde, führte zu einer Fokussierung auf Dienen und Aufopfern. War nicht Nightingale eine jener Menschen, die schon damals die Eigenständigkeit betonte?
Hedwig Herold-Schmidt In der Tat ist bemerkenswert, dass Nightingale die Krankenpflege als modernen, wissenschaftlich fundierten, autonomen und sich selbst regulierenden Frauenberuf etablieren wollte – übrigens mit angemessener Bezahlung und guten Wohn- und Arbeitsbedingungen. Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Nur um den Preis der Unterordnung unter die männliche Hierarchie der Ärzte konnten die „neuen“ Pflegerinnen ihre Nische im – für sittsame Frauen problematischen – öffentlichen Raum der damals verrufenen Krankenhäuser erobern.
Nightingale plädierte aber stets für die Eigenständigkeit der Pflege, etwa gegenüber Krankenhausverwaltungen und Ärzteschaft. Dies hat sie auch in ihren Stellungnahmen zum Medizinstudium der Frauen angesprochen. Sie war der Meinung, dass ihre Geschlechtsgenossinnen im – möglichst autonomen – Pflegeberuf sehr viel mehr bewirken könnten, als in untergeordneter Stellung als Ärztin. Wobei sie selbstredend allen Frauen das prinzipielle Recht zugestand, ihren beruflichen Neigungen nachzugehen. Von der Medizin ihrer Zeit hielt sie nicht viel. Pflege war für sie weitaus wichtiger, nicht nur als Beitrag zur Heilung sondern vor allem auch auf dem Feld der Prävention.
Christoph Müller Was kann uns heute Florence Nightingale mit ihrem Lebensbeispiel sagen? Sie scheint ja noch heute zu polarisieren.
Hedwig Herold-Schmidt Einige Dinge, die sie vertrat, sind mittlerweile sicherlich obsolet geworden, wie etwa manche Vorstellungen über Gesundheit, Krankheit und Heilung. Residenzpflicht im Schwesternheim, Ehelosigkeit und strenge moralische Überwachung sind ebenso überholt wie oft auch die religiöse Fundierung des Berufs als Berufung. Zu vielen aktuellen Themen hat sie aber auch heute noch einiges zu sagen.
Keineswegs obsolet ist ihr ganzheitliches Gesundheitskonzept, das der Prävention eine ausschlaggebende Rolle zuspricht. Neuere transnationale Initiativen für die Weltgesundheit sind aufs engste mit Nightingales Namen verbunden, die sich eben darauf beziehen. Betrachtet man die Millenniumsziele der WHO (für nachhaltige Entwicklung und Bekämpfung von Armut und Hunger,) so klingt Nightingale hochaktuell: Prävention, Bedeutung der Umwelt, soziale Determinanten von Krankheit und Gesundheit, Gesundheitserziehung und Stärkung der kommunalen Gesundheitsdienste. All das war ihr ein Anliegen. Und überall spielen Pflegepersonen eine herausragende Rolle.
Und: Krankenhausinfektionen sind mehr denn je ein gravierendes Problem, Hygiene und Sauberkeit waren immer ihr Credo. Skandale, ineffektive Organisation und andere Mängel im Gesundheitssystem sind ebenfalls nicht verschwunden. Hier geht es etwa um die Übernahme von Verantwortung, um Teamarbeit, um Personalführung, um Qualitätsmanagement. Alles Themen, mit denen sie sich intensiv beschäftigte.
Insgesamt kann ihre Fähigkeit, komplexe Problemlagen aufzuzeigen und fundierte Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln sowie erfolgreiche Strategien zu Durchsetzung ihrer Anliegen zu konzipieren, sicherlich heute noch inspirierend sein. Beeindruckt hat mich auch, wie sie immer wieder Hindernisse überwand und Rückschläge verarbeitete. Das entsprach ihrem Menschenbild: Diese sollten aktiv zur Verbesserung der Welt beitragen und nicht fatalistisch auf das Eingreifen Gottes warten. Heute würde man das natürlich etwas anders formulieren.
Christoph Müller Herzlichen Dank für die Einsichten.
Das Buch, um das es geht
Hedwig Herold-Schmidt: Florence Nightingale – Die Frau hinter der Legende, WBG Theiss Verlag, Darmstadt 2020, ISBN 978-3-8062-4055-9, 320 Seiten, 30 Euro.