„Haltungen sind Bestandteil der beruflichen Identität“
Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, sich in pflegerischen Versorgungssettings mit ethischen Fragen zu beschäftigen. Sie begegnen Praktiker_innen Tag für Tag. Oft bleibt ihnen nicht die Kraft, um dieser Aufgabe nachzukommen. Noch mehr von Nachteil ist, dass vielen Praktiker_innen schlicht und einfach das Handwerkszeug fehlt. Weder in der Ausbildung noch im Studium wird vertieft über ethische Dilemmata nachgedacht.
Mit dem Buch „Ethik in der Pflege“ gibt es eine Gelegenheit, der Ethik in der praktischen Pflege mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schiff und Dallmann greifen die Themen des pflegerischen Alltags sehr umfassend auf. Dabei finden sie immer wieder deutliche Worte zur Notwendigkeit ethischer Positionierung: „Ethik ist nicht das Sahnehäubchen auf dem Berufsalltag. Die Relevanz der Ethik der Pflege muss sich in ihr erweisen und nicht über ihr“ (S. 15).
Schiff und Dallmann haben ein Dankeschön dafür verdient, dass sie das hermeneutische Verstehen als ein zentrales Element pflegerischen Denkens und Handelns postulieren. Es diene dazu, „sich besser zu verstehen, um das Verhältnis zwischen Denken und Handeln zu klären, wenn es darum geht, sich in einer Situation zu entscheiden“ (S. 28). Damit fordern sie professionell Pflegende im Grunde auf, den ethischen Diskurs als alltäglichen Moment anzunehmen.
Professionelle Pflege müht sich in der ethischen Diskussion oft mit utilitaristischen Vorstellungen ab, die sich auf den Nutzen ethischen Handelns beschränken. Umso wertvoller ist es, dass Schiff und Dallmann die Phänomenologie im Fokus haben. Ihnen ist nicht nur zuzustimmen, wenn sie davon ausgehen, dass die Perspektive des anderen Menschen den distanzierenden und klassifizierenden Blick ersetze. Ihre Sicht ist nicht nur zu unterstützen, weil sie „die alte Diskussion um die Ganzheitlichkeit auf eine solidere Grundlage stellen kann“ (S. 64). Indem sie beispielsweise ausführlich auf die leibliche Kommunikation eingehen, die auf den Philosophen Hermann Schmitz zurückgeht, eröffnen sie professionell Pflegenden Perspektiven, die es zu erarbeiten gilt.
Die ethische Reflexion in unterschiedlichen Kontexten der Pflege nehmen Schiff und Dallmann genauso unter die Lupe wie die Dimensionen der Ethik in der Pflege. Sie zeigen Dimensionen menschlicher Existenz auf und differenzieren Elemente der Pflegeethik. Ihnen gelingt es, die Pflege in der Psychiatrie genauso anzusprechen, wie sie multikulturelle Teams diskutieren. Die Wohnsitz-und Obdachlosigkeit haben sie auf dem Schirm. Auch die glücklosen Schwangerschaften nehmen sie als Problemfeld an.
Seltenheitswert hat es, dass ethische Grundlegungen sich tiefgründiger mit den Haltungen professionell Pflegender beschäftigen. Schiff und Dallmann nutzen die Möglichkeit, dies in dem kompakten wie praxistauglichen Handbuch zu tun. Sie beschreiben, dass Haltungen einen Bezug zu Überzeugungen und zu Emotionen hätten. Nach ihren Worten haben Überzeugungen „einen subjektiven Charakter“ (S. 120), sie seien nicht objektiv, hätten einen anderen Status als Wahrheit. Wörtlich schreiben Schiff und Dallmann: „Haltungen sind Formen, mit denen sich Personen auf das Leben einstellen und die ihm eine Richtung geben. Sie sind Bestandteil der beruflichen Identität“ (S. 121). Haltungen seien nicht beliebig, von ihnen könnten sich Professionelle nicht ohne gute Gründe dispensieren.
Von der Lektüre des Buchs „Ethik in der Pflege“ können sich professionell Pflegende eigentlich auch nicht lossagen, für ein sinnvolles Überleben in der Praxis erscheint es mehr als notwendig.
Andrea Schiff & Hans-Ulrich Dallmann: Ethik in der Pflege, Ernst Reinhardt Verlag, München 2021, ISBN 978-3-8252-5587-9, 238 Seiten, 24.95 Euro.