„Entscheidungen bis zum Ende denken“

1. November 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Seltsame Blüten treibt die Corona-Pandemie. Während die zweite Welle auf Touren kommt, untersagen Kliniken Besuche bei kranken und pflegebedürftigen Menschen. Oder es gibt die Ansage, von einem Krankenhaus-Aufenthalt betroffene Menschen lediglich eine Stunde in der Woche besuchen zu dürfen. Dies ist sogar in einigen psychiatrischen Kliniken so geregelt.

Für viele Menschen erscheint im Zusammenhang mit dem Schutz vor einer Infektion mit den Corona-Virus nachvollziehbar. Träger von Krankenhäusern geben der Vorsicht und der Haftung eine Priorität, die formal natürlich zu rechtfertigen ist.

Seit den Vorsichtsmaßnahmen in der ersten Corona-Welle im Frühjahr gibt es unendlich viele Diskussionen, ob die Besuchsverbote bzw. Besuchseinschränkungen in Alten-und Pflegeheimen angemessen und auch rechtens sind. Es tauchen ethische Dilemmata auf, ob der Tod durch eine Infektion oder durch Vereinsamung für die pflegebedürftigen Menschen schlimmer ist. Viele pflegebedürftige und gebrechliche Menschen geben eine eindeutige Antwort. Viele entbehrliche Zeiten in ihrem Leben seien nicht so schlimm gewesen wie die Corona-Pandemie. Wenigstens hätten sie in früheren Zeiten die Menschen um sich gehabt, die sie liebten.

Nun legt die Entscheidung, die Besuchszeiten in Kliniken einzuschränken oder auszusetzen, ungewollt Finger in eine andere Wunde. Denn würde man das Experiment wagen, die Logik dieser Entscheidung bis zu einem anderen Ende zu denken, hätte dies Konsequenzen für die pflegenden Menschen in den Alten-und Pflegeheimen sowie in den Krankenhäusern.

Das Untersagen von Besuchen hat bekanntlich das Ziel, die Ansteckung zu verhindern. Mit jedem Menschen, der von draußen in eine Einrichtung kommt, steigt die Gefahr, dass Menschen, die eh schon gesundheitlich angeschlagen sind, mit einer Corona-Infektion einen weiteren Nackenschlag oder gar einen Todesstoß erleben.

Dabei wird völlig aus den Augen verloren, dass Pflegende während der gesamten Pandemie-Zeit eine unglaubliche Gefährdung darstellen. Pflegende pendeln Tag für Tag vom eigenen Zuhause in die Einrichtung, in der sie arbeiten. Sie nutzen für diesen Transfer oft öffentliche Verkehrsmittel, sind dort den Widrigkeiten der Pandemie ausgesetzt. Wenn sie gar noch Kinder und Jugendliche daheim haben, potenzieren sich die Gefahren, selbst infiziert zu werden.

Vor einigen Tagen habe ich eine Geschichte gehört, die mich erschütterte und keine singuläre Erscheinung zu sein scheint. Eine junge Frau und deren Familie hatte Gäste, unter denen sich Infizierte befanden. Zu dem Zeitpunkt wusste es niemand. Als es bekannt wurde, gab es Testungen und Quarantäne-Anordnungen. Die junge Frau wunderte sich, dass sie als Altenpflegerin keine Isolationsweisung bekam, während Familienmitglieder in Quarantäne sind. Nein, sie bekam die Weisung, weiterhin täglich im Pflegeheim arbeiten zu gehen – verbunden mit dem Verbot, auf dem Arbeitsweg zur Tankstelle und in den Supermarkt zu fahren.

Lassen Sie uns nochmals zu den Trägern von Einrichtungen kommen, die Besuche untersagen. Würden Sie die Entscheidung bis zum Ende denken, so müssten sie sich überlegen, inwieweit sie Pflegenden (auch) über längere Zeit Kost, Logis und wer weiß was bieten, damit die Infektionsgefährdung reduziert wird.

Aber das scheitert ja dann gegenüber dem Finanzamt am geldwerten Vorteil …

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at