„Es geht darum, dass du nicht nur deine zehn Leute wäschst, sondern dich erinnerst, wer gestern geweint hat, und wahrnimmst, wer dich heute braucht. Wir müssen die Menschen emotional erreichen, sonst sperren sie sich und wollen sich nicht versorgen lassen oder verweigern das Essen.“ sagte der Altenpfleger Sandro Plett kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift brand eins (brand eins 02/2019). Unter dem Namen Sandro Pé sorgt er als er Blogger zu Pflegethemen für Aufsehen und versammelt auf verschiedenen sozialen Plattformen tausende Follower.
Seine Aussage zeigt anschaulich, dass gute Pflege einen empathischen Umgang mit den Menschen, die Pflege erhalten, erfordert. Empathie ist kein Add-On zu professioneller Fachlichkeit bei der Ausübung instrumenteller Unterstützung (Körper pflegen, mobilisieren, Nahrung anreichen), sondern integraler Bestandteil. Empathie ist die Voraussetzung für einen würdevollen Umgang miteinander auf Augenhöhe. Da, wo sie fehlt, sperren sich die Menschen und wollen sich nicht versorgen lassen. Die Konflikte, die daraus entstehen, können im schlimmsten Fall bis hin zu aggressiven und gewaltvollen Auseinandersetzungen gehen.
Wie schaffen es Pflegekräfte eigentlich über viele Jahre, empathisch zu pflegen? Woher nehmen sie die Kraft? Oder ist es nicht notwendig, sich irgendwann von dem ganzen Leid abzugrenzen? Und wer geht eigentlich empathisch mit den Pflegenden um? Diese Fragen stellten sich die Empathie-Forscher Marcus Roth und Tobias Altmann von der Universität Duisburg-Essen und riefen das Verbundprojekt empCARE ins Leben. Als Projektpartner fanden sie die Unikliniken Köln und Bonn und den ambulanten Intensivpflegedienst Aaron aus Köln. Ziel des Projekts, das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, ist die Entwicklung und Implementierung eines Trainingskonzepts für Pflegende. Diese können in den Trainings lernen, wie sie durch einen reflektierten Umgang mit Empathie über lange Dauer gleichzeitig empathisch und gesund bleiben.
Da stellt sich nun die Frage worin sich ein unreflektierter von einem reflektierten empathischen Umgang mit Patienten im Krankenhaus oder Bewohnerinnen im Pflegeheim unterscheidet. Machen Sie dazu ein kleines Experiment. Stellen Sie sich folgende Situation möglichst detailliert vor.
Sie arbeiten als Pflegerin in einer Einrichtung, die langzeitbeatmete Menschen betreut. Sie haben Frühdienst und ein Kollege hat sich krankgemeldet. Es gibt keinen Ersatz. Sie haben also ein volles Pensum und heute ist auch noch eine Neuaufnahme geplant, was immer besonders aufwendig ist.
Zu den Bewohnerinnen gehört Frau Sauer. Sie lebt seit mehreren Jahren in der Einrichtung, weil die Versorgung in der Wohnung, in der sie 35 Jahre lebte, nicht möglich war. Sie ist dauerhaft bettlägerig und hat nach einer Darmoperation ein Colostoma. Seit einiger Zeit hat sich das Verhältnis zu den Pflegekräften verschlechtert. Sie klingelt häufig und wie die Pflegekräfte finden zu oft wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Sie haben sogar den Verdacht, dass Frau Sauer den Stomabeutel manchmal absichtlich von der Platte löst.
Heute Morgen gehört Frau Sauer zu Ihrer Pflegegruppe. Sie haben sich einen genauen Plan gemacht, wie Sie diesen Frühdienst bewältigen wollen, aber seit Dienstbeginn vor einer Stunde hat Frau Sauer schon zweimal geklingelt und Ihren Plan durcheinandergebracht. Sie haben gerade einem anderen Bewohner ans Waschbecken geholfen, als sich Frau Sauer erneut meldet. Als Sie ins Zimmer kommen, sehen Sie, dass Frau Sauer eine Tasse Tee ins Bett verschüttet hat, der Stomabeutel hat sich abgelöst und ein Teil des Stuhls ist ins Bett gelaufen.
Bevor Sie weiterlesen, überlegen Sie nun einen Moment und notieren Sie spontan:
Was denke ich? Was fühle ich?
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Jetzt überlegen Sie und notieren wieder:
Was sage ich? Was tue ich?
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Sie haben gerade die Eingangsübung eines empCARE Trainings gemacht. Wenn Sie geantwortet haben, wie es die Teilnehmerinnen und Teilnehmer typischerweise tun, stehen bei Gedanken und Gefühlen nun Formulierungen wie: „Auch das noch“; „Nicht schon wieder“; „Das macht die doch extra“. Die Gefühlsbezeichnungen schwanken wahrscheinlich zwischen Ärger, Wut, Ratlosigkeit und Verzweiflung. Die meisten Personen, die dieses Experiment machen, sagen zu der Bewohnerin: „Nicht so schlimm“; „Ich mach‘ das dann mal schnell weg“; „Das kommt schon mal vor“.
Manchmal kommt dabei ein leichter Sarkasmus ins Spiel, manchmal auch direkte Ablehnung: „Das musste aber doch jetzt nicht sein!“ Vergleichen Sie nun Ihre Gedanken und Gefühle mit Ihren Worten und Handlungen. In den meisten Fällen gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem inneren Geschehen und der nach außen gezeigten Haltung. Der Arbeitssoziologe Friedemann W. Nerdinger spricht von emotionaler Dissonanz und hat dieses Phänomen als einen wichtigen Belastungsfaktor in Dienstleistungsberufen insbesondere der Pflege ausgemacht (Nerdinger, 2003, 185).
Pflegende überbrücken die emotionale Dissonanz oft mit einem „empathischen Kurzschluss“, einer unreflektierten empathischen Reaktion (Altmann, 2015, 26-31). Diese ermöglicht es, nach außen sozial akzeptierte Antworten zu geben, auch wenn die pflegende Person im Inneren negative Gedanken und Gefühle hat. Empathische Kurzschlüsse erscheinen als Beschwichtigungen („Das wird schon wieder“), vorschnelle Lösungen („Ich hole mal die Seelsorge“) und Belehrungen („Beim nächsten Mal melden Sie sich aber früher“). Empathische Kurzschlüsse dienen dazu, eine emotional herausfordernde Situation schnell abzufedern. Die Regulation der Gefühle der pflegenden Person steht dabei im Vordergrund. Sie erhält so in der akuten Situation ihre Handlungsfähigkeit. In der Geschichte von Frau Sauer bleiben deren Gefühle aber ebenso unbearbeitet wie die der Pflegerin. Auf lange Sicht führt dies neben den Folgen für Patientinnen und Patienten auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei den Pflegenden bis hin zu psychischen und körperlichen Belastungssymptomen. Im empCARE Training erlernen Pflegende Alternativen zum empathischen Kurzschluss. Ein Schwerpunkt liegt in der Wahrnehmung und Akzeptanz der negativen Gefühle, die in einer herausfordernden Situation bei den Pflegenden und bei der Person, die sie pflegen, aufkommen.
Abbildung 1: Gestaltung einer empathischen Interaktion
Negative Gefühle suchen im Verhalten nach Ausdruck und Entladung. Während die Pflegenden ihre Gefühle kontrollieren und regulieren (sollen), äußern Patientinnen und Patienten sie durch Weinen, Rückzug oder auch durch Schimpfen und Verweigerung. Ursache für negative Gefühle und damit herausforderndes Verhalten ist immer, dass eine Person ein gerade besonders aktives Bedürfnis nur eingeschränkt befriedigen kann. Die Zusammenhänge zwischen Bedürfnissen, Gefühlen und Verhalten sind in der Abbildung 1 dargestellt.
Die Abbildung zeigt auch die Gliederung des empCARE Trainings. Im ersten Schritt lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie sie ihre Wahrnehmung des Verhaltens einer anderen Person von eigenen Vorerfahrungen, Wertvorstellungen und einer vorschnellen Interpretation entkoppeln können. Im zweiten Schritt befassen Sie sich damit, wie sie die Gefühle der anderen Person mit dieser abgleichen können und wie sie ihre eigenen Gefühle wahrnehmen und mitteilen können, ohne eine herausfordernde Situation weiter zu eskalieren. Im dritten Schritt geht es um die bei beiden Personen aktiven Bedürfnisse. In diesem Teil des Trainings ist ein sehr sorgfältiges Vorgehen erforderlich. Meistens sind sich die Beteiligten nicht von Anfang an über ihre Bedürfnisse im Klaren. Außerdem werden Bedürfnisse und Verhalten oft verwechselt. So beschreibt der typische Satz „Ich brauche jetzt erst mal eine Tasse Kaffee“ kein Bedürfnis. Vielmehr kann die Tasse Kaffee der Befriedigung ganz verschiedener Bedürfnisse dienen, wie Anregung, Pause, Gesellschaft oder anderes. Die Tatsache, dass ein Verhalten ganz verschiedene Bedürfnisse befriedigen kann, eröffnet Spielräume für die gemeinsame Bewältigung einer herausfordernden Situation, was im letzten Teil des Trainings eingeübt werden kann.
Entsprechend fortgebildete Leserinnen und Leser werden unschwer erkennen, dass die Logik der empCARE Trainings an die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg angelehnt ist. Sie haben allerdings einige Besonderheiten, die auf die Interaktionsbeziehungen zwischen Personen, die Pflege erhalten, und denen, die pflegen, in spezieller Weise eingehen. So gehört es zum professionellen Auftrag von Pflegenden, ihre Patientinnen und Patienten bei der Klärung von Bedürfnissen und deren Befriedigung zu unterstützen (was nicht heißt, dass die Pflegenden persönlich jedes Bedürfnis ihrer Patientinnen und Patienten befriedigen könnten oder müssten). Menschen, die in einer gesundheitlich kritischen Phase hilflos, verzweifelt oder wütend sind, können manchmal ihre Bedürfnisse nicht klar erkennen. Die Unterstützungsarbeit der Pflegenden kann eine angespannte Situation entschärfen.
Gleichzeitig vernachlässigen viele Pflegende ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Sie flüchten sich eher in empathische Kurzschlüsse. Die Wahrnehmung und Akzeptanz eigener Gefühle und Bedürfnisse ist eine Herausforderung für sie. Deshalb ist dies ein besonderer Schwerpunkt des empCARE Trainings. Pflegende können in selbstreflexiven Einzelübungen, Gruppenübungen und Rollenspielen die Wahrnehmung ihrer Gefühle und Bedürfnisse erproben und einüben. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erleben es wie eine Befreiung, dass ihnen dies erlaubt wird.
Klassische Trainings in Gewaltfreier Kommunikation sind oft eher kognitiv ausgerichtet. So spielt zum Beispiel die begriffliche Unterscheidung von Bedürfnissen (Entspannung, Gesellschaft) und Verhalten (die Tasse Kaffee) eine große Rolle. empCARE Trainings sind hingegen sehr stark erlebnis- und erfahrungsorientiert. So gibt es natürlich Erläuterungen in klassischer Vortragstechnik über die Wirkung empathischer Arbeit und empathischer Kurzschlüsse auf die Beziehung zu Patientinnen und Patienten und auf die eigene Gesundheit. Die didaktische Gestaltung geht aber von der Überzeugung aus, dass die Reflexion eigener Gefühle und eigenen Verhaltens sowie das Erweitern von Verhaltensoptionen vor allem durch Nacherleben früherer Situationen und Erproben neuen Verhaltens im geschützten Raum eines Seminars erfolgen.
So konnte die Einbringerin des Beispiels von Frau Sauer im Seminar die Gefühle und Bedürfnisse der beiden Beteiligten rekapitulieren. Ihre spontane Gefühlsäußerung lautete: „Ich war sauer.“ Etwas differenzierter benannte sie die Gefühle Ärger, Frustration, Anspannung. Als aktive Bedürfnisse identifizierte sie Respekt, Effektivität, Selbstbestimmung und Verbindlichkeit. In einem angeleiteten Perspektivwechsel konnte sie als Gefühle von Frau Sauer Einsamkeit, Trauer und Lähmung identifizieren, die mit den unbefriedigten Bedürfnissen Gemeinschaft, Selbstbestimmung und Selbstausdruck verbunden waren. In dieser speziellen Konstellation fällt auf, dass beide ihre Selbstbestimmung durch die jeweils andere Person eingeschränkt sehen. Frau Sauer erlebt sich durch die Abläufe in der Einrichtung als fremdbestimmt. Obwohl sie formal Mieterin und damit immerhin Hausherrin ihres Zimmers ist, können die Pflegenden eintreten, wann immer es zu ihren Abläufen passt. Sie reagiert wahrscheinlich nicht einmal bewusst und gezielt, indem sie die Pflegenden zu sich „zwingt“, indem sie den Patientenruf nutzt. Unter den aktuellen Bedingungen erscheint das als einzige Möglichkeit, Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Sind solche Dynamiken erst einmal zu Tage gefördert, ist es meistens kein Problem mehr zu konkreten Absprachen darüber zu kommen, wie man gemeinsam weitermachen will. Im Seminar wurde dies in einem Rollenspiel nachvollzogen. Dabei übernahm die Einbringerin die Rolle von Frau Sauer und eine weitere Teilnehmerin die Rolle der Pflegerin. In einem Aushandlungsprozess fanden die beiden Wege, an welchen Stellen Frau Sauer mehr Einfluss auf das Tagesgeschehen erhalten sollte. Diese sagte ihrerseits zu, ihre Wünsche gebündelt vorzubringen und nicht in vielen kleinen Einzelschritten.
Die Entlastung für die Pflegerin besteht in diesem Fall nicht nur darin, dass Frau Sauer weniger klingelt und sie damit zeitlich entlastet wird. Die Pflegerin hat die Negativspirale aus gegenseitigen Vorwürfen und unreflektierten Interpretationen unterbrochen, sodass die beiden Beteiligten ihre Beziehung konstruktiv weiterführen können. Der wichtigste Entlastungseffekt kommt zustande, weil es der Pflegerin gelingt, auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu achten und sie in die Pflegeinteraktion zu integrieren. Dies ist für viele Trainingsteilnehmerinnen und –teilnehmer eine durchaus neue Erfahrung. So sagt ein Teilnehmer im Seminarverlauf zum Beispiel ganz spontan: „Endlich geht es mal um uns“, andere gaben in der Seminarevaluation auf die Frage „Was ist Ihr persönlicher Gewinn?“ Antworten wie „sich selbst mehr hören“, „wie schwer es ist, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und auszusprechen“ oder „eigene Gefühle wahrnehmen und Raum geben“. All diese Reaktionen zeigen, dass viele Pflegende im Arbeitsalltag den Kontakt, nicht nur zu ihren Patientinnen und Patienten, sondern auch zu sich selbst verloren haben.
Die Wirkung des empCARE Trainings wurde in einem aufwendigen Verfahren evaluiert, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einmal vor dem Training sowie zu vier Messzeitpunkten innerhalb von zwölf Monaten nach dem Training über ihre empathische Kompetenz, ihr Belastungserleben und ihre Einschätzung des Trainings befragt wurden. Die ersten Ergebnisse zeigen gegenüber einer Kontrollgruppe ohne Training eine Reduzierung von psychischen und physischen Belastungssymptomen und eine Verbesserung der empathischen Kompetenz. Welche entlastenden Effekte das Training erzielen kann, wird zusammenfassend vielleicht durch eine weitere Äußerung aus der Trainingsevaluation deutlich: „Eine Schlüsselsituation, die mich seit Jahren beschäftigt, konnte ich zum Teil aufarbeiten“. empCARE versteht sich als Beitrag dazu, dass Pflegende mit sich selbst empathisch umgehen, und das ist die Voraussetzung dafür, dass sie die Menschen erreichen, die sie pflegen. In Abwandlung der Worte von Sandro Pè ließe sich vielleicht zusammenfassen: „Die Pflegenden müssen sich selbst emotional erreichen, sonst sperren sie sich, wollen ihre Patienten nicht empathisch versorgen oder verweigern die Arbeit.“
Literatur
Altmann, T. (2015). Empathie in sozialen und Pflegeberufen – Entwicklung und Evaluation eines Trainingsprogramm. Wiesbaden: Springer.
Nerdinger, F.W. (2003). Emotionsarbeit und Burnout in der gesundheitsbezogenen Dienstleistung (S. 181-197). In A. Büssing & J. Glaser, J. (Hrsg.). Dienstleistungsqualität und Qualität des Arbeitslebens im Krankenhaus. Göttingen: Hogrefe.
Rosenberg, M. (2002). Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens (2. Auflage). Paderborn: Junfermann.