Einblicke in Libyens Internierungslager: Orte des Leidens

10. November 2017 | Gastkommentare | 0 Kommentare

Seit mehr als einem Jahr leistet Ärzte ohne Grenzen medizinische Hilfe für Flüchtende, Asylsuchende und Migranten, die in Internierungslagern in Tripolis unter menschenverachtenden Bedingungen festgehalten werden. Die Inhaftierung fügt den Menschen Schaden zu und verursacht unnötiges Leid. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Mehrheit der psychischen und physischen Beschwer – den der Inhaftierten, die medizinische Behandlung erfordern. Menschen werden willkürlich gefangen gehalten, ohne ihre Inhaftierung rechtlich anfechten zu können und nahezu ohne konsularischen Beistand oder Kontakt zur Außenwelt. Libyen ist kein Rechtsstaat. Es gibt kaum Aufsicht über die Internierungslager, geschweige denn eine Regulierung. Es gibt keine formale Registrierung der Eingesperrten und keine Dokumentation über Inhaftierungen und Entlassungen. Sobald Menschen in einem Lager eingesperrt werden, kann niemand herausfinden, was mit ihnen geschieht. Manche werden für einen längeren Zeitraum gefangen gehalten, manche werden in andere Internierungslager verlegt oder an unbekannte Orte gebracht. Andere verschwinden spurlos. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen wurden täglich Zeugen, wie viel unnötiges Leid den Menschen geschieht, die unter solchen Bedingungen gefangen gehalten werden. Medizinische Hilfe kann dieses Leid nur sehr begrenzt lindern. Ärzte ohne Grenzen fordert die sofortige Freilassung von willkürlich eingesperrten Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten aus menschenunwürdigen Internierungslagern in Libyen.

Frauen und Kinder in dem
Internierungslager für Frauen
in Sorman, etwa 60 Kilometer
westlich von Tripolis. (C) Guillaume-Binet_Myop

In den Internierungslagern werden auch Kinder, Babys und Schwangere festgehalten. Dort leben Hochschwangere, aber auch Frauen, die gerade erst schwanger wurden, obwohl sie bereits seit Monaten inhaftiert sind. Die schlechten Lebensbedingungen haben für die Frauen negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihre Überlebenschancen, falls es zu Schwangerschaftskomplikationen kommt. Frauen gebären in den Lagern ohne medizinische Hilfe. Der jüngste Patient, den eines unserer Teams gesehen hat, war gerade einmal fünf Stunden alt und in der vorausgegangenen Nacht im Lager zur Welt gekommen. Wenn ein medizinischer Notfall nachts auftritt oder wenn es in der Nähe des Lagers Kämpfe oder Unruhen gibt, kann es für Helfer zu gefährlich sein, dringend benötigte medizinische Versorgung zu bieten. Dies kann zu tödlichen Folgen für Mutter oder Neugeborenes führen.

Inhaftierte, die vermutlich mit HIV,
Tuberkulose und anderen Krankheiten
infiziert sind, werden in einer Zelle
im Internierungslager Trig al-Matar
von anderen Gefangenen getrennt. (C) Guillaume-Binet Médecins-Sans-Frontières

Diejenigen, die die Menschen inhaftieren, garantieren ihnen keinen Zugang zu medizinischer Hilfe. Eine Handvoll humanitärer Organisationen bietet medizinische Hilfe. So zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen und Einrichtungen der Vereinten Nationen, die in der Lage sind, unter äußerst unsteten und unsicheren Bedingungen zu arbeiten. Die medizinische Hilfe von Ärzte ohne Grenzen wird dabei sehr erschwert: Unsere Teams von Ärzte ohne Grenzen haben keinen ungehinderten Zugang zu Männern, Frauen und Kindern in den Lagern. Nicht immer wird uns die volle Freiheit gegeben, um einschätzen zu können, welche Patientinnen und Patienten wir untersuchen und behandeln müssten. Es gibt Lager, in denen Menschen vor Ärzte ohne Grenzen versteckt werden. Für unsere Ärzte von Ärzte ohne Grenzen ist es extrem schwierig, die Behandlung inhaftierter Patientinnen und Patienten zu überwachen. Der Zugang zu Lagern wird zeitweise eingeschränkt oder Patientinnen und Patienten verschwinden von einem Tag zum nächsten.

Eine Gefangene mit Verätzungen an
den Beinen im Internierungslager für
Frauen in Sorman, etwa 60 Kilometer
westlich von Tripolis. (C) Guillaume-Binet_Myop

„Wenn sie keine medizinische Hilfe bekommen hat, glaube ich nicht, dass sie noch lebt. Ich kenne ihren Namen nicht und weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Die Wachen haben mich daran gehindert, mit ihr zu sprechen. Sie gehörte zu einer Gruppe von Frauen, die im Hof eines Internierungslagers nahe der Küste, rund 60 Kilometer westlich von Tripolis festgehalten wurde. Auf dem Weg nach Europa waren die Frauen im Mittelmeer von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und in das Internierungszentrum zurückgebracht worden. Viele hatten schwere Verätzungen an ihren Beinen. Salzwasser war in das Schlauchboot eingedrungen und hatte mit verschüttetem Benzin am Boden des Boots reagiert. Dort saßen die Frauen. Wenn Haut länger dieser giftigen Mischung ausgesetzt ist, kommt es zu Verätzungen. Die Frau mit dem pinkfarbenen Tuch hatte großflächige Verletzungen an ihren Beinen. Sie saß still auf dem Boden und atmete flach. Auf ihrem Gesicht waren die Schmerzen erkennbar. Die anderen Frauen vertrieben mit ihren Kopftüchern die Fliegen, die sich auf den Wunden niederließen. Jemand hatte versucht, die Verätzungen mit einem schmutzigen Verband abzudecken. Eine der Frauen flüsterte mir zu: ‚Wir haben Angst. Hier möchte niemand bleiben. Wir wollen nach Hause. Sie tun uns weh. Sie schlagen uns …‘ Doch sie hörte auf zu sprechen, als die Wachen näherkamen. Einige der Frauen hatten bereits drei Mal versucht, über das Meer aus Libyen zu fliehen, doch sie wurden jedes Mal von der libyschen Küstenwa – che abgefangen und in ein Internierungslager zurückgebracht. Ich weiß nicht, was mit der Frau mit dem pinkfarbenen Tuch passiert ist. Wenn sie keine medizinische Hilfe bekommen hat, glaube ich nicht, dass sie noch lebt.“ Guillaume Binet, März 2017.

„Europas Grenzen rücken immer weiter von Europa weg. Wollen wir akzeptieren, dass das Schicksal von Flüchtenden ebenso von uns wegrückt, uns nicht mehr berührt?“, fragt Marcus Bachmann, Leiter für humanitäre Angelegenheiten von Ärzte ohne Grenzen Österreich. „Insbesonders wenn Flüchtende unter menschenverachtenden Bedingungen festgehalten werden, wie es in libyschen Internierungslagern der Fall ist. Was Flüchtlinge und Migranten in Libyen erleiden, sollte unser kollektives Gewissen und das der demokratisch gewählten europäischen Regierungen zutiefst erschüttern.“

 

Weitere Informationen und Bilder unter: https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/sites/default/files/attachments/2017-broschure-libyen-orte-des-leidens-aerzte-ohne-grenzen.pdf

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)