(C) Mieth
Der katholische Moraltheologe Dietmar Mieth hat mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Irene eigentlich etwas Unglaubliches geschaffen. Eine Brustkrebs-Diagnose hat für das gemeinsame Leben des Ehepaars Mieth einen krassen Einschnitt bedeutet. Für Irene Mieth ist es von Bedeutung gewesen, auf dem Weg in den Tod vieles selbst bestimmen zu können. Ihrem geliebten Mann hat sie Aufzeichnungen und Tagebucheinträge hinterlassen, die das Fundament für dieses lebensnahe Buch über Sterben und Leben gewesen sind. Christoph Müller hat den Austausch mit Dietmar Mieth gesucht.
Christoph Müller Das Buch „Sterben und Lieben“ ist ein Dokument einer beeindruckenden Weg-und Liebesgemeinschaft, verehrter Professor Mieth. Was hat sie motiviert, diese persönlichen Zeugnisse öffentlich zu machen?
Dietmar Mieth Zum einen hat meine Frau ja als Autorin für Leser geschrieben, wenn sie auch nicht direkt an ein Buch dachte. Zum anderen wollte ich ihr auch ein Denkmal setzen. Zum dritten hielt ich es für sinnvoll, diesen Konflikt, um Selbstbestimmung an unserem Fall zu beschreiben. Schließlich handelt es sich auch um ein Glaubenszeugnis: wie Liebe im Sterben und im Tod weiterlebt und wie dies im Leben begründet ist.
Christoph Müller Wenn Sie auf den Weg in den letzten Wochen und Monaten mit Ihrer Frau Irene zurückblicken, dann hat es sicher Veränderungen gegeben, wie Sie die eine oder andere Diskussion heute führen. Inwieweit hat sich der Diskurs über den Begriff der Selbstbestimmung verändert?
Dietmar Mieth Ich sah Selbstbestimmung zuvor unter dem Gesichtspunkt einer Verschiebung der Verantwortung vom gesellschaftlichen „Wir“ auf das Individuum in seiner Bedrängnis. Selbstbestimmung also im Sparprogramm von Medizin und Pflege, als Alternative zur Fürsorge in der Familie, im Krankenhaus, im Pflegeheim. Letzteres eher abschreckend. Dagegen habe ich geschrieben („Selbstbestimmung, Über Wille und Würde der Sterbenden“, 2009). Meine Frau bestand dagegen darauf, ihre Entscheidungen als Muster für ein soziales Bekenntnis zu betrachten. Was auch immer von außen andrängt: für sie war es nicht eine soziale Zuweisung als Ursache ihrer Selbstbestimmung, sondern sich fühlte sich nur an sich selbst und ihren Glauben gebunden.
Christoph Müller Dieses Buch ist aus meiner Sicht ein Beweis dafür, dass Treue und Vertrauen zu einem gemeinsamen Weg gehören. Welche Bedeutung haben Treue und Vertrauen für Sie, wenn Sie auf die Zeit des Leidens und Sterbens Ihrer Frau blicken?
Dietmar Mieth Treue und Vertrauen sind in der ersten Zeit der gegenseitigen Liebe leicht, und sie werden durch positive Erfahrungen verstärkt. Der gemeinsame Weg zeigt auch, wo sich Treue und Vertrauen erneut bewähren müssen. Dadurch entsteht eine gegenseitige Verlässlichkeit, in der man einander vertreten kann als wäre man die geliebte Person selbst. In der Zeit des Kranksein und des Sterbens konnte ich das vorbehaltlose Vertrauen meiner Frau erfahren und es mit meinem Vertrauen in ihre Kompetenz zu entscheiden beantworten.
Christoph Müller Eine fundamentale Bedeutung hat für Sie die „gemeinsame Erinnerung“. Sie haben die „gemeinsame Erinnerung“ als tragend bezeichnet in der Zeit des gemeinsamen Weges. Gilt dies heute noch, wenn Sie die Wege alleine gehen?
Dietmar Mieth Ja, das gilt weiterhin. Das Alleinsein nach dem Zweisein ist wie eine halbierte Existenz. Die Erinnerung hebt die Halbierung auf. Durch Erinnerung entsteht Gegenwart. Erfahrung ist wiederholte Erinnerung an das „Fühlen des Fühlens“, das mit der Erinnerung wieder aufersteht. Den Schmerz nimmt dies nicht, aber es gewährt Trost darin.
Christoph Müller Als sie über den Begriff der Selbstbestimmung schreiben, betonen Sie, dass der Einzelne nicht um die Sorge um sich selbst herumkomme. Können Sie dies noch einmal konkretisieren?
Dietmar Mieth: Die Sorge um sich selbst ist etwas, das ich vom Philosophen Kant übernehme, der in diesem Zusammenhang auch von Selbstachtung gesprochen hat. Ich habe einmal über Thomas Mann („Epik und Ethik“, 1976) gearbeitet und ich erinnere mich an seinen Spruch: „Jeder, der sich selbst nicht wichtig nimmt, ist bald verkommen“. Gewiss kann und soll der Mensch auch „selbstlos“ sein, wenn er sich dem Dienst am Anderen unterstellt, aber er sollte nicht zum „Opfer“ werden. Das Selbst zurücknehmen: ja, aber keine „Aufopferung“. Dies sollte man auch in der christlichen Spiritualität bedenken.
Christoph Müller Sie äußern die Überzeugung, dass das Bewusstsein des Angenommenseins durch Gott, das Leben im Gottvertrauen ein wichtiges Gefühl des Geborgenseins sei. Aus eigenem Erleben kann ich dies unterstreichen. Wie prägend war dies für die gemeinsamen Wege? Wie überlebenswichtig ist dies nach dem Verlust des geliebten Menschen?
Dietmar Mieth: Zunächst hat mich das gläubige Vertrauen meiner Frau immer in unserem Zusammenleben gestärkt. Ein geteilter Glaube ist ein doppelt starker Glaube. Das spüre ich jetzt, wenn ich auf meinen eigenen, individuellen Glauben zurückgeworfen bin, der sehr durch meine wissenschaftliche Beschäftigung bestimmt, aber auch befragt ist. Also tröstet mich jetzt der Glauben weniger als früher, er fordert mich noch mehr zum Denken und zum Mitfühlen heraus. Ich möchte daher betonen, dass gläubige Liebe ein Halt ist, stärker als das Bleiben im Glauben des Verlassenen.
Der Glaube ist nicht etwas für sich selbst ohne die Gemeinsamkeit. Das wird auch in den johanneischen Schriften oft betont. Die Gemeinsamkeit führt mich jetzt wieder in die Kraft der Erinnerung, in das „Fühlen des Fühlens“ zurück.
Christoph Müller Herzlichen Dank, lieber Herr Mieth, für das gemeinsame Gehen an existentielle Fragen des Alltags.
Das Buch, um das es geht
Irene & Dietmar Mieth: Sterben und Lieben – Selbstbestimmung bis zuletzt, Herder-Verlag, Freiburg im Breisgau 2019, ISBN 978-3-451-38315-1, 160 Seiten, 18 Euro.