Eigenes und Fremdes

14. Februar 2021 | Bildung, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Wie Erkrankungen professionell beschrieben und subjektiv empfunden werden, unterliegt im Rahmen sozialer Verständigungsprozesse den Deutungen der Beteiligten. In diese Deutungen fließen in unterschiedlicher Form ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren ein. Dabei ist es nicht selbstverständlich, dass am Ende eines gemeinsamen Gesprächs (z.B. im Rahmen der Anamnese) eine gemeinsame Deutung steht, welche die Krankheitsursache, das Krankheitsverständnis und als die notwendig betrachteten Heilungsaktivitäten umfasst. Gerade bei abweichenden Deutungen ist das gegenseitige Verstehen jedoch Voraussetzung für einen gelingenden Heilungs- oder Linderungsprozess. Dafür bedarf es wiederum eines breiten Vorwissens seitens der Pflegefachpersonen, wenn sie die Bedürfnisse fremdkultureller Patienten richtig einschätzen und sich nicht einfach von den eigenkulturellen Voraussetzungen leiten lassen wollen. Im Folgenden sollen Hinweise auf mögliche Deutungsweisen von Krankheit und ihre Konsequenzen gegeben werden, die aber immer am Individualfall überprüft werden müssen und nicht einfach grundsätzlich und verallgemeinernd angenommen werden dürfen.

Religiöse Orientierungen

Während einerseits im deutschen Alltag ein Bedeutungsverlust der Religion in der breiten Bevölkerung beobachtbar ist (Dietrich, 2020), dienen Religionen bzw. spirituelle Traditionen andererseits der Sinngebung in Krisensituationen, wie im Krankheitsfall und im Leben allgemein. Sie stellen eine Verbindung des Menschen zu einer höheren Instanz oder Wirklichkeit dar, die seine weltliche Existenz transzendiert. Zudem haben sie eine hohe sozialintegrative Bedeutung für die verschiedenen Migrantengruppen bei uns. In der Regel sind sie mit alltagsrelevanten Ge- und Verboten verknüpft.

(C) Andrea Zielke-Nadkarni

Während Christentum, Judentum und Islam hierzulande vertraute Begriffe sind, kommen insbesondere mit den Geflüchteten der jüngsten Zeit auch Gläubige sehr fremder Glaubensrichtungen nach Deutschland und damit in unser Gesundheitssystem. Dazu gehören Ahnenkulte, magisch-religiöse Vorstellungen von Verwünschungen / Verhexungen, (die es aber auch im so genannten „Volksislam“ gibt). So z.B. im Vodou, der in Westafrika (Ghana, Togo, Benin, Nigeria oder Kamerun) weit verbreitet ist. Folgerichtig werden zur Heilung nicht nur Ärzte konsultiert, sondern Heiler aller Couleur aufgesucht: z.B. Magier, Hoças (islamische Geistliche in/aus der Türkei), Vodoupriester.

Je strenggläubiger eine Person ist, desto gewichtiger wird die Befolgung der jeweiligen Ge- und Verbote im Alltagsleben und desto stärker sind auch Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen mit der religiösen Orientierung verbunden. Damit werden sie für die Pflege relevant und es ist eine Frage der Perspektive und der Offenheit, ob sie (nur) befremdlich wirken oder als besonders stimulierend wahrgenommen werden! Dass der Glaube Wunder bewirkt, ist auch in Pflege und Schulmedizin hinlänglich bekannt. Ebenso, dass echte Zuwendung den Heilungsprozess positiv beeinflusst.

Krankheits- /Gesundheitsverständnis

Im Judentum wie im Islam, die wie das Christentum als monotheistische Religionen nur einen Gott kennen, gilt, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist und der Mensch daher verpflichtet, seinen Körper gesund zu erhalten.

Krankheit als Strafe oder Prüfung Gottes oder auch verschiedener Götter oder Ahnen (im Ahnenkult) ist Bestandteil vieler Religionen: so des Christentums, des Islam, des Judentums, des Vodou, des Hinduismus. Mit einer Erkrankung wird der Mensch einer Probe unterzogen, um seinen Glauben und seine Frömmigkeit zu testen und/oder seine Vergehen/Sünden zu sühnen. Patienten, die Krankheit so verstehen, sind möglicherweise aktivierender Pflege gegenüber nicht aufgeschlossen, sondern betrachten ihre Erkrankung als hinzunehmen und passiv durchzustehen.

Für manche Patienten wird es dann besonders schwierig, wenn sie ein sehr gottesfürchtiges Leben leben und dennoch Schicksalsschläge wie schwere Krankheiten erdulden müssen. Die Beschreibung der Türkin Frau B. macht dies nachvollziehbar:

„Aber das alles ist doch Schicksal. Als Mensch kann man das nicht beeinflussen. (…) Ich bin so traurig. Warum Allah mit mir so hart umging, versteh’ ich nicht. Ich tue alles für meinen Glauben, ich bete am Tag fünf Mal. Ich bin sonst auch kein schlechter Mensch. Ich bin manchmal so ratlos.“ (Zielke-Nadkarni, 2003, 353)

Während Patient*innen mit Migrationshintergrund also schulmedizinische Maßnahmen evtl. ohne große Eigeninitiative nur tolerieren oder sogar ablehnen, benötigen sie vielleicht zusätzlich spirituelle Unterstützung durch traditionelle Heiler und Geistliche ihrer Glaubensrichtung.

Krankheit kann durch Verwünschungen / Verhexungen / Schadenszauber ausgelöst werden. In vielen Kulturen kann z.B. der so genannte „böse Blick” krank machen oder sogar tödlich sein: dies gilt im gesamten Mittelmeerraum, Südamerika und Asien. Der “böse Blick“ ist verbunden mit Neid, Missgunst oder Abneigung u.ä. Er kann von jedem kommen, wird aber insbesondere Menschen mit blauen Augen sowie auch Dämonen zugeschrieben. Die Türkin Frau A. berichtet:

(C) Andrea Zielke-Nadkarni

„Aber wenn einer durch Angst oder vom bösen Blick getroffen ist oder durch ungewisse Weise erkrankt ist oder dass wenn jemand verhext ist, dann kann ein Hoça vielleicht helfen, wenn diejenige an Hoça glaubt. Es gibt gute ‘büyü’ (Zauber, d.V.), auch schlechte ‘büyü’ und verschiedenes zum Heiraten, zum Krankmachen, ja es ist unterschiedlich und viel ‘büyü’ gibt.“ (Zielke-Nadkarni, 2003, 354)

 

 

 

 

(C) Andrea Zielke-Nadkarni

Als Schutz und Gegenmaßnahme werden beispielsweise in Indien den Kindern die Augen mit einem Kajalstift schwarz umrandet (Foto  P1090719), vielfach werden Amulette getragen, so bei den Tuareg in Nordafrika . Patient*innen mit türkischem Migrationshintergrund, besitzen manchmal Amulette, die sehr klein und unauffällig sein können und in Stoff eingenähte Koranverse enthalten. Des Weiteren werden im türkisch-arabischen Raum „blaue Augen“ auf- bzw. umgehängt, z.B. am Innenspiegel im Auto, in der Wohnung oder als Schmuckgegenstand. Weit verbreitet ist zur Unheilabwehr auch die Hand der Fatima, der jüngsten Tochter des Propheten Mohamed, häufig verbunden mit dem blauen Auge.

Das türkische Wort für Talisman bedeutet Schleier oder Wand, die man mit Hilfe eines Hoças zwischen sich und dem Bösen errichtet. Dies lässt sich an folgendem Beispiel anschaulich verdeutlichen:

Frau G.: „Meine Schwester z.B. … die hatte so’n Kettchen an mit so’m Auge, das ist ja gegen „nazar“ (Türkisch: böser Blick, d.V.), und die war mal bei jemand und hat mir erzählt: ‘Die hat mich andauernd angeguckt‘, andauernd hätte se se angeguckt, die Frau. Und dann war das Auge entzwei … richtig geplatzt. Das ist der böse Blick. Meine Schwester hatte Glück, weil sie das Auge dran hatte.“ (Zielke-Nadkarni, 2003, 354)

 

Daneben werden von den traditionellen Heilern Rituale durchgeführt, Gebete gesprochen und besondere Devotionalien gesegnet. Letztere sind religiös bedeutsame Gegenstände, die der Verehrung der jeweiligen Gottheiten oder der Abwehr von Schadenszaubern dienen. Dazu gehören u. a. die Amulette (mit Koranversen: Islam), (animistische Religionen) oder auch das Wasser aus dem heiligen Brunnen Zamzam aus Mekka (Islam), mit Heilkräutern bestückte Flaschen (Vodou), Rosenkränze und Heiligenfiguren (Katholizismus), Götterbilder (Hinduismus).

All diese Gegenstände müssen, wenn vom Patienten gewünscht, im/am Krankenbett bzw. am Körper belassen oder zu Untersuchungen und Operationen mitgenommen werden. Da subjektive Vorstellungen, wie eine Besserung erreicht werden kann, den Heilungsprozess positiv beeinflussen können, sollten sie von den Pflegenden respektiert und berücksichtigt werden, was durch eine sterile Verpackung der Devotionalien (z.B. für OPs) eigentlich immer möglich ist.

Quelle Foto Sakpata: Soul of Africa Museum, Essen (Foto wurde von Verfasserin gemacht (C )Andrea Zielke-Nadka

Auch bei afrikanischen Patienten aus den o.g. Vodou-Ländern sind Vorstellungen von Verhexungen und Schadenszauber weit verbreitet. Schadensmagier nutzen Geheimwissen und Giftpflanzen für ihre Aktivitäten. Auch stehen bestimmte Götter für spezifische Krankheiten. So beispielsweise Sakpata: er ist der Pockengott, dem eine pockennarbige Krankenmaske gewidmet ist. Er gehört zu den Erdgottheiten, die neben den Himmelsgöttern dem Schöpfergott Mawu Lisa untergeordnet sind. Im Vodou (wie auch z.B. im Hinduismus) wird den Göttern ein Opfer dargebracht. Sakpatas bevorzugte Opfergabe ist der Schnaps.

Krankheit gilt entweder als Folge einer Verfehlung, die wieder gut gemacht werden muss, oder einer Zauberwirkung und wird daher psychosomatisch bzw. unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes behandelt. Vodou-Priester sind sehr gute Psychologen. In einen Trancezustand versetzt, hat der Mensch außergewöhnliche Fähigkeiten, die zur Heilung oder für bestimmte Riten genutzt werden. Im Trancezustand kann der Vodou-Priester oder die Priesterin den Einfluss von Dämonen brechen. So beobachtete der Ethnologe und Journalist Christoph Henning die Heilung eines jungen suizidgefährdeten Mädchens, dem die Schulmedizin nicht hatte helfen können. Ein Vodou-Priester versetzte das Mädchen in Trance und ordnete an, es zu beerdigen. Nach drei Stunden ließ der Priester, der neben dem Grab in einen Schlaf versank, die Erde wieder entfernen. Das Mädchen wurde unversehrt geborgen, aus dem Trancezustand geholt und sagte, es habe den Tod gesehen und wolle weiterleben (Henning, 2013, 11 f.). Henning berichtete auch von einer Patientin, die lange Zeit in der Psychiatrie in Deutschland verbrachte, bis durch einen glücklichen Zufall erkannt wurde, dass sie sich in einem Trancezustand befand. Ein über das Internet hinzugeschalteter Vodou-Priester konnte sie daraus befreien und sie konnte entlassen werden (Gespräch mit der Verfasserin 2018).

Krankheit als Störung des Gleichgewichts ist eine andere weltweit verbreitete Vorstellung. Sie besteht z.B. bei zahlreichen Menschen aus Südamerika und ist aus der chinesischen Medizin mit ihren Konzepten Yin und Yang bekannt. Eine reine Symptombekämpfung ist dieser Vorstellung fremd, nach der Mensch und Umwelt als Einheit betrachtet werden. Krankheit gilt immer als Ausdruck eines Ungleichgewichts des Menschen, des Sozialgefüges, der Natur und der übernatürlichen Kräfte, das wieder ausgeglichen werden muss. Soziale Probleme werden also über den Körper ausgedrückt und mittels spezifischer Rituale behandelt.

Das persönliche Verständnis von Wirkzusammenhängen beeinflusst Therapie- und Therapeutenwahl (z.B. das Aufsuchen eines Geistlichen, einer heiligen Quelle oder eines Mediziners). Mangelnde Schulbildung und damit fehlende anatomisch-physiologische Kenntnisse wirken sich auf die Vorstellungen von Patient*innen von ihrem Körper und seinen Funktionen aus. Damit sind auch Symptome (ICD-10) für sie schwer in schulmedizinisch nachvollziehbare Worte zu fassen und pflegerisch-medizinische Erklärungen für sie wenig bis unverständlich. Um sie nachvollziehbarer zu machen, sollten neben einer einfachen sprachlichen Darstellung Bilder und anatomische Objekte zu Hilfe genommen werden.

Ernährung

Mit der Religion verbunden, sind häufig Verhaltensregeln für viele Alltagsdinge, u.a. die Ernährung. Die Möglichkeit, sich in gewohnter Weise zu ernähren, ist ein wichtiger Beitrag zur Illustration der Akzeptanz von Patient*innen mit Migrationshintergrund in unseren Kliniken. So essen viele westafrikanische Patient*innen zu ihrer Hauptmahlzeit Griesbrei, gestampften Maisbrei, die kartoffelähnliche Wurzel der Yams-Pflanze, Süßkartoffeln oder Kochbananen zusammen mit einer sehr scharfen Tomatensoße mit Palmöl und Zwiebeln; beliebt ist auch Hühnerfleisch. Im Vodou wird zur Feststellung der Krankheitsursache und der Behandlungsoptionen ein Orakel befragt. Jede Ethnie hat ihre eigene Form der Orakelbefragung. Das Orakel kann auch den Genuss bestimmter Speisen verbieten, z.B. wenn durch Fleisch eine Wurmerkrankung verursachte wurde. Auf Speisewünsche sollte also Rücksicht genommen werden.

Zugleich zeigt die Literatur, dass Anpassungsreaktionen an die Aufnahmegesellschaft stattfinden: so nehmen arabisch-sprechenden Migranten und Geflüchtete in Europa mehr Obst und  Gemüse zu sich, jedoch auch mehr nährstoffarme und energiereiche Nahrungsmittel, während sie zugleich religiöse Ernährungsvorschriften einhalten (Elshahat  & Moffat, 2020).

Bekannt ist, dass strenggläubigen Muslime Alkohol untersagt ist, auch in Medikamenten und dass sie wie auch Juden Schweinefleisch und dessen Produkte in allen Formen (in Gelatine, Fertiggerichten, Soßenpulvern etc.) ausschließen. Produkte vom Schwein werden als schädlich betrachtet und als „haram“ (arabisch: verboten oder Tabu) bezeichnet. Nur „geschächtete“ Tiere dürfen verzehrt werden, d.h. Tiere, die mittels einer bestimmten Technik schnell und möglichst schmerzlos getötet wurden und vollständig ausgeblutet sind. Erlaubte Lebensmittel, z.B. Obst und Gemüse, werden als „halal“ (arabisch: rein oder erlaubt) bezeichnet, ein Wort, das sich manchmal auch außen an arabischen Lebensmittelgeschäften findet. Die dritte Bezeichnung: „makruh“ (arabisch: verpönt, abzulehnen), bezieht sich auf das Essverhalten, z.B. sollte man nicht bis zum Völlegefühl essen oder stehend Getränke verzehren.

Typisches indisches Mahl, das mit der
rechten Hand ohne Besteck verzehrt wird.
(C) Andrea Zielke-Nadkarni

Im islamischen Fastenmonat Ramadan können Kranke (wie auch Kinder, Altersschwache, Schwangere und stillende oder menstruierende Frauen) auf das Fasten verzichten. Aber viele Kranke möchten gerade in dieser Zeit religiös leben und wollen daher fasten und auch keine Medikamente einnehmen. Hier kann als Argument die Pflicht zur Gesunderhaltung des Körpers helfen.

In verschiedenen Kulturen verwendet man kein Besteck für die Mahlzeiten. Für Moslems wie Hindus gilt die linke Hand als „unrein“, da sie zur Reinigung nach dem Toilettengang eingesetzt wird. Daher wird vorwiegend mit der rechten Hand gegessen, indem Brot oder Reiskügelchen dazu dienen, Soßen aufzunehmen. Die linke Hand hat Hilfsfunktion, und auch Pflegende sollten Nahrung und alles, was sie dem Patienten geben, mit rechts (an-)reichen.

In der traditionellen orthodoxen jüdischen Küche gelten die Speisegesetze, die sogenannten „Kaschrut“ (hebräisch), nach denen grundsätzlich Fleisch- und Milchspeisen getrennt gelagert, zubereitet und verzehrt werden: ein Butterbrot mit Schinken zum Beispiel ist daher nicht gestattet. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Küche mit allen Utensilien doppelt ausgestattet ist – vom Löffel bis zum Herd. Grundsätzlich wird darüber hinaus zwischen erlaubten (jiddisch: koscher) Speisen (Gemüse, Obst, Rind-, Schafs-, Ziegenfleisch und Wild) und nicht erlaubten (jiddisch: trefa) Speisen unterschieden, weil letztere als körperlich oder seelisch schädlich gelten. Neben Schweinefleisch ist z.B. der Genuss von Kaninchen- und Pferdefleisch untersagt. Zur dritten Gruppe gehören neutrale Lebensmittel (jiddisch: parwa), z. B. Eier, Honig, Gemüse und Früchte, die sowohl zu milchhaltigen als auch zu fleischhaltigen Gerichten verzehrt werden können. Fisch ist gestattet, wenn er Schuppen und Flossen hat, Aal oder Tintenfisch sind folglich nicht erlaubt. (Fleischmann, 2009)

Bewohner*innen jüdischer Pflegeheime in  Deutschland erwarten in der Regel eine koschere Küche, auch wenn sie selbst die Speisegesetze nie eingehalten haben.

Ein wichtiger Aspekt in der Altenpflege ist die grundsätzliche Haltung zur Versorgung jüdischer Pflegebedürftiger mit Nahrung: in Erinnerung an die Konzentrationslager ist für sie und ihre Familien die Vorstellung, dass ein Mensch hungert, meist unzumutbar und Nahrungsanreichung wie auch künstliche Ernährung selbstverständlicher Teil der Versorgung, da jeglicher Anklang an die Lagersituation vermieden wird.

Wunschgemäße Ernährung ist eng verbunden mit Wohlbefinden. Jedwede diätetische Empfehlung sollte sich daher nach den konkreten Ernährungsgewohnheiten des jeweiligen Patienten richten und die speziellen religiösen Vorschriften dazu berücksichtigen, die der Patient einhalten möchte.

Hygiene, Ausscheidung und Intimpflege

Reinheit besitzt in vielen Kulturen einen hohen Stellenwert und hat eine äußerliche Seite (Sauberkeit) und eine innere, die spirituelle Reinheit oder Reinheit der Seele. Obwohl zwischen beiden unterschieden wird, besteht dennoch ein Zusammenhang, da die äußere Reinheit häufig sinnbildlich für die innere steht. Daher zieht man auch Straßenschuhe in muslimischen Haushalten aus, denn im Haus wird gebetet, weshalb dies ein rein zu haltender Ort ist. Pflegende können gern ihre eigenen Hausschuhe mitbringen.

Im Judentum wie im Islam sind Körperausscheidungen traditionell mit dem Konzept der „Unreinheit“ belegt. Um die mit der Ausscheidung veräußerlichte Unreinheit zu beheben, von der dann auch die Umwelt als mitbeeinträchtigt gilt, sind rituelle Waschungen zu vollziehen. So sind auch die fünf täglich vorgeschriebenen Waschungen vor dem Gebet im Islam zu verstehen oder der soziale Rückzug während und die rituelle Reinigung nach der Menstruation oder am Ende des Wochenflusses nach einer Geburt in Islam, Judentum und vielen weiteren Kulturen.

Im Rahmen der Intimpflege sind Tabus zu beachten, die die Interaktion zwischen Pflegeperson und Patient betreffen. Hier ist insbesondere die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Pflege zu nennen, wobei diese nicht nur grundsätzlich für (muslimische) Mädchen und Frauen unabdingbar ist, sondern auch von vielen (muslimischen) Jungen und Männern gewünscht wird. Da viele geflüchtete Mädchen und Frauen im Zuge der Flucht sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen durchmachen mussten, sind hier besondere Achtsamkeit und viel Einfühlungsvermögen geboten. Während der Körperpflege sollten zudem nur die notwendigen Körperteile unbedeckt sein und alles gegenüber sonstigen Personen weitgehend abgeschirmt stattfinden. Da man nicht im eigenen Schmutz baden möchte (dies gilt übrigens auch für Japaner*innen), werden vielfach Duschen gewünscht. Bettlägerige Patient*innen mit diesem Wunsch können auch mit Waschschüssel und Wasserkrug versorgt werden.

Kleidung/Körperschmuck

Während im Islam die Frau als die Verführende gilt, betrachtet das Judentum das sexuelle Begehren des Mannes als Auslöser für die orthodoxen Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften  (Hartman 2007: 51 ff.). Im Islam wie im orthodoxen Judentum wird von Mädchen und  Frauen Sittsamkeit gefordert.

„Es handelt sich einerseits um eine allgemeine religiöse Norm, die von Juden Respekt vor den Gefühlen anderer Menschen fordert“ (Gellis 2015 zit. n. Schrage 2018: 144), andererseits um eine Verhaltensnorm für religiöse Juden, „die ihnen ein sittsames Verhalten in der Öffentlichkeit sowie die Verhüllung bestimmter Teile ihres Körpers (vorschreibt, d.V.)“ (zit. n. Ruttenberg 2009 in Schrage 2018: 144).

(C) Andrea Zielke-Nadkarni

„Eine fehlende Verhüllung macht den weiblichen Körper nicht nur sichtbar, sondern sogar verfügbar. Das orthodoxe Judentum erscheint in diesem Deutungsmuster als Gegenkultur, in welcher die Würde der Frau gegen ihre Sexualisierung in der modernen Gesellschaft verteidigt wird. (…) Gleichzeitig ist die Kleidung auch ein Signal der Zugehörigkeit zum orthodoxen Milieu und eine äußerliche Repräsentation innerer Überzeugungen“ (Schrage, 2018, 146).

Auch Körperschmuck, wie Henna-Zeichnungen, die in bei Muslim*innen und Hindu-Frauen häufig sind und aus medizinischen Gründen manchmal entfernt werden müssen, sind wie die Bekleidungsgewohnheiten von Patient*innen grundsätzlich zu beachten und zu respektieren und Pflegebedürftige müssen dabei unterstützt werden, ihr Äußeres so zu gestalten, wie es ihnen angemessen erscheint. Dazu gehört beispielweise auch ein Kopftuch oder einen Schleier zu akzeptieren, mit denen sich eine Frau geschützt fühlt, da im Islam die Haare der Frau als Sexualsymbol gelten.

 

 

 

(C) Andrea Zielke-Nadkarni

Stellenwert der Familie

Weltweit ist die Familie die wichtigste Ressource für die Versorgung des Einzelnen, insbesondere in Ländern, in denen der Staat wenig oder keine Versorgungsfunktionen übernimmt. In Krankheitsfällen und bei Pflegebedürftigkeit leisten Familien den überwiegenden Teil der Versorgung ihrer Angehörigen. In der Familie wird – auch bei uns – primär entschieden, ob es der Hilfe von außen bedarf, wen man aufsucht und was man den externen Helfern wie mitteilt.

In der Folge kann die Abhängigkeit von der Familie zu teilweise sehr rigiden Vorschriften für ihre Mitglieder, insbesondere für Mädchen und Frauen, führen. Daher sollten Pflegende sich darüber informieren, wer in einer Familie für Entscheidungen zuständig ist, denn dies ist nicht unbedingt die Patientin selbst. Auch Erwachsene sind häufig durch das männliche Familienoberhaupt in Krankheitsfragen fremdbestimmt.

In diesem Zusammenhang sei auch der traditionelle Ehrenkodex in muslimischen Familien erwähnt. Die Keuschheit bzw. Sittsamkeit von Mädchen und Frauen ist der Garant für die Ehre ihrer Familien in ihrem sozialen Umfeld. Dies gilt für Migrant*innen aus den Ursprungsländern Türkei, Nordafrika, Staaten der Südsahara oder aus Indonesien sowie generell für Musliminnen. Ein Verlust der Ehre kann z.B. durch Handlungen der Intimpflege seitens einer männlichen Pflegefachperson bei einer muslimischen Patientin ausgelöst werden, weshalb sie nie allein sein dürfen. Auch schon ein längerer Blickkontakt kann für die ganze Familie in sozialer Hinsicht Ehrverlust und Schande bedeuten. Sind Mädchen oder Frauen entehrt, kann dies zu schwerwiegenden Folgen für sie bis zu einem Verstoß aus der Gemeinschaft oder sogar einem Sühnemord durch die männlichen Familienmitglieder führen (Kizilhan, 2006; Burkhardt, 2006). Wird eine Muslimin infolge eines Suizidversuchs stationär aufgenommen, sollte immer bedacht werden, dass dieser vielleicht aufgrund eines Ehrverlustes stattgefunden hat. Sie sollte folglich gefragt werden, wen sie als Besucher zulassen möchte. Auch Krankheit kann einen Ausdruck der Ausweglosigkeit aus einer mit Schande behafteten Situation darstellen.

Jüdische Familien bringen in Pflegesituationen, die ihre Angehörigen hilflos sein lassen, viele (oft unbewusste) Ängste mit, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden und das Verhältnis zu „den Deutschen“ nach wie vor mitbestimmen. Dies gilt für alteingesessene deutsche Juden wie für zugewanderte, von denen die meisten aus den ehemaligen GUS-Staaten stammen. (Zielke-Nadkarni, 2019: 14 ff.) Die Schrecken der Konzentrationslager, die Verfolgungserfahrungen unter den verschiedenen Sowjet-Regimes wie auch die jüngsten rechtsradikalen Auswüchse hierzulande wirken nach. Offenheit, eine Erläuterung aller Pflegeinterventionen vor Durchführung und das Erbitten der Zustimmung dazu sowie ein einfühlsamer, herzlicher Umgang, der auch eine kontinuierliche Anwesenheit von Besuchern toleriert, helfen, Ängste im Zaum zu halten und Vertrauen zu entwickeln.

Auch für geflüchtete Westafrikaner*innen gilt, dass die erste Maßnahme sein muss, Vertrauen aufzubauen. In ihren Herkunftsländern sind schulmedizinisches Pflegepersonal und Ärzte oft sehr gefürchtet:  Patient*innen aus Ghana haben u.U. die Erfahrung, von  ihnen geschlagen worden zu sein (Innocentia Ebu, Owusu & Gross, 2015); Aggressionen durch Pflegepersonal gehören zum Alltag in Togo (Kpanake, Dassa & Mullet, 2009). Unzureichende Erklärungen wie auch Vernachlässigung sind in Benin nicht untypisch, Unterwürfigkeit wird insbesondere von Patientinnen oder unverheirateten Frauen erwartet, die als zu ungebildet betrachtet werden, um sich mit ihnen über ihre Versorgung auszutauschen. (Keygnaert, Vetternburg & Temmermann, 2012)

Während sich also die Expertise der Pflegefachpersonen auf die Pflege bezieht, wäre im Blick zu behalten, dass Patient*innen mit (und auch ohne) Migrationshintergrund Experten für die Struktur und Funktion ihrer Familie und ihres Lebens sind, deren Expertise in die Pflege einzubinden ist. Eine vertrauensbildende Beziehungsgestaltung, ein ausgiebiges Assessment, Biografiearbeit und die Einbindung der Angehörigen tragen dazu bei, die notwendigen individuellen Informationen zu gewinnen. Strukturelle Probleme wie Zeitmangel, zu wenig Hintergrundwissen seitens der Pflegefachpersonen sowie fehlende adäquat vorgebildete Dolmetscher*innen können zu unterschwelligen aggressiven Spannungen führen. Dies müssen Pflegende wie Stations- und Pflegedienstleitungen erkennen und sich über die Leitungsebene kontinuierlich für Abhilfe einsetzen.

Ausblick

Kulturelle Diversität ist in unseren Kliniken vielfach zur Norm geworden. Hinzu kommt eine deutliche Vulnerabilität vieler Patient*innen mit Migrationshintergrund.

In Pflegesituationen mit Menschen mit Migrationshintergrund treffen nicht einfach verschiedene Kulturen aufeinander, sondern die Bilder, die wir voneinander haben. Wir alle leben mit verinnerlichten Bildern und Klischees, die im Alltag Orientierungsfunktion haben. Sie beinhalten primär Gegensätzliches und wir vergessen manchmal, die Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen, von denen es gerade im Leiden viele gibt.

Pauschalannahmen, Vorerfahrungen und Vorwissen müssen durch genaue Beobachtung, Aufmerksamkeit und im Dialog mit dem einzelnen Patienten auf ihre individuelle Bedeutung für ihn überprüft werden, will man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der Mensch ist in der Lage, die Perspektive eines anderen einzunehmen, auch wenn ihm dessen Erfahrungen und Denkweisen nur zum Teil vertraut sind. Perspektivwechsel ist die Grundlage personorientierter Pflege. Sich darin zu üben und auf der Basis von Verstehen und Verständnis zu einem einvernehmlichen Pflegehandeln zu gelangen, dafür bietet die Pflege an jedem Tag neue Chancen.

Literatur

Burkhart, D. (2006). Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt: WBG.

Dietrich, Chr. (2020). Der Code der Pflege. In Pflege & Gesellschaft (3), pp. 197-211.

Elshahat, S. & Moffat, T. (2020): Dietary practices among Arabic-speaking immigrants and refugees in Western societies: A scoping review. In Appetite, 11-1, Vol. 154.

Fleischmann, Lea (2009): Heiliges Essen: Das Judentum für Nichtjuden verständlich gemacht. Frankfurt am Main: Scherz.

Hartman, T. (2007): Feminism encounters traditional Judaism. Resistance and accommodation. Waltham: Brandeis University Press.

Henning, C. (2013): Vodu , vodoo, vodou spirits. Die Kraft des Heilens. Leipzig: Zweitausendeins.

Innocentia Ebu, N., Owusu, M., Gross, J. (2015): Exploring women’s satisfaction with intrapartum care at a teaching hospital in Ghana. African Journal of Midwifery & Women’s Health, 9(2), 77-82.

Kaegnaert, I., Vetternburg, N. & Temmermann, M. (2012): Hidden violence is silent rape: sexual and gender-based violence in refugees, asylum seekers and undocumented migrants in Belgium and the Netherlands. Culture, Health & Sexuality, 14(5), 505-520.

Kpanake, L. Dassa, K.S. & Mullet, E (2009): Why most Togolese people do not seek health care for malaria in health care facilities: a theory-driven inventory of reasons. Psychology, Health & Medicine, 14(4),502-510.

Kizilhan, I. (2006): „Ehrenmorde“. Der unmögliche Versuch einer Erklärung. Hintergründe – Analysen – Fallbeispiele. Berlin: Regener.

Schrage, E.-M. (2018): Jüdische Religion in Deutschland. Säkularität, Traditionsbewahrung und Erneuerung. Wiesbaden: Springer.

Zielke-Nadkarni, A. (2003): Individualpflege als Herausforderung in multikulturellen Pflegesituationen. Hans Huber: Bern.

Zielke-Nadkarni, A. (2019). Familien und ihre Traditionen. In A. Zielke-Nadkarni, C. Beckwermert, T. Lewkowicz & R. Meier (Hrsg.): Grundlagen der Pflege für die Aus-, Fort und Weiterbildung – Kultursensibel pflegen (S. 11-16).  Brake: Prodos.

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