„Die Würde Einzelner wird in der Pflege allzu oft mit Füßen getreten“

6. November 2020 | Christophs Pflege-Café, Demenz, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Aus dem Dunkel der Vergessenheit oder Verschwiegenheit holt die Pflegewissenschaftlerin Ursula Immenschuh die Scham und die Würde professionell Pflegender. Um den Weg ins Licht zu begleiten, hat die Hochschullehrerin Pflegeteams supervidiert und quasi mit der Lupe auf verdrängte Themen geschaut. Das Ergebnis ist die Studie „Unerhörte Scham in der Pflege“, die eine große Beachtung verdient hat. Einerseits um berufspolitisch den einen oder anderen Akzent zu setzen, andererseits um professionell Pflegende zur Reflexion zu ermutigen. Prof. Immenschuh hat sich den Fragen von Christoph Müller gestellt.

Christoph Müller Was hat Sie, Frau Professor Immenschuh, motiviert, die Scham professionell Pflegender im beruflichen Alltag mal wieder zu thematisieren?

Ursula Immenschuh Zum ersten Buch zu diesem Thema „Scham und Würde in der Pflege“ wollte der Mabuse-Verlag, dass es als Ratgeber geschrieben wird für Pflegende und auch für pflegende Angehörige. Ein Ratgeber enthält Ratschläge, Tipps, Do’s und Dont’s. Ich wollte gerne noch tiefer schauen, die Scham sozusagen von innen heraus verstehen. Ich beschäftige mich seit mindestens fünfzehn Jahren wissenschaftlich und persönlich bewusst mit diesem Thema. Ich habe die Geschenke kennengelernt, die die Scham für uns Menschen bereithält, wenn wir sie fühlen. Wir werden sensibler, vorsichtiger, weitsichtiger und gnädiger. Mit uns selber und mit anderen.

Christoph Müller Sie gebrauchen den Begriff der „Berufskultur“. Im Grunde ist dieser Terminus positiv besetzt. Warum vernachlässigen professionell Pflegende aus Ihrer Sicht die eigene „Berufskultur“? Hat dieses Dilemma eine Geschichte?

Ursula Immenschuh Kann man Berufskultur vernachlässigen? Berufskultur ist das was entsteht aus dem, was eine Berufsgruppe für relevant hält, wenn ich das mal verkürzt sage. Daher ist für mich Berufskultur weder positiv noch negativ. Mir ging es darum, hinzuschauen. Sicherlich ist die Berufskultur immer auch geschichtlich geprägt. Im Buch gehe ich eher auf das Hier und Jetz ein. Die Pflegekräfte haben erzählt, dass sie sich entscheiden müssen, zu fühlen oder zu funktionieren zum Beispiel. Dass es schwierig zu sein scheint, Verantwortung zu übernehmen für klar definierte Bereiche. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass das nicht personenbezogen ist, sondern dass es Kultur der Pflege ist. Das bedeutet, die meisten bewegen sich darin, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was sie bewusst wahrnehmen ist die Müdigkeit, die daraus entsteht, Frustration, ohne dass man genau sagen könnte, warum das so ist. Für mich hat es etwas Entlastendes, die Berufskultur zu sehen, denn dadurch kann sortiert werden, was ich als Person verändern muss und kann, und was nicht direkt in meiner Macht steht. Gleichzeitig ergibt sich daraus ein Auftrag, aufzuzeigen, was sich ändern sollte, und mich dabei ohnmächtig zu fühlen. Denn ich werde alleine die Berufskultur nicht ändern können, auch nicht mit einem Buch.

Christoph Müller Spannend erscheint Ihr Zugangsweg über die Ethnopsychoanalyse. Es wird deutlich, dass sich Pflegende kulturell innerhalb des Lebenskontexts definieren müssten. Gleichzeitig geht es darum, wie sich ein Mensch in diesem Umfeld bewegt. Was macht den Charme der Ethnopsychoanalyse aus?

Ursula Immenschuh Diese Methode eignet sich darum so gut für dieses Thema, weil man mit dem Unbewussten arbeitet. In der Gruppe bildet sich ein Stück der Arbeitsrealität in der Pflege ab und dadurch, dass besprochen wird, was auftaucht, dass Emotionen, Bilder, Phantasien Platz bekommen, wird es möglich, hinter das Gesagte zu schauen. Es auf eine andere Art und Weise zu erfassen. Ich mache ein Beispiel aus dem Buch: Eine Pflegekraft erzählt, wie sie als Auszubildende zu einer demenziell erkrankten Frau geschickt wurde, ihr bei der Körperpflege zu helfen. Plötzlich wurde die Frau aggressiv und spuckte die Auszubildende an. Scham und Ekel überschwemmten die Auszubildende so, dass sie aus dem Zimmer rannte. Es wird der Auszubildenden erst jetzt gesagt, dass das immer passiert, wenn die Dame mit Nachnamen angesprochen wird. Spricht man sie mit dem Vornamen an, passiert das nicht. Das hat ihr aber vorher niemand gesagt. Emotionen, die geäußert werden, sind vor allem Wut, Empörung, Aggression, Trauer darüber, dass Auszubildende die Informationen nicht bekommen, die sie eigentlich brauchen, und dass sie so in schwierige Situationen kommen, die vermeidbar wären. Das ist aber nur ein Aspekt, die Spitze des Eisbergs sozusagen. Darunter, das zeigte sich, ist eine Teamkultur, in der unklar ist, wer die Verantwortung trägt. Die Aussage des Praxisanleiters, dass man da nichts machen könne zeigt, dass er die Verantwortung nicht übernimmt. Die Auszubildende, inzwischen seit Jahren eine examinierte Pflegekraft, wurde damit ganz alleine gelassen. Ihre Kolleginnen und Kollegen übergingen dieses Ereignis. In der Gruppe tauchen nun Schuld- und Schamgefühle auf. Möglicherweise ist die Ignoranz und Verleugnung, die im Team an den Tag gelegt wurde, Abwehr gegen die Schuld- und Schamgefühle, die im Alltag keinen Platz hatten? Möglicherweise ist dies ein – noch relativ harmlos scheinendes – Beispiel dafür, wie wir einander in der Pflege alleine lassen mit der Last von Gefühlen, aber auch selber isoliert bleiben in Gefühlen von Scham und Schuld?

In der Ethnopsychoanalyse wird es möglich, unter die Wasseroberfläche zu schauen in einer Weise, in der es mit inhaltsanalytischen Methoden nicht möglich wäre, weil man dafür die Gruppe braucht in ihrer Vielfältigkeit, die Emotionen und Bilder, alles was schwierig ist, sprachlich ausgedrückt zu werden, auch weil es vielleicht (unbewusst) verboten ist. In der Gruppe ist es aufgehoben und besprechbar. An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie die Schuldzuweisungen von „wie können die nur!?“ sich wandeln können in „darin erkenne ich mich auch wieder“. Das macht Schuld und Scham nicht weg, im Gegenteil. Schuld und Scham liegen nun offen und weisen uns den Weg, der zu gehen ist. Zum Beispiel hätte der Praxisanleiter dann sagen können „oh nein, das tut mir sehr leid! Das hätte ich dir sagen müssen!“ Raum für Gefühle zu geben bedeutet, sie zu fühlen, kennenzulernen, einzuordnen als die eigenen oder die fremden Gefühle. Mit den Gefühlen umgehen, anstatt sie zu verdrängen und abzuspalten macht sensibler und würdevoller.

Christoph Müller Wolfgang Schmidbauer hat einmal das Helfer-Syndrom beschrieben. Dies hat professionell Pflegende klassifiziert. Mit Ihrer Studie wird deutlich, dass wir proaktiv an den eigenen Defiziten arbeiten müssen. Wie aktuell ist das Konzept des Helfer-Syndroms? Oder müssen wir mit der Unterstützung von Studien (wie Ihrer) Strategien zur Selbstsorge und Selbstreflexion entwickeln?

Ursula Immenschuh Stimmt, ich mag nicht klassifizieren. Ich wünsche uns Pflegenden Selbst-bewusstsein. Das ist absichtlich mit Bindestrich dazwischen geschrieben, weil ich glaube, wenn wir uns erlauben, uns unserer Selbst bewusst zu sein, dann haben wir alles, was wir brauchen um die richtigen Wege zu finden. Das Faszinierende an der Scham finde ich, dass sie uns das ganz deutlich aufzeigt. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich mich schäme, jedes Mal, wenn ich als Frau den Penis eines fremden Mannes zum Beispiel anfassen muss, wenn ich Menschen nackt sehen muss, oder dass ich mich schäme, wenn mir ein Körper auch noch gefällt usw., dann werde ich sensibel für mich und für mein Gegenüber. Dann erkenne ich den unglaublichen Wert, den so eine Arbeit hat, anerkenne mich und meine Kolleg*innen aufs Höchste für das, was wir tun. Dann kenne ich meine Grenzen und hole mir Unterstützung, anstatt, wie Schmidbauer festgestellt hat, sie abzulehnen. Dann nehme ich meine eigenen Grenzen wahr und achte sie. Dann beziehe ich meinen Selbstwert nicht (nur) daraus anderen zu helfen (wie beim Helfersyndrom), sondern ich weiß um den Wert dessen, was ich tue. Ich tue dann nicht mehr alles für die Anerkennung der Patient*innen und Bewohner*innen, sondern lasse mich von meinem professionellen Wissen und Können leiten.

Christoph Müller Derzeit werden einige Forschungen zu Gefühlen und Empathie in der Pflege veröffentlicht. Auch werden Trainingsprogramme entwickelt, dass professionell Pflegende die Spuren zu sich selbst aufspüren. Was halten Sie davon?

Ursula Immenschuh Ja, auch über die Scham wird in den letzten fünfzehn Jahren viel publiziert.

Genau das ist der Weg, meine ich. Sich selber aufspüren. Aber das sagt sich so leicht, und dabei steckt darin der größte Sprengstoff. Die Pflegenden in den Supervisionsgruppen haben sich dem gestellt, zu überlegen, was denn passieren würde, wenn sie sich ihrer Gefühle bewusst wären. Da kommt Angst auf. Angst nicht mehr so zu funktionieren im Berufsalltag und natürlich Angst vor den Repressionen, mit denen sie dann rechnen. Angst davor, dann nicht mehr dazu zu gehören, ausgeschlossen zu werden. Anerkennung zu verlieren und Schutz. Mit Stephan Marks gesprochen kommt Scham auf, weil die Grundbedürfnisse von Anerkennung, Schutz und Zugehörigkeit verletzt werden könnten. Dann haben wir nämlich das Gefühl, nicht richtig zu sein, wenn diese Grundbedürfnisse verletzt werden. Doch es ist ein Dilemma, denn durch das Funktionieren verletzen Pflegende ihre Integrität, was ebenfalls ein Grundbedürfnis ist. Sich selber aufzuspüren hieße, sich diesen Gefühlen zu stellen, sie zu besprechen, ihnen nachzugehen und offen zu sein, was daraus wird. Das ist leicht gesagt und unglaublich schwer umzusetzen.

Christoph Müller Was hat die Würde des professionell Pflegenden mit dem Schamerleben und dem Schamempfinden des Einzelnen zu tun?

Ursula Immenschuh Das ist eine wunderbare Frage! Würde heißt unter anderem, mit sich selbst in Einklang zu stehen, zu dem stehen zu können, was man tut und ist. Die Scham zeigt uns an, wenn genau das nicht (mehr) der Fall ist. Wenn wir anders erscheinen oder sind, als wie wir es gut finden, es unseren Werten entspricht.

Die Würde einzelner wird in der Pflege allzu oft mit Füßen getreten. Zum Beispiel wenn die Pflege durch den Dreck gezogen wird. Wenn Negativschlagzeilen von Einzelereignissen verallgemeinert werden. Aber auch, wenn Pflegekräfte, die Missstände anprangern nicht gehört werden, mundtot gemacht oder beschämt. Das alles löst Scham aus, die als Warnsignal fungieren könnte und uns zeigen, dass es so nicht gut ist. Wir spüren es als Einzelne, aber auch als ganze Berufsgruppe. Diese Scham wahr-nehmen, auch wieder bewusst mit Bindestrich geschrieben, würde helfen, Würdeverletzungen für wahr und ernst zu nehmen und würde uns fühlen lassen, wie tief sie uns verletzen. Denn die Scham ist ja eine der schmerzhaftesten Emotionen, weil sie unser Ich schützt. Wurmser sagt, ihre Hauptfunktion ist der Schutz. Schutz davor, die Würde zu untergraben oder untergraben zu lassen. Sie hilft uns, ein positives Selbst aufzubauen und zu erhalten, also Würde zu wahren, weil sie immer dann auftaucht, wenn wir oder andere dieses verletzen.

Christoph Müller Professionell Pflegende erfahren einen mehr als anstrengenden, geradezu überfordernden beruflichen Alltag. Sie scheitern daran, die eigenen Aufgaben auch in Relation zu anderen beruflichen Handlungsfeldern zu sehen. Wie kann dies gelingen?

Ursula Immenschuh Ich stimme der ersten Aussage zu, dass es ein anstrengender Berufsalltag ist, der auch überfordern kann. Es ist aber auch eine der schönsten Aufgaben, die ich kenne. Ich wünsche mir, dass wir Pflegende selbst-bewusst unseren Beitrag leisten in der Versorgung von Menschen, die sich uns anvertrauen (müssen). Der Beitrag der Pflege ist die Sorge dafür, wie sich die Krankheit, Behinderung, die Gebrechen auf die Alltagskompetenz und Selbstsorge auswirken. Wenn ein Mann mit Anus praeter entlassen wird und zur Pflegekraft sagt: „Ich weiß gar nicht, wie das zu Hause gehen soll“ kann die Pflegekraft hören, dass er sich noch mehr Anleitung im Umgang mit dem Stoma wünscht oder dass man überprüfen muss, ob er das richtige System hat. Sie kann aber auch hören, dass er unsicher mit der Ernährung ist, oder dass er nicht weiß, ob er so ins Schwimmbad gehen kann. Bis dahin, dass er ihr vielleicht sagen möchte, dass ihm noch niemand gesagt hat, ob er Sex mit seiner Frau oder seinem Mann haben kann, ob die Potenz beeinträchtigt ist oder wie er damit umgehen soll, dass sein Körperbild nun so gar nicht mehr das ist, was es mal war.

Die Pflegekraft wird nicht für all das zuständig sein, aber hellhörig, ob sie die Stomaexpertin nochmal schicken soll, der Arzt nochmal aufklären soll, oder die Psychologin, der Ernährungsberater kommt, oder ob die Pflegekraft selber jetzt gefragt ist. Sie wird sich reflektieren, welche Fähigkeiten hier gebraucht werden und ob sie diese hat und wird sich der Beziehung bewusst sein, die dafür nötig ist. Das ist für mich ein selbst-bewusster Beitrag innerhalb eines Behandlungsteams.

Christoph Müller Besten Dank für den aufschlussreichen Diskurs.

 

Das Buch, um das es geht

Ursula Immenschuh: Unerhörte Scham in der Pflege – Über die Notwendigkeit einer unbeliebten Emotion, Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2020, ISBN 978-3-86321-537-8, 184 Seiten, 29.95 Euro.

Autor:in

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at