Haben Sie nicht auch Bücher im Regal, die Sie ein ganzes Leben begleiten? Haben Sie nicht auch Bücher, die ihre Berufsbiographie entscheidend geprägt haben? Für viele psychiatrisch Tätige gehört sicher das Lehrbuch „Irren ist menschlich“ oder Hilde Schädle-Deiningers „Praktische Psychiatrische Pflege“ dazu. Diese Bücher haben Konzepte bestimmt und Paradigmen geprägt.
Mit Stefan Weinmann Buch „Die Vermessung der Psychiatrie“ liegt eine streitbare Schrift vor, die in den kommenden Jahren eine vergleichbare Rolle spielen kann. Der Psychiater stürzt Mauern um, die wohl eh auf Sand stehen. Mit der Leserin und dem Leser nimmt er sprichwörtlich jeden Stein vom Bauwerk herunter und zeigt von Stein zu Stein, wie problematisch die Bausubstanz ist.
Bei der Grundlegung seiner kritischen Sicht auf die Psychiatrie zeigt Weinmann bereits auf, dass sich die Psychiatrie vermessen präsentiert. Er schreibt: „Die Psychiatrie ist ver-messen – nicht nur wie sie sucht oder neurowissenschaftlich oder psychologisch forscht, sondern vor allem, wenn sie die Halb-oder Unwahrheiten, die sie zutage fördert, für bare Münze nimmt, wenn sie die Ergebnisse als direkt anwendbare wissenschaftliche Erkenntnisse begreift sowie teilweise vermarktet, ohne die Grenzen ihrer Methodik in Rechnung zu stellen … Die Art der Vermessung des psychisch Kranken kann am sozialen Subjekt vollständig vorbeizielen und selbst zum schädlichen Agens werden …“ (S. 15).
In einem ersten Schritt setzt sich Weinmann mit den Folgen des Biologismus in der Psychiatrie auseinander. In diesem Zusammenhang fragt er, wie es komme, dass sich viele Psychiater wenig für das Leben und die nichtmedizinische Vorgeschichte der betroffenen Menschen interessierten. Mit einem zweiten Schritt differenziert Weinmann die medikamentöse Behandlung seelischer Erkrankungen. Seine Position bleibt dem eigenen Berufsstand gegenüber skeptisch. Er definiert sich nicht selbst als Streiter für das Absetzen von Medikamenten. Er beschreibt jedoch an den zahlreichen Medikamentengruppen in der psychiatrischen Versorgung, wie begrenzt die Hilfemöglichkeiten sind. Unter anderem betont Weinmann, dass Antipsychotika bei einem Teil der Betroffenen in der psychotischen Akutphase wirksam seien. Diese Symptomunterdrückung werde von den Therapeuten als so wichtig erachtet, dass sie das gesamte therapeutische Denken dominiere und zum alles übergreifenden Standard geworden sei (S. 108).
Dies macht Weinmann auf dem Fundament einer jahrelangen intensiven Beschäftigung mit der evidenz-basierten Medizin. In der Argumentation erscheint er gut gerüstet, scheint viele Studienlagen zu kennen, folgert konsequent, was er für richtig hält. Es ist harter Tobak, womit er psychiatrisch Tätige konfrontiert. Und noch mehr – er beschreibt ein deutliches Paradigma für den psychiatrischen Alltag.
Auch die gemeindepsychiatrische Versorgung muss sich gefallen lassen, dass das eigene Selbstverständnis vergangenen Zeiten angehört. Weinmann berichtet beispielsweise, dass Betroffene bei dem Wunsch nach Reduzierung von Psychopharmaka mit Nachfragen und Protesten von Einrichtungsträgern konfrontiert waren. Dies lässt ihn (sicher zurecht) folgern: „Die Betroffenen geraten so in ein Dilemma, aus dem sie kaum herauskommen: Um versorgt zu werden, müssen sie krank bleiben, aber nur so weit, dass das System noch funktionsfähig bleibt – ansonsten müssen sie zur Krisenintervention in die Klinik oder werden an Einrichtungen für Menschen mit höheren Bedarfen weitergereicht“ (S. 164).
Es wird spannend, wie groß der Erfolg Weinmann sein wird – entweder wird er als Baumeister eines neuen Denkens und Handelns oder als kaum zu ertragender Querulant gelten. Die Charakterisierung des Querulanten passt auf keinen Fall zu dem wegweisenden Buch.
Stefan Weinmann: Die Vermessung der Psychiatrie- Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets, Psychiatrie-Verlag, Köln 2019, ISBN 978-3-88414-931-7, 283 Seiten, 25 Euro.