„Mit dieser ersten Standortbestimmung für die forensisch-psychiatrische Pflege stärken wir das interdisziplinäre Selbstverständnis in der forensischen Psychiatrie“, bemerkt Michael Hechsel, Sprecher des Fachausschusses Forensik der DGSP. So haben engagierte Pflegende aus dem Maßregelvollzug ein Papier entwickelt, das einen Diskurs zur Begleitung und Behandlung von Menschen, die in der forensischen Psychiatrie untergebracht sind, anstoßen will. Christoph Müller hat mit Michael Hechsel gesprochen.
Christoph Müller Der Fachausschuss Forensik in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) beschäftigt sich ja mit Fragen, die die Versorgung von Menschen, die in Maßregelvollzug untergebracht sind, nach vorne bringen wollen Was ist die Motivation für das Papier?
Michael Hechsel Die Standortbestimmung zur forensisch-psychiatrischen Pflege 2020 definiert einen Mindeststandard, den es bislang in Deutschland nicht gegeben hat. Wir wollen dazu beitragen, dass die forensisch-psychiatrische Pflege ein einheitliches Bewusstsein und sich stets entwickelten State-of-the Art ausrichtet. Dies gilt auch für künftige Aus-, Fort- und Weiterbildungen, der Akademisierung und der berufspolitischen Perspektive.
Christoph Müller In dem Papier wird die Öffnung der Tätigkeit als externe Sachverständige zur Gutachtenerstellung für andere Berufsgruppen gefordert. Wollen Pflegende nicht mehr bei ihren Leisten bleiben und sich im Hier und Jetzt um die Folgen einer seelischen Erkrankung kümmern?
Michael Hechsel Wir geben diesen Anstoß aus zwei Gründen. Die akademisierten forensisch-psychiatrischen Pflegeexperten sind aufgrund ihrer praktischen Erfahrung und Kompetenzprofile in einer bedeuteten Rolle zur Entscheidungsfindung, ob und wie lange die untergebrachte Person im präventiven Freiheitsentzug verbleibt. Für die professionelle Begutachtung und Einschätzung des Gefährlichkeitsgrades und des Behandlungsprozess bedarf es einer speziellen Aus- und Weiterbildung, um die interdisziplinäre Prognostik professionell gestalten zu können. Dies ist möglich. So komme ich zu dem zweiten Punkt. Aufgrund der eng gestaffelten Gutachten durch externe Sachverständige nach der Gesetzesnovellierung des §63 StGB im Jahr 2016 wird es immer deutlicher, dass es ohnehin es zu wenig qualifizierte Gutachter gibt. Es stellt sich also nicht die Frage, ob Pflegende nicht bei Ihren Leisten bleiben wollen, sondern um eine Öffnung der Tätigkeit.
Christoph Müller Die Pflegenden im Fachausschuss Forensik der DGSP wollen eine Interessenvertretung forensisch – psychiatrisch Pflegender auf Bundesebene. Welche Ziele verfolgen sie damit? Ist dies nicht eine Verkomplizierung der schon bestehenden Verbändelandschaft in der psychiatrischen Pflege?
Michael Hechsel In Deutschland gibt es viele Verbände, die sich um die inhaltliche Arbeit von im Pflegeberuf Tätigen kümmern. Gerade weil es um die inhaltliche Arbeit geht, ist es wichtig, sich zu spezialisieren. Jedes Tätigkeitsfeld hat seine Besonderheiten, die entsprechend zu würdigen und zu berücksichtigen sind. In der forensisch-psychiatrischen Pflege ist zum Beispiel eine der Besonderheiten, dass wir in jedem Bundesland ein anderes Maßregelvollzugsgesetz vorhalten. Somit unterscheiden sich die Vorgaben zu Qualifikationen, zu Tätigkeitsbereichen und zum Gesamtbehandlungsprozess. Daher brauchen wir eine bundesweite Vertretung, auch als ein Sprachorgan und um die Professionalität, im Sinne der untergebrachten Personen, weiter voran zu treiben.
Christoph Müller Zeitgenössische Begriffe wie Recovery und Empowerment finden sich in der „Standortbestimmung forensisch – psychiatrischer Pflege 2020“. Was meinen Sie als psychiatrisch Pflegende konkret damit?
Michael Hechsel Die professionelle, also positive, bejahende und konstruktive Grundhaltung im forensisch-psychiatrischen Setting und in der intensiven therapeutischen Beziehungsgestaltung mit der untergebrachten Person ist ein wesentliches Merkmal. Diese Haltung ist Basis, um Vertrauen zu gewinnen und somit den persönlichen Resozialisierungsprozess zu begleiten und zu unterstützen. So ist es möglich, die Entwicklung der Zukunftsperspektive trotz schwerer seelischer Erschütterungen und abseits von Delinquenz zu erkennen und als Ziel zu verfolgen.
Christoph Müller Sie setzen sich dafür ein, dass die individuelle Persönlichkeit vor dem „forensischen Patienten“ gesehen werden soll. Was heißt dies in der konkreten Versorgung?
Michael Hechsel Wir sehen die untergebrachte Person im Behandlungsprozess ganzheitlich, als Mensch, als Patient, als Rechtsbrecher. Dabei ist die professionelle Haltung gegenüber der Herkunft, Kultur, Religion und der sexuellen Orientierung Voraussetzung. Die Anerkennung und Würdigung der individuellen Persönlichkeit, auch mit Blick auf dessen Selbstbestimmung, ist geprägt durch Empathie, Akzeptanz und Authentizität.
Christoph Müller Im Zusammenhang mit kompetenzbasierten Aufgaben von forensisch-psychiatrisch Pflegenden sehen Sie es als Aufgabe, Sicherheit zu schaffen, therapeutische Aktivitäten anzubieten und Normalität zu ermöglichen. Wie ist dies möglich in einem restriktiven Setting?
Michael Hechsel Durch die fachliche Qualifikation, Erfahrung und Kompetenz der Kollegen*innen. Insbesondere die therapeutische Beziehung ist die wichtigste Kernaufgabe und zugleich der Garant für die von Ihnen genannten Punkte Sicherheit, therapeutische Aktivität und Normalität. So ist es möglich, die Interaktion zu fördern und zu reflektieren sowie die sozialen Kompetenzen zu stärken. Um diese fachliche inhaltliche Herausforderung im Maßregelvollzug umzusetzen, benötigen wir ausreichend qualifiziertes Personal.
Christoph Müller Wenn Sie die Milieutherapie thematisieren, sprechen Sie die Resozialisierung der Betroffenen und die möglicherweise ausbleibende Beseitigung klinischer Symptome an. Was heißt dies denn für eine gelingende Nachsorge – beispielsweise für ein Leben in einem Wohnheim?
Michael Hechsel Ein Großteil der untergebrachten Personen hatte vor der stationären Aufnahme einen Werdegang in der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Hier bedarf es eines Selbstverständnisses in der Schnittstellenarbeit, um die optimale Versorgung sicher zu stellen. Die Einbeziehung von Angehörigen, Peer-Groups und Ex-In Genesungsbegleitern gehört ebenso dazu wie das Verständnis, dass forensische Psychiatrie nicht nur hinter hohen Mauern stattfindet – so wie ich es in Ansätzen dargestellt habe, auch außerstaionär und ambulant.
Christoph Müller Herzlichen Dank für das Gespräch!
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