Stichworte wie „kultursensible Pflege“ und „transkulturelle Kompetenz“ gehören seit vielen Jahren zu den Inhalten vielerorts angebotener Seminare. Die Resonanz hierauf war erfreulich, wenn auch der Situation nicht hinreichend entsprechend. Mit Einsetzen der Pandemie sind die Belange von Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturen noch mehr in Vergessenheit geraten – in dramatischer Weise gilt dies für Geflüchtete. Es bedarf in unseren Krankenhäusern und Kliniken einer umfassenden Bewusstseinsbildung, die Pflegende wirklich erreicht. Ebenso sind die in der Ausbildung Tätigen gefragt, sich dem Thema zu öffnen und engagiert zu vertreten.
Globalisierung und internationale Migration, die europäische Öffnung in den 90er-Jahren, sozialer und demographischer Wandel haben zu der zu beobachtenden Vielfalt in unserer Gesellschaft geführt. Naturkatastrophen und Kriege, Vertreibung und Intoleranz, Arbeitslosigkeit und Armut, aber auch das Streben nach Erfolg und Reichtum brachten und bringen Menschen in Bewegung. Zudem haben moderne Transportmöglichkeiten, neue Medien und Kommunikationstechnologien eine intensive interkontinentale Begegnung bewirkt, globale Verständigung bis in die entlegensten Winkel der Erde möglich gemacht und damit eine Veränderung des interkulturellen Verständnisses und des Zusammenlebens in Gang gesetzt. Seit jeher machen sich Menschen aus den verschiedensten Gründen auf den Weg; Migration, Fremdsein bzw. die Aufnahme von Fremden sind somit elementare menschliche Erfahrungen, keineswegs also ein neues, für Irritation und Unruhe sorgendes ‚Problem‘!
Migration bedeutet die Verlagerung des ständigen Aufenthaltsortes für lange Zeit oder auf Dauer in eine andere Kultur, sie geht einher mit dem Verlassen der Ursprungskultur und dem prozessualen Hineinwachsen in die Aufnahmekultur. Migrantinnen und Migranten sind Überschreiter von Kulturgrenzen und Wanderer zwischen den ethnischen Welten, sie sind die Symbolfigur des Fremden schlechthin. Migration bedeutet nicht nur, seine Heimat bzw. sein Geburtsland zu verlassen, sondern ebenfalls vertraute – auch stützende – Systeme hinter sich zu lassen. Familien oder Individuen begeben sich auf eine Reise durch viele Phasen und soziale Systeme und schaffen sich dabei – im Idealfall – eine neue Heimat. Die Lebenswirklichkeit dieses großen Personenkreises ist höchst unterschiedlich; es gibt also nicht die Migranten! Seit längerer Zeit bei uns lebende Familien aus Italien, Griechenland oder der Türkei werden in ganz anderer Weise über ihre Erfolge, Sorgen und Nöte berichten als ein Asylsuchender aus einem afrikanischen Staat, dem Irak oder Syrien. Migranten unterscheiden sich also hinsichtlich der Aspekte sozioökonomischer Status, Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland, Wanderungsmotive (Familienzusammenführung, Arbeitsmarkt, Flucht, traumatische Erfahrungen), Rechtsstatus (Aufenthaltstitel oder drohende Abschiebung) und kulturelle Hintergründe (Hax-Schoppenhorst/Jünger, 2010, S. 9 – 30).
Seit geraumer Zeit wird von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Und dies aus guten Gründen. Illustrierend hierzu die Hintergründe aus Deutschland (bpb, 2020, S. 1):
Im Jahr 2019 hatten 21,2 Millionen der insgesamt 81,8 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen) – das entspricht einem Anteil von 26,0 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Von den 21,2 Millionen Personen mit Migrationshintergrund waren 11,1 Millionen Deutsche und 10,1 Millionen Ausländer (52,4 bzw. 47,6 Prozent).
Rund zwei Drittel der Personen mit Migrationshintergrund – 13,7 Millionen bzw. 64,4 Prozent – waren 2019 selbst Migranten (erste Generation). Die Personen mit eigener Migrationserfahrung unterteilen sich in Ausländer (40,3 Prozent aller Personen mit Migrationshintergrund) und Deutsche (24,1 Prozent). Personen ohne eigene Migrationserfahrung (zweite oder dritte Generation) machten gut ein Drittel der Personen mit Migrationshintergrund aus (35,6 Prozent). Diese Gruppe teilt sich in Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung (28,2 Prozent) und Ausländer, die ebenfalls in Deutschland geboren wurden (7,4 Prozent).
Die aktuelle Ausgangslage ist folglich eindeutig; angesichts der weltpolitischen Entwicklungen ist davon auszugehen, dass sich die Zahlen von Tag zu Tag ändern und damit neue Herausforderungen entstehen. Statt diese Entwicklung als Zeichen der Zeit und auch als Gewinn, als Chance zu sehen, sind immer noch heftige Grundsatzdebatten und Abschottungsbestrebungen („Festung Europa“) zu beobachten, die nationalstaatlichem Denken und dem Ringen um Wahrung des Besitzstandes verhaftet zu sein scheinen. Pluralität in unseren Gesellschaften – so scheint es – wird nur in einem sehr begrenzten Maße gewünscht.
Andererseits muss betont werden: Die Präsenz von unterschiedlichsten soziokulturellen Lebenswelten stellt die Institutionen der Gesundheitsversorgung und das medizinische Fachpersonal vor immer komplexere Aufgaben. Gerade Pflegende fühlen sich im von Hektik und hohen Anforderungen geprägten Berufsalltag schnell überfordert, wenn Patientinnen und Patienten aus ihnen fremden Kulturen ihrer Aufmerksamkeit bedürfen (Eicke, 2012). Und dennoch: Der beschriebene globale Konflikt spiegelt sich nicht selten auch auf den Stationen unserer Krankenhäuser wieder. Die Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ – eine an sich schon höchst sperrige Wortkombination – geht vielen so über die Lippen, als handle es sich um ein Handicap … Defizite werden betont, vorhandene Ressourcen nicht gesehen.
Pflegenden müssen grundlegende Informationen an die Hand gegeben werden, zudem sollten ihnen Angebote offen stehen, die einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Irrtümlicherweise herrscht vielfach die Auffassung vor, für ein kultursensibles Auftreten müsse man die halbe Welt bereist haben bzw. eine Art Internationalismus-Experte sein, um zu angemessenem Auftreten überhaupt fähig zu sein. Dem ist keineswegs so: Gewissermaßen ein Basiswissensgerüst und die generelle Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen genügen, um Erleichterung und Entlastung zu bewirken. Ein den Bedürfnissen von Migranten entsprechendes pflegerisches Handeln ist mitnichten zeitraubend bzw. mit Blick auf die übrigen Verpflichtungen kaum erreichbar. Der Anfang muss nur gemacht werden! Erfolge stellen sich schnell ein.
Migration und Gesundheit
Gesundheit und Integration stehen in einer Wechselwirkung zueinander: Wer gesund ist, kann sich gesellschaftlich besser integrieren, und wer zufriedenstellend integriert ist, lebt gesünder. Zur Integration gehört auch eine chancengleiche Teilhabe an den Leistungen der Gesundheitsversorgung; einschließlich Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation. Ist diese jedoch nicht gegeben, wiederholen sich für Migranten und Migrantinnen Erfahrungen der Ohnmacht, Abhängigkeit und Diskriminierung.
Migration per se macht nicht krank. Es sind immer mehrfache Einflussfaktoren, die den Gesundheitszustand von Migranten und Migrantinnen beeinflussen. Arbeitsmigranten, insbesondere der ersten Generation, gehören oftmals zu den unteren Bevölkerungsschichten. Verschiedenste Forschungsergebnisse haben aufgezeigt, dass diese Gruppe deutlichen Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist und darum in der Gesundheitsversorgung besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
Ein unsicherer Aufenthaltsstatus, traumatische Erfahrungen (vor oder während der Migration), Diskriminierung im Einwanderungsland, belastende Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Integrationsbarrieren (z. B. mangelnde sprachliche und soziokulturelle Kenntnisse) und ein damit verbundener schlechter Zugang zum Gesundheitssystem können den Gesundheitszustand von Menschen in der Migration zusätzlich verschlechtern. Migranten und Migrantinnen werden daher als Gruppe mit einem hohen Gefährdungsmoment eingestuft. Vorsicht ist jedoch geboten: Bei bestimmten Gruppen von Migranten mag es spezifische Krankheitsrisiken und -häufigkeiten geben (hoher Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch bei jungen Menschen aus dem osteuropäischen Raum, höhere Infarktraten bei türkischstämmigen Patienten, …), aber längst nicht alle Angehörigen dieser Gruppe sind davon betroffen. Bedenklich stimmt auch, dass mit bzw. nach dem Verlassen der Heimat viele Migranten erst einen von Risiken behafteten Lebensstil adaptieren bzw. mit diesem auf Veränderungen und Problemlagen reagieren (Robert Koch-Institut, 2008). Ausdruck von Spannungen ist ebenso der zu verzeichnende Anstieg psychischer Erkrankungen bei ihnen: Von der Depression bis zur Schizophrenie – sie leiden fast doppelt so häufig darunter wie der Bevölkerungsdurchschnitt (Azizi, 2019). Die Betroffenen sind Identitätskrisen durch kulturelle Entwurzelung, gesellschaftlichem Anpassungsdruck, Problemen mit Institutionen, wirtschaftlicher Not, schlechten Wohnverhältnissen, der Trennung von der Familie im Heimatland, Einsamkeit und Generationskonflikten ausgesetzt.
Verschiedene Sichtweisen von Krankheit
Im Krankenhausalltag kommt es oft zu Verständigungsschwierigkeiten, die über das Vorhandensein von Sprachbarrieren hinausgehen. Wenn von Krankheit und den daraus abzuleitenden Behandlungsschritten die Rede ist, sprechen die Beteiligten auch in übertragener Hinsicht nicht die gleiche Sprache.
In jeder Gesellschaft existieren bevorzugte Verursachungsmodelle, durch die das Geschehen in der Welt interpretiert wird (Weltbild). Die Vorstellungen über das, was Krankheit hervorruft bzw. heilt, werden in entscheidender Weise vom sozialen Umfeld und dem jeweiligen Weltbild beeinflusst – aber auch von der Erreichbarkeit der medizinischen Institutionen und von dem empfundenen Heilungserfolg!
Wenn auch gerade in den letzten Jahrzehnten ein gewisses Umdenken beobachtet werden konnte, so liegt unserem Gesundheitssystem ein naturwissenschaftliches, biomedizinisches Verständnis von Körper, Gesundheit und Krankheit zugrunde. Symptome werden allein als Ausdruck einer biologisch und wissenschaftlich nachprüfbaren Realität gesehen. Diagnostische Methoden beruhen auf der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie; Entstehung und Entwicklung einer Krankheit (Pathogenese) sind wissenschaftlich erklärbar und nachvollziehbar. Eine Diagnose wird auf dieser Basis erstellt. Gleiche Diagnosen bei verschiedenen Patienten werden nahezu gleich therapiert. Im Mittelpunkt einer solchen biomechanischen Medizin steht der Körper mit seinen Organen und Funktionen. Dieses Konzept lässt sich nur schwer zum mit Kulturen in Einklang bringen, in denen zum Beispiel ein animistisches Weltbild (Glaube an Gottheiten und Ahnen, die das Leben beeinflussen können). In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern ist das zum Beispiel der Fall; Krankheit wird als totale Befindlichkeit erlebt – eine Trennung von Körper und Seele, wie sie in unserer Kultur vorherrscht, gibt es nicht.
In der afrikanischen Kultur hat das soziosomatische Konzept ein besonderes Gewicht. Hier umfasst die soziale Umwelt neben den lebenden Mitgliedern des Umfelds auch die Toten, die Ahnen. Eine Krankheit kann demzufolge verursacht werden durch einen Konflikt mit einem lebenden Verwandten oder durch die Verletzung/Verärgerung eines Ahnen – z. B. durch Abweichungen vom Verhaltenskodex.
Schließlich noch ein Beispiel aus der Volksmedizin: Der Glaube an den „bösen Blick“ ist seit Jahrtausenden in vielen Kulturen bedeutsam. Es handelt sich um ein magisches Erklärungsmuster von Krankheit. Dabei wird von der Vorstellung ausgegangen, dass eine Person durch neidvolles Anblicken bei einem anderen Unheil auslösen kann; auch die bloße Anwesenheit einer Person mit einer solchen Fähigkeit kann dazu führen. Dieser „böse Blick“ ist häufig nicht beabsichtigt. Schutz bieten u. a. Amulette. Die Therapie vollziehen Spezialisten durch Gegenmagie.
Das Spannungsfeld zwischen biomedizinischen und z. B. magischen Erklärungsmustern von Krankheit lässt sich sehr anschaulich am Beispiel von Schmerzphänomenen erläutern. Hier gilt es zwischen Schmerzempfinden und Schmerzausdruck zu unterscheiden. Es ist von sehr vielen verschiedenen Faktoren abhängig, ab welchem Punkt Schmerz empfunden wird bzw. wie hoch die Schmerztoleranz ist. Die kulturelle Herkunft spielt dabei keine eindeutige Rolle. Dagegen ist die Schmerzbewältigung und damit der Schmerzausdruck kulturell gelernt. Abhängig von dem jeweiligen Umfeld lernt jeder Mensch, welches Schmerzverhalten ‚belohnt‘ wird, welches ‚bestraft‘ wird und welche Erwartungen an den Leidenden gestellt werden. Die soziale Umgebung gibt dabei sehr konkret das Vokabular vor, mit dem Schmerzen beschrieben werden – ob sie stechen, ziehen, brennen, drücken oder bohren. Auch die Sprache, mit der die mit dem Schmerz verbundenen Emotionen beschrieben werden, ist hoch differenziert. Wird z. B. der Schmerz ausgesprochen expressiv geäußert, ist in der Reaktion darauf in unseren Breiten sehr schnell vom „Mamma-Mia-Syndrom“ oder „Morbus Bosporus“ die Rede (Hax-Schoppenhorst/Jünger, 2010, S. 44 – 52).
In transkulturellen Gesprächssituationen ist aber immer wieder zu klären, wie vom Gegenüber ein bestimmter Begriff oder ein spezifisches Krankheitssymptom interpretiert werden und mit welchem individuellen Erfahrungshintergrund diese verknüpft sind. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Verständnis und die damit verbundenen Erwartungen an eine therapeutisch-pflegerische Handlung, sich mit unseren Vorstellungen decken. Gelingt es, das Gegenüber als Experte/in seiner/ihrer eigenen soziokulturellen Lebenswelt anzusprechen, nutzen wir sein/ihr kulturelles Wissen als Ressource und schaffen eine erste Vertrauensbasis.
Mitunter turbulent wird es im Stationsalltag oft, wenn auch in Bezug auf den Umgang mit dem Kranken gänzlich unvertraute Verhaltensweisen zu beobachten sind. Die Familie hat bei Menschen, die aus kollektivistisch orientierten Gesellschaften und Kulturen stammen, einen noch höheren Stellenwert als vielfach hierzulande. Besonders die älteren Generationen sind vehement bemüht, den Familienbund nicht auseinanderfallen zu lassen und ‚Individualisierungstendenzen’ zu unterbinden. ‚Ansehen’ und ‚Ehre’ der Familie spielen vielfach eine übergeordnete Rolle, der sich jedes einzelne Mitglied unterzuordnen hat. Familienoberhäupter, in der Regel die Väter, haben darüber zu wachen, dass die Reputation der Familie keinen Schaden nimmt. So kann es zu als unpassend erlebten Einmischungen in den Behandlungsprozess oder gar Verweigerung bestimmter therapeutischer Maßnahmen durch die Angehörigen kommen. Die andere Sicht der Situation ruft auf beiden Seiten dann bloßes Kopfschütteln hervor.
Ähnlich verhält es sich mit den als ‚Invasionen‘ empfundenen häufigen und in großer Personenzahl stattfindenden Besuchen der Erkrankten: Herrscht nach unserem Verständnis die Auffassung vor, man habe einen Kranken in erster Linie zu schonen und demzufolge auch nicht pausenlos zu behelligen, ist die häufige Präsenz möglichst vieler Familienmitglieder am Bett geradezu Ausdruck von Liebe und Wertschätzung schlechthin. Der Individualismus ist in Ländern Westeuropas deutlich stärker ausgeprägt – dennoch nicht Maß aller Dinge, denn die Mehrheit der Kulturen in der Welt ist kollektivistisch orientiert.
Umgang mit Fremdheit
In der Begegnung mit Migranten kommt uns vieles ‚fremd‘, ‚befremdlich‘, ‚seltsam‘ oder gar ‚komisch‘ vor. Ohne exakter darüber Auskunft geben zu können, was nun konkret Distanz und Unbehagen auslöst, lassen wir dieses irritierende, manchmal Angst auslösende Grundgefühl zu, hinterfragen es nicht weiter und nehmen es als gegeben bzw. unveränderlich hin. Damit aber entgeht uns eine wichtige Chance, die Dinge in einem anderen, kritischen Licht zu sehen, um dann vielleicht angemessener entscheiden und handeln zu können. Auf der anderen Seite ist es gerade das Fremde, das uns in seinen Bann zieht, neugierig macht – wie sonst ließ es sich z. B. erklären, dass Jahr für Jahr sich Millionen Deutsche auf den Weg in die Fremde machen, um dort Entspannung, aber auch eine Form von Abenteuer zu finden?
Was ist unter dem Begriff ‚fremd‘ zu verstehen? Wie kommt es zu den mit Fremdheit verbundenen negativen Gefühlen? Wer sich anderen Kulturen öffnen will, wer kultursensibel pflegen will, muss sich mit dem Fremden im Allgemeinen und dem Fremden in sich auseinandersetzen! Denn: „Fremd sind nicht nur die MigrantInnen. Fremd ist grundsätzlich alles, was man nicht kennt. Denken Sie bitte einmal zurück an Ihren ersten Arbeitstag im Altenheim. Was kam Ihnen damals alles fremd vor? Was war anders als sonst, wo gab es Abweichungen von Ihrem bis dahin gewohnten Tagesablauf oder Arbeitsplatz?“ (Uzarewicz,2008, S. 1).
Die Art und Weise, wie Menschen mit Fremdem bzw. Fremden umgehen, lässt den Eindruck entstehen, dass sie Fremdheit für eine Eigenschaft von Dingen oder Personen halten. Jedoch ist Fremdheit kein absoluter, sondern ein relationaler Begriff: Nicht etwas ist fremd, sondern etwas ist mir fremd! Damit rückt der Raum zwischen zwei Eigenheiten oder zwei Menschen in den Mittelpunkt. Fremdheit kann in ihrer Bedeutung erst erfasst werden, wenn eine Person bereit ist, die eigenen Anteile in der Beziehung wahrzunehmen. Die Fremdartigkeit des Anderen wird also nicht durch den Anderen hervorgerufen, sondern durch das, was wir als ‚innen‘ oder ‚außen‘ definieren.
Menschen weichen dem Fremden vielfach aus Angst aus, jedoch: Vermeidung der Fremden in den sozialen Interaktionen ist keine produktive Form der Angstbewältigung. Sie festigt die vorhandenen Vorurteile, die möglicherweise erst die Angst vor Fremden hervorgerufen haben, und trägt zur Entstehung neuer Vorurteile bei. Sie unterdrückt die Fähigkeit des Menschen, das Neue zur eigenen Bereicherung selektiv, kritisch und konstruktiv aufzunehmen. Sie hindert nicht nur eine differenzierte Wahrnehmung, sondern führt zu rigider Stereotypenbildung und dogmatischer Haltung. Dadurch kann die realistische Einschätzung der Fremden durch persönliche Begegnung nicht stattfinden“ (Han 2007, S. 33).
Bedauerlicherweise wird auf Fremdheits- und Befremdungserfahrungen im Krankenhausalltag nicht so reagiert, wie es sein könnte bzw. sollte. Um aus einer Situation der Verlegenheit, der Irritation und manchmal auch des ‚Kulturschocks‘ auszubrechen, kommen (unbewusst) Strategien zum Einsatz, die nur auf den ersten Blick das Problem lösen. Misserfolge oder Probleme werden ausschließlich ‚den Migranten‘ zugeschrieben, indem sie als unmotiviert, unzuverlässig und uneinsichtig bezeichnet werden. Machtmanifestationen im Sinne von „Wir wissen schon sehr genau, was dem Kranken fehlt!“ häufen sich. Es wird vermehrt mit Formalismus und Blockaden reagiert: Statt Beziehung zu gestalten und die eigenen Handlungsspielräume mit Kreativität zu nutzen, verweist man auf Reglements, Gesetze und das hohe Arbeitsaufkommen. Schließlich sollen Rationalisierungen wie „Bei den mangelhaften Sprachkenntnissen sind uns einfach die Hände gebunden“ Entlastung bringen.
Diese Lösungsstrategien schaffen allerdings nur kurzfristig das Problem aus der Welt. Nicht ohne Grund wenden Kritiker ein: „Das Erlebnis des ‚Fremden’ ist Ausdruck einer Beziehungsweise zwischen dem inneren und äußeren Fremden, den gleichermaßen anziehenden und abstoßenden, identifikationsstiftenden und -bedrohenden Anteilen am Fremden. Besonders die Analyse dieser Dynamik ist für das Verstehen und den Umgang mit kultureller Andersartigkeit eine wesentliche Voraussetzung“ (Scheibler, 1998, S. 23).
Kultursensibilität und transkulturelle Kompetenz
Bei der hiermit beschriebenen Ausgangslage stellt sich die Frage, inwieweit sich Verbesserungen bzw. Veränderungen der Grundhaltung bewirken lassen. Schließlich macht es wenig Sinn, die unbefriedigende Situation anhaltend zu beklagen oder gar Vorwürfe zu erheben.
Eine kulturelle Unterschiede wahrnehmende und akzeptierende Pflege wird nicht nur durch bloßes Sachwissen erzielt. Vielmehr gilt es Signale wahrzunehmen, welche von Patienten anderer Kulturen ausgesendet werden. Um diese zu deuten und entsprechend handeln zu können, benötigen Pflegekräfte Sensitivität.
Dies bedeutet ein Maß an Empfindsamkeit für das, was der andere sagt und tut sowie für die Tatsache, dass dies für den anderen eine derartige Bedeutung hat, dass es das Hilfeersuchen beeinflusst. Sensitiv pflegen bedeutet somit:
- Anteilnahme, Mitleid, Gefühl, Kompetenz, Emotion, Intuition, Wissen, Offenheit und Sorge um das Gegenüber
- das Umfeld des anderen kennen und deuten zu lernen
- sinnliche Wahrnehmung und Interaktion: schauen, zuhören, hören, sprechen, riechen, fühlen, und berühren, aber auch analysieren, interpretieren und reagieren etc.
- letztlich adäquate und patientenorientierte Sorge zu bieten (Visser/de Jong, 2002, S. 151 – 174).
In diesem Zusammenhang ist auch stets von der transkulturellen Kompetenz die Rede. Der Begriff wird geradezu beschwörend ins Spiel gebracht, wobei er als bloßes Schlagwort eher abschreckt. Betrachtet man die mit ihm verbundenen Grundüberzeugungen, dürfte es selbst Skeptikern zumindest leichter fallen, Neues zu wagen, sich einzulassen, statt zu blocken oder zu resignieren.
Wer also transkulturell orientiert arbeiten will, sollte sich mit den nachfolgenden Haltungen/Sichtweisen vertraut machen:
- Annehmen einer allfälligen Verunsicherung / Irritation: Es ist nicht verwerflich, nicht auf Anhieb auf alles angemessen reagieren zu können. Es darf etwas geben, das mir nicht bekannt ist. Für eine gute Arbeit muss ich nicht Kulturexperte oder Weltenbummler sein.
- Selbstreflexion und Relativierung der eigenen Sichtweise: Neben meinen Wünschen und Zielen gibt es durchaus andere. Begriffe wie ‚Glück‘, ‚Lebenssinn‘, ‘Pflichten‘ ‚ ‚Ordnung‘, Familie‘ ‚Freundschaft‘ werden von unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten mit durchaus anderen Vorstellungen besetzt. Es gibt vieles, was ich bisher nicht kannte, mich aber durchaus neugierig macht.
- Wertschätzung für fremde Sichtweisen zeigen: Wer die Welt anders sieht, ist nicht mein Feind. Ich werde von niemandem gezwungen, mich der jeweiligen Sicht anzuschließen. Daher kann ich offen bleiben, sehr wohl auch Respekt oder Bewunderung zum Ausdruck bringen.
- Ressourcen-Orientierung und gemeinsame Interessen ins Zentrum stellen: Es gibt sicherlich einiges, was mein Gegenüber – trotz der Krankheit – kann. Das interessiert mich. Ich will auch mehr wissen, z. B. von dem, wie dieser Mensch zuvor sein Leben gemeistert hat. Es gibt bestimmt Dinge, die uns beide begeistern.
- Verständnissicherung durch Nachfragen (aktives Zuhören): Ich möchte in allen Punkten verstanden werden, daher rückversichere ich mich, gebe nötigenfalls Erklärungen oder erkläre mit Hilfe von Bildern oder Zeichnungen.
- Nonverbale Wachsamkeit: Ich achte auf Gestik und Mimik, um daraus ggf. Erkenntnisse zu gewinnen, wobei zu beachten ist, dass gleiche Gesten international durchaus sehr verschiedene Bedeutungen haben können.
- Akzeptanz sprachlicher Fehler und Anbieten anderer Formulierungen: Ich spreche nur zwei Sprachen, nicht selten sprechen Migranten drei oder vier. Bleibe ich also bescheiden in meinen Erwartungen.
- Empathie und Bereitschaft, sich auf ungewohnte Deutungsmuster einzulassen: Unser biomedizinisch-naturwissenschaftliches Bild von Krankheit hat keine weltumspannende Gültigkeit.
- Ambiguitätstoleranz: Ich besitze die Fähigkeit andere Meinungen und Sichtweisen zu akzeptieren sowie Mehrdeutigkeiten und Widersprüche in Situationen und Handlungsweisen zu ertragen, ohne mich gleich unwohl zu fühlen oder aggressiv zu reagieren.
Was kann im Krankenhaus unternommen werden, um den Anforderungen einer kulturell vielfältigen Patientenschaft gerecht zu werden? Wie können sich Krankenhäuser so auf Patientinnen und Patienten unterschiedlicher Herkunft einstellen, dass erstens die medizinischen und therapeutischen Möglichkeiten optimal genutzt werden und dass zweitens die Maßnahmen auch zu einer Entlastung von Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden beitragen? Erfreulicherweise öffnen sich immer mehr Häuser diesen Fragen – womit das Anliegen zu einem gemeinschaftlichen und nicht dem der ‚Einzelkämpfer‘ wird (Bundesregierung, 2013; DGB Bildungswerk, 2011).
Es wird zukünftige Aufgabe sein, zunehmend mehr Kolleginnen und Kollegen in der Pflege und in der Pflegeausbildung zu ermutigen, den oben beschriebenen Perspektivenwechsel voranzutreiben. Dabei mag eine indianische Weisheit behilflich sein (Krohn, 2014): „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.“ Sie ist seit langer Zeit bekannt und gilt mittlerweile als ‚verstaubt‘ bzw. ‚romantisierend‘.
In dem Kontext. ‚pflegerischer Umgang‘ trifft sie (immer noch) den Kern.
Literaturangaben
Eicke, M. (2012). Viele Lebensformen – Migranten/Migrantinnen im Gesundheitswesen. In: Hax-Schoppenhorst, T.; Jünger, S. (2010), S. 240 – 254.
Han, P. (2007). Angst vor dem Fremden – ein unlösbarer Widerspruch? In: Borde, T.; David, M. (Hrsg.) (2007). Migration und psychische Gesundheit. Belastungen und Potentiale. Frankfurt am Main: Mabuse, S. 23 – 38.
Hax-Schoppenhorst, T.; Jünger S. (2010). Seelische Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund. Wegweiser für Pflegende. Stuttgart: Kohlhammer.
Robert Koch-Institut (Hrsg.) (2008). Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Institutsdruck.
Scheibler, P. (1998). Interkulturelle Kommunikation und Interaktion in der Krankenpflege als Thema psychologischer Gesundheitsförderung. In: Pflege, 3. Jg., Nr. 3, S. 22 – 24.
Visser, M.; de Jong, A. (2002). Kultursensitiv pflegen. München: Elsevier.
Internetquellen
Bundesregierung. Das kultursensible Krankenhaus. 2013. http://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/2013-09-13-Krankenhaus.html (letzter Zugriff 30.10.2020)
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (2020). Bevölkerung mit Migrationshintergrund. https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/migrationshintergrund-i (letzter Zugriff 02.11.2020)
DGB-Bildungswerk. Interkulturelle Kompetenz in Kliniken. 2011. http://www.migration-online.de/data/publikationen_datei_1325498929.pdf (letzter Zugriff 30.10.2020)
Azizi, M. (2019). Migration, Flucht und psychische Folgen. https://www.lokalkompass.de/hagen/c-politik/migration-flucht-und-psychische-folgen_a1233648 (letzter Zugriff 02.11.2020)
Krohn, B. (2014). Indianische Sprichwörter. http://www.bk-luebeck.eu/sprichwoerter-indianische.html (letzter Zugriff 02.11.2020)
Schweizerische Eidgenossenschaft. Migration und Integration. 2014. http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/dos2/01.html (letzter Zugriff 22.11.2014)
Statistisches Bundesamt. Mikrozensus 2013. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_402_122.html;jsessionid=301BB8698C60DC077BBB7246A71758E3.cae3 (letzter Zugriff 22.11.2014)
Uzarewicz, C. (2008). Fremdheit und transkulturelle Kompetenz. Vortrag vom 9. Oktober 2008. http://www.stmas.bayern.de/pflege/dokumentation/ftka-uzarewicz.pdf (letzter Zugriff 22.11.2014)