Die Scham

19. März 2023 | Rezensionen

„Individuelle Wunde“

Das Ereignis erscheint unglaublich. Ein junges Mädchen im Alter von zwölf Jahren wird Zeugin, wie der Vater die Mutter zu erschlagen droht. Diese Erfahrung hinterlässt Spuren in der Gefühlswelt der Jugendlichen. Sie kann es nicht fassen. Dies geht ihr so lange, bis sie mit 52 Jahren die Geschichte aufschreibt. Sie macht noch mehr: Sie reflektiert Erfahrungen und Erlebnisse auf dem Lebensweg im Lichte dieses einschneidenden Ereignisses.

Die Schriftstellerin Annie Ernaux schreibt im Buch „Die Scham“ die eigene Lebensgeschichte auf. Dies macht die Lektüre authentisch. Nichts klingt hinzugedichtet, Ernaux wird mit aller Authentizität spürbar. Dies regt die Leser_innen von Seite zu Seite auch auf, reißt mit, lässt es gar zu einer Solidarisierung mit der Erzählerin kommen.

„Ich schreibe die Szene zum ersten Mal auf. Bisher schien mir das unmöglich, selbst in meinem Tagebuch. Als wäre es etwas Verbotenes, wofür man bestraft wird“, schreibt Ernaux bereits auf den ersten Seiten. Das erlebte Trauma wird es sein, das in jungen Jahren dazu geführt hat, Erfahrenes nach hinten zu drängen. Niemandem wünschen Leser_innen eine vergleichbare Erfahrung.

Die Erfahrung, den Vater bei unbändiger Aggression gegenüber der Mutter zu erleben, ist für Ernaux zu einer Kraft-und Ausdauerprobe geworden, bei der ihr irgendwie die Frage gestellt wurde, wie sie ein eigenes Leben auf die Beine stellen kann. Die Leser_innen sind auf die Probe gestellt, ob sie sich der Offenheit Ernauxs stellen können.

Ernaux berichtet, dass sie während des Schreibens die Szene in Farbe hat sehen können und sie auch die Stimmen sehr genau erinnerte. Nachdem es dokumentiert war, wurde es eher grau. Doch verschwand für sie nicht der Eindruck, dass es ein „Akt des Wahnsinns“ gewesen ist. Zur Bewältigung des Erfahrenen hat Ernaux den Akt des Schreibens gewählt. Die Möglichkeiten der Psychoanalyse oder der Familienpsychologie sieht sie begrenzt. Schließlich habe sie in der nüchternen Betrachtung der Akteur_innen „banale Schlussfolgerungen“ gezogen.

„Um meine damalige Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten“, schreibt sie unter anderem. Dies klingt sachlich, dabei ist Ernauxs Scham-Buch alles andere als sachlich. Es ist sicher eine Anklage an die Umstände der Zeit, in der Ernaux Kind und Jugendliche gewesen ist. Es ist die Darstellung einer individuellen Wunde.

Während der Lektüre kommt der Eindruck auf, dass eine Erfahrung, wie Ernaux sie gemacht hat, lediglich kontextualisiert werden muss, um sie verstehbar zu machen. Die Bewältigung eines persönlichen Traumas ist jedoch mehr als ein Gedankenspiel. Sie muss genauso tiefgründig erfahren und erlitten werden – im Guten.

Viel erfahren die Leser_innen über die Milieus und die Rechtschaffenheiten der damaligen Zeit in Frankreich. Sicherlich haben viele Menschen die Gelegenheit, sich die eigenen Wurzeln zu vergegenwärtigen. Und vielleicht ist das Buch eine Ermutigung für den Einen oder die Andere, selbst erfahrenes Leid anzuschauen.

Annie Ernaux: Die Scham, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-518-47180-7, 111 Seiten, 11 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at