Die „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling in der NS-Zeit

4. April 2017 | Demenz, Geschichte | 0 Kommentare

Mindestens 30.000 Menschen wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich als „unwertes Leben“ qualifiziert und im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet. Opfer wurden sowohl Erwachsene als auch Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung, psychisch Kranke (zunächst während der so genannten „Aktion T4“ in zentral geplanten Deportationen in die Vernichtungsanstalten, später dezentral und anstaltsintern), nicht mehr arbeitsfähige KZ-Häftlinge (Aktion „14f13“) bzw. Zwangsarbeiter/innen, sowie über diesen Personenkreis hinausgehend, Bewohner/innen von Pflege- und Altersheimen.

Die 1902 gegründete „Kaiser-Franz-Joseph-Landes-Heil- und Pflegeanstalt“ im niederösterreichischen Mauer-Öhling war mit seinen rund 2.000 Betten nach dem Wiener Steinhof und dem Grazer Feldhof die drittgrößte Klinik Österreichs, die im nationalsozialistischen System an der Ermordung von Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten beteiligt war. Dennoch ist über die Vorgänge in der Klinik bei Amstetten in der NS-Zeit bis heute kaum geforscht bzw. publiziert worden. (Den aktuellsten Überblick bietet: Czech 2016) Die Gründe dafür dürften in den bisherigen Schutzfristen, der Unzugänglichkeit sowie der fehlenden Erschließung der anstaltsinternen Akten liegen. So schreibt etwa Michaela Gaunerstorfer in ihrer 1989 fertig gestellten, unveröffentlichten Diplomarbeit „Die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling 1938–1945“: „Krankengeschichten konnte ich leider nicht mehr einsehen; sie dürften bereits der Skartierung zum Opfer gefallen sein.“

Tatsächlich befinden sich die Krankenakten der Jahre 1902-1977 seit kurzem im Depot des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten. Unter Wahrung des Datenschutzes werden diese nun in einem durch das Land Niederösterreich geförderten Projekt in Kooperation mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs in einer Datenbank systematisch erfasst und inhaltlich erschlossen. Nach der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz und annähernd allen anderen „Heil- und Pflegeanstalten“ (siehe bsp. Kepplinger 2008, Motz-Linhart, Rosner, Langer-Ostrawsky 2008) ein weiterer Schritt in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Österreich. Vorliegender Artikel gibt Einblicke in das laufende Forschungsprojekt.

Die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“

„Es muss schön sein, in Mauer ein Narr zu sein“, hätte angeblich Kaiser Franz Joseph bei der feierlichen Eröffnung der „Landes-Heil- und Pflegeanstalt“ gemeint. Die verkehrstechnisch günstige Lage direkt an der Westbahnstrecke wurde gewählt, um neben Niederösterreich auch Wien als Einzugsgebiet mit einzubeziehen. Noch 1937 galt Mauer-Öhling, eine Anlage mit 40 Gebäuden, davon 18 Pavillons, die von fünf Ärzten und 200 Pflegepersonen betreut wurden, als eine der größten und modernsten Anstalten Österreichs. Mit dem angeschlossenen „Meierhof“ verfügte sie zudem über 100 Hektar für die eigene Land- und Forstwirtschaft, in der die Patientinnen und Patienten zur Arbeit eingesetzt wurden. Während die Pavillons 1-4 für „streng zu überwachende Pfleglinge“ vorgesehen waren, wurden manche auch außerhalb des Anstaltsareals untergebracht. In den Dienstwohnungen im sogenannten „Pflegerdorf“ sowie in den umliegenden Bauernhöfen in „Familienpflege“ waren sie als Dienstboten und billige Erntekräfte durchaus beliebt.

Mit dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurde Mauer-Öhling jedoch bald zum Ort von NS-Medizinverbrechen, zum Ausgangspunkt von Transporten in die Tötungsanstalten und zur Drehscheibe innerhalb des nationalsozialistischen Terrorapparats zur Durchsetzung von „erb- und rassebiologischen“ Wahnvorstellungen. In NS-Deutschland war die „Ausmerze“ von „lebensunwertem Leben“ bereits im Juli 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorbereitet worden. Der Übergang von der Zwangssterilisierung zur Ermordung von Patientinnen und Patienten psychiatrischer Anstalten fiel zeitlich mit einer auf den 1. September 1939 rückdatierten „Ermächtigung“ Adolf Hitlers mit Kriegsbeginn zusammen. Durch die Eliminierung der „Ballastexistenzen“ sollte, entsprechend der propagandistischen Legitimationsstrategie, der „negativen Auslese“ durch den Krieg entgegengewirkt werden. Grundlegendes Motiv für den Massenmord war demnach die Einsparung der Kosten für Klinikbetten, medizinisches Personal, Nahrungsmittel und Medikamente, um diese Kapazitäten und Ressourcen für die Kriegswirtschaft einsetzen zu können.

Weil die zentrale Verwaltung der NS-Krankenmorde ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin hatte, erhielt sie die Bezeichnung „Aktion T4“. Gutachter wählten mittels Fragebögen Insassen der „Heil- und Pflege-Anstalten“ im gesamten Deutschen Reich, so auch in Mauer-Öhling, für den zynisch sogenannten „Gnadentod“ in den Gaskammern aus. Die Menschen, die sie zu beurteilen hatten, bekamen sie meist nicht zu Gesicht. Zwischen Januar 1940 und August 1941, dem offiziellen Stopp der „Aktion“, wurden reichsweit 70.000 Menschen in den sechs Tötungsanstalten ermordet. In dieser Zahl nicht enthalten sind all jene, die danach „dezentral“ durch gezielte Mangelernährung verhungerten, durch systematische Vernachlässigung oder herbeigeführte Infektionen starben, durch Tabletten oder Injektionen ermordet wurden. (Schwarz 2002) Insgesamt reichen die Schätzungen bis zu 200.000 Opfer der NS-Euthanasie.

Aus Mauer-Öhling ging am 13. Juni 1940 der erste Transport mit 140 Patientinnen und Patienten über die Zwischenanstalt Niedernhart in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz. Bis August 1941 wurden aus Mauer-Öhling 1.269 namentlich bekannte Patientinnen und Patienten in eine – angeblich – „der Direktion nicht genannte Anstalt übersetzt“, das heißt, in die Vernichtung „verschickt“. Zwischen Februar und Oktober 1943 wurden abermals 323 Personen in Transporten in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Gugging verlegt, von denen dort die wenigsten überlebten. (Neugebauer 2011) Nach dem Abbruch der „Aktion T4“ wurde bis Kriegsende anstaltsintern weiter gemordet. Während die Klinik 1938 einen Höhepunkt von 1.880 Pfleglingen aufwies, sank der Durchschnittsstand in den Folgejahren kontinuierlich, um schließlich bis 1945 auf 600 abzufallen. (Fürstler, Malina 2004)

Im Gegenzug waren so in der „Heil- und Pflegeanstalt“ bis zu 1.000 Betten für „volksdeutsche Umsiedler“ aus Bessarabien und der Slowakei bzw. ab März 1942 für ein Reservelazarett der Wehrmacht freigemacht worden. Aus dem Stalag-Lager Gneixendorf-Krems wurden alliierte Kriegsgefangene in die Anstalt transferiert. Seit September 1944 fungierte Mauer-Öhling als „Sammelstelle“ für „unheilbar geisteskranke Ostarbeiter und Polen“ für die gesamten „Alpen- und Donaugaue“. Falls die möglichst rasche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter nicht möglich war, wurden sie entweder in der Anstalt selbst getötet oder in die Vernichtungszentren deportiert. Noch im November 1944 ging ein Transport mit 21 Kranken nach Linz-Waldegg. (Rachbauer 2009) Von 1945 bis 1955 wurden schließlich Teile des Krankenhausareals von der Roten Armee als Kaserne genutzt, die restlichen Pavillons funktionierten weiterhin als Klinik.

Anstaltsinterne „Euthanasie“

Neben der „Aktion T4“ verdienen die „dezentralen Anstaltsmorde“ des ärztlichen und pflegerischen Personals in Mauer-Öhling besondere Beachtung. Emil Gelny, der vom Gauärzteführer Richard Eisenmenger dem Anstaltsdirektor Michael Scharpf im Oktober 1943 beigestellt wurde, ermordete, wie aus den Akten des Volksgerichtsprozesses von 1948 bekannt ist, gemeinsam mit Ärzten und Pflegepersonal noch bis kurz vor Kriegsende hunderte Patientinnen und Patienten mittels überdosierten Medikamenten, Injektionen und eines umgebauten Elektroschockgeräts.

Durch die Auswertung des Friedhofprotokolls, des Toten- bzw. Leichenhausbuches, deren Erschließung erst kürzlich gelang, (mein Dank gilt an dieser Stelle Franz Schlager, dem Stellvertretenden Kaufmännischen Direktor des heutigen Landesklinikums Mauer) sollen die als „Endzeitverbrechen“ zu wertenden Mordaktionen im November 1944, mit rund 40 Toten, hauptsächlich jedoch im April 1945, denen weitere 150 Personen zum Opfer fielen, genauer analysiert werden. Auch die „Übersterblichkeit“ durch andere Ursachen ist anhand der vorliegenden Quellen eindeutig belegbar.

In Mauer-Öhling war bereits nach den ersten „Verschickungen“ bekannt, was mit den Deportierten geschehen war, da ein Patient aus der Vergasungsanstalt Hartheim wieder zurückkehrte und einer anderen Patientin die Flucht gelang. So erfuhren nicht nur die Insassen von den tatsächlichen Vorgängen, sondern auch das Pflegepersonal. Ebenso mussten die Dorfbewohner die Euthanasie-Morde wahrgenommen haben. Die „Heil- und Pflegeanstalt“ war der größte Arbeitgeber in der kleinen Landgemeinde mit rund 3.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Von Arbeitern, die am Areal tätig waren, den Bauern, die Pfleglinge auf ihren Feldern beschäftigten, bis zum Ortspfarrer, der die Getöteten am Anstaltsfriedhof einsegnete, wusste das Dorf Bescheid.

Noch zu erforschen gilt es, zu welchen Reaktionen dieses Wissen in der örtlichen Bevölkerung führte. Entwickelte sich – analog zu den „Pyramiden von Hartheim“, die die Bewohner der anliegenden Ortschaften mit den gefundenen Knochenresten aus dem Krematorium auftürmten (Kohl 1997) – möglicherweise artikulierter Widerspruch gegen die Autoritäten?

Die Verbindungen zwischen der Anstalt und ihrem regionalen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld müssen noch verdeutlicht werden. Es kann aber angenommen werden, dass mit den im Wirtschaftstrakt, den Werkstätten, der Wäscherei, in der Küche, Fleischerei und Bäckerei Beschäftigten, die täglich die Anstalt betraten und wieder verließen, auch Kenntnisse über die inneren Vorgänge nach außen gedrungen sind. Die Frage, inwieweit sich dieses Wissen im kollektiven, respektive im kommunikativen und kulturellen bzw. im Familiengedächtnis noch heute, drei Generationen nach den Vorkommnissen äußert, ist noch zu erforschen.

Ein schwieriges Erbe

Die mittlerweile eingemeindeten Orte Mauer bei Amstetten und Oed-Öhling hatten nach 1945 ein schwieriges Erbe anzutreten und präsentierten sich nach außen mit ihrer römisch-antiken Vorgeschichte und der bemerkenswerten Jugendstilarchitektur der Heil- und Pflegeanstalt. Eine Statue des Soldatengottes Jupiter Dolichenus, die im Frühjahr 1937 bei Bauarbeiten gefunden wurde und als Wahrzeichen den Brunnen am Dorfplatz in Mauer schmückt, scheint sich als unbelastetes Identifikationsobjekt des Ortes anzubieten. Unbekannt scheint allerdings zu sein, dass der bedeutendste römerzeitliche Schatzfund Österreichs am 8. November 1938 partout mit Unterstützung der Dienststellen der NSDAP dem Kunsthistorischen Museum Wien übergeben wurde.

Als zusätzliche Ironie der Geschichte kann wohl die Tatsache bezeichnet werden, dass die Ausgrabungen durch den „Konservator der Zentralstelle für Denkmalschutz“ dokumentiert wurden, der „verhinderte, dass die überwiegende Mehrzahl der Fundgegenstände in falsche Hände geriet.“ Bei besagtem Archäologen, Historiker und Psychiater handelte sich um Josef Schicker, seit 1932 NSDAP-Mitglied, der von 1920-1938 als Primararzt in Mauer-Öhling wirkte. Nach dem „Anschluss“ wurde er zum Direktor der Anstalt Gugging befördert und zum Beisitzer am Erbgesundheitsgericht Wien bestellt, an dem die Verfahren betreffend Zwangssterilisierungen verhandelt wurden. Im Volksgerichtsprozess gegen „Dr. Gelny und Genossen“ von 1948 wurde er zunächst als Beschuldigter, dann als Zeuge geführt. „Sein größtes und alleiniges Verdienst war aber,“ laut einem aktuellen Eintrag im Österreichischen Biografischen Lexikon, „die Sicherung des Dolichenusschatzfundes von Mauer a. d. Url“.

Grundsätzlich findet sich dieses Bemühen, positive Referenzpunkte aus der Zeit vor der nationalsozialistischen Herrschaft anzuführen, auch im Umgang mit der historischen Bausubstanz der Anlage. Doch auch hier wird die Darstellung von den Schatten der Vergangenheit eingeholt: Die örtliche Neue Mittelschule, 1976 errichtet, befindet sich ausgerechnet auf dem Areal der ehemaligen „Rothschildvilla“, in der Georg Freiherr von Rothschild bis 1934 als „Pensionär“ lebte. Die Geschichte des Gebäudes bis zu seinem Abriss ist noch gänzlich unerforscht. Die Erweiterung der Friedhofsanlage der Anstalt wiederum ist aus der bauhistorischen Literatur bekannt.

Der erweiterte Anstaltsfriedhof

Grabmäler und Gedenkstätten sind Orte, an denen sich das kulturelle und kollektive Gedächtnis konstituiert, konkretisiert und materialisiert. Auf dem Friedhof des heutigen Landesklinikum Mauer wird die Historie des Ortes zwar angedeutet, eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit steht allerdings noch aus.

Aufgrund des drastischen Anstiegs der Sterblichkeitsrate von ca. 5% in der Vorkriegszeit auf 18% bis Jahresende 1943 wurde im Juni 1944 der überfüllte Anstaltsfriedhof, außerhalb der Friedhofsmauer, aber innerhalb des Anstaltsareals, um 300 Grabstellen erweitert. Nachdem dokumentiert ist, dass allein im November 1944 und April 1945 rund 190 Personen vorsätzlich ermordet wurden, ist zweifellos davon auszugehen, dass in diesem erweiterten Teil „Euthanasie“-Opfer in Massengräbern verscharrt wurden.

Heute ist der eingefriedete Teil des Friedhofs, bis auf wenige Ausnahmen von Holzkreuzen von Bestattungen der letzten Jahre, eine leere Wiesenfläche. Zwar sind die Grabhügel noch gut zu erkennen, die Gräber selbst sind allerdings nicht mehr zu identifizieren. Nichts deutet mehr auf die evangelische und vor allem auf die israelitische Abteilung mit annähernd 60 Gräbern hin, die zumindest bis in die 1960er Jahre bestanden haben muss. 1941 wurde hier der letzte Jude begraben. Für die unzähligen, noch zu recherchierenden, gestorbenen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter ist eine, wohl stellvertretend gemeinte, Gedenktafel mit der Aufschrift „Ruhestätte von 7 Kriegsgefangenen 1939 – 1945“ angebracht.

Der mit den verstorbenen Wehrmachtssoldaten belegte Teil außerhalb der Friedhofsmauer ist ebenfalls aufgelassen und befindet sich mittlerweile wieder mitten im Wald. Auf die Gräber der Psychiatrietoten, deren Grabhügel noch eindeutig zu erkennen sind, wurden vor geschätzten 20-30 Jahren Fichten gepflanzt. Dieser als unbefriedigend zu bezeichnende Zustand soll in Kooperation mit der Leitung des Landesklinikums verbessert werden und die aktuellen Forschungsresultate in ein würdiges Gedenkprojekt mit einfließen.

Schließlich führte ein ähnlicher Fund eines in der NS-Zeit erweiterten Friedhofareals im Psychiatrischen Krankenhauses in Hall in Tirol zu einer umfassenden interdisziplinären Expertinnen- und Experten-Kommission. Die historischen, sozialwissenschaftlichen, archäologischen, anthropologischen sowie medizinischen Untersuchungen mündeten in umfangreichen Publikationen. In Analogie wäre eine vergleichbare Aufarbeitung für den Anstaltsfriedhof in Mauer anzudenken. (Perz et al., 2014, Lechner, Sommerauer, Stepanek 2016, Seifert 2016)

„Ich tat nur meinen Dienst“

Im November 1945 nahm die Staatsanwaltschaft Wien und die Bezirksgendarmarie Amstetten ihre Erhebungen betreffend der Patientenmorde auf, zweieinhalb Jahre später standen zwei Ärzte und 21 Angehörige des Pflegepersonals aus den beiden niederösterreichischen „Heil- und Pflegeanstalten“ Gugging und Mauer-Öhling vor dem Volksgericht Wien. Der im Juni/Juli 1948 geführte sogenannte „Gelny-Prozess“ war mit über 90 Zeugenaussagen und einer breiten Beweisführung der wichtigste Versuch einer juristischen Ahndung der NS-Medizinverbrechen in Österreich. Einige der ursprünglich Angeklagten waren für das Gericht allerdings nicht mehr greifbar, da sie entweder untergetaucht, aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig oder in der Zwischenzeit verstorben waren.

Dr. Emil Gelny, seit 1932 SA- und NSDAP-Mitglied sowie am Juliputsch 1934 beteiligt, erst ab Oktober 1943 als „Facharzt für Geistes- und Nervenkrankheiten“ in Mauer-Öhling tätig, musste sich nie seiner Verantwortung stellen. Er flüchtete über Südtirol und Syrien in den Irak, wo er eine Praxis eröffnete und 1961 in Bagdad starb. Dr. Michael Scharpf, seit 1933 Parteimitglied, ab März 1938 während der gesamten NS-Zeit Anstaltsdirektor, befand sich seit 1945 in Untersuchungshaft, wo er ein Mordgeständnis ablegte, das er später allerdings widerrief. Er verstarb 1948 kurz vor Prozessbeginn in Linz.

Dem Vorstand der Frauenabteilung, SA-Mitglied Primarius Dr. Josef Utz, der gemeinsam mit Gelny im November 1944 tötete, wurde lediglich vorgeworfen, in den Krankengeschichten falsche Angaben gemacht und irreführende Todesursachen an das Standesamt weitergeleitet zu haben. Er wurde krankheitshalber – Kollegen hatten bei ihm Demenz diagnostiziert und ihn in die psychiatrische Klinik am Steinhof überwiesen – nie vor Gericht gestellt und verstarb 1950 in Wien. Der Vorstand der Männerabteilung, Primarius Dr. Franz Siebert, seit 1939 Parteianwärter, seit 1940 NSDAP-Mitglied, der Transportlisten nach Niedernhart erstellte, war zwar als Zeuge geladen, wurde aber selbst nie vor Gericht gestellt, da ihm außer Urkundenfälschungen keine Mitwirkung an den begangenen Morden nachgewiesen werden konnte. Zumindest bis 1962 war er weiterhin in seiner Position als Anstaltsarzt tätig.

Von den neun angeklagten Pflegerinnen und Pflegern aus Mauer-Öhling wurden sieben zu zwei bis drei Jahren schweren Kerkers wegen Mithilfe zum Meuchelmord verurteilt. Die meisten Verurteilten gingen jedoch nach wenigen Wochen schon wieder frei, da die Untersuchungshaft in das Strafmaß eingerechnet wurde; die letzten wurden 1949 begnadigt.

Die vom Pflegepersonal angewandten Rechtfertigungs- und Entlastungsstrategien, nur seinen „Dienst getan“ zu haben und die alleinige Verantwortung auf den flüchtigen „Haupttäter“ Gelny abzuwälzen und damit der Personalisierung der Vernichtungsmaschinerie Vorschub zu leisten, sind in hohem Maß problematisch und kritisch zu betrachten. Die Kontinuitäten und Brüche der Karrieren, vor, während und nach der NS-Zeit, sowohl des ärztlichen als auch des pflegerischen Personals, wären im Rahmen einer tiefergehenden österreichischen Täterforschung weiter zu ergründen.

Literatur

Herwig Czech, Von der „Aktion T4“ zur „dezentralen Euthanasie“. Die niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalten Gugging, Mauer-Öhling und Ybbs, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Fanatiker, Pflichterfüller, Widerständige. Reichsgaue Niederdonau, Groß-Wien, Wien 2016 (= Jahrbuch 2016), S. 219-266.

Gerhard Fürstler, Peter Malina, „Ich tat nur meinen Dienst“. Zur Geschichte der Krankenpflege in Österreich in der NS-Zeit, Wien 2004.

Michaela Gaunerstorfer, Die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling 1938-45, Dipl. Arb., Univ. Wien 1989.

Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2008.

Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim. „Euthanasie“ in Oberösterreich 1940-1945, Grünbach 1997.

Gertrude Langer-Ostrawsky, Medizingeschichtliche Quellen – Probleme und Methoden in der Bearbeitung der Akten der Niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalten Gugging und Mauer-Öhling 1938-1945, in: Sonia Horn (Hg.), Medizin im Nationalsozialismus. Wege der Aufarbeitung. Überarbeitete Vorträge der internationalen Tagung im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien Baumgartner Höhe, Wien 2001.

Stefan Lechner, Andrea Sommerauer, Friedrich Stepanek, Beiträge zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol im Nationalsozialismus und zu ihrer Rezeption nach 1945. Krankenhauspersonal – Umgesiedelte SüdtirolerInnen in der Haller Anstalt – Umgang mit der NS-Euthanasie seit 1945, Innsbruck 2016.

Reinelde Motz-Linhart, Willibald Rosner und Gertrude Langer-Ostrawsky (Hg.), Psychiatrie ohne Menschlichkeit. Gugging 1938-1945. Die Vorträge der Gedenkveranstaltung „Psychiatrie ohne Menschlichkeit – Wir Vergessen Nicht!“ im Landesklinikum Donauregion Tulln-Gugging, St. Pölten 2008.

Wolfgang Neugebauer, Die NS-Euthanasiemorde in Niederösterreich 1940-1945, in: Heinz Arnberger, Claudia Kuretsidis-Haider (Hg.), Gedenken und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Wien 2011, S. 144-148.

Bertrand Perz et al. (Hg.), Schlussbericht der Kommission zur Untersuchung der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall in Tirol in den Jahren 1942 bis 1945, Innsbruck 2014.

Markus Rachbauer, Die Ermordung von psychisch und physisch kranken ausländischen ZivilarbeiterInnen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ – unter schwerpunktmäßiger Betrachtung des Gaues Oberdonau, Dipl. Arb., Univ. Salzburg 2009.

Peter Schwarz, Mord durch Hunger. „Wilde Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ am Steinhof in der NS-Zeit, in: Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer, Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Band 2, Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung, Wien 2002, S. 113-141.

Oliver Seifert, Leben und Sterben in der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol 1942 bis 1945. Zur Geschichte einer psychiatrischen Anstalt im Nationalsozialismus, Innsbruck 2016.

Autor

  • Philipp Mettauer

    Dr. phil. Philipp Mettauer Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten Philipp.Mettauer@injoest.ac.at Kürzlich erschienen: Martha Keil, Philipp Mettauer (Hg.), Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Studienverlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2016.