Die Befreiung der Anstalt am 2. Juli 1945 – Nach dem Ende der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee
Von 1939 bis 1945 wurden im Rahmen des nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Programms etwa 300.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen ermordet. Die Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren mit ihrer Zweigstelle in Irsee war einer der Schauplätze, an dem diese Verbrechen stattfanden. Zwar befand sich Kaufbeuren ab dem 27. April 1945 unter amerikanischer Besatzung, doch erst am 2. Juli betraten Offiziere die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und entdeckten „eine totale Ausrottungsmaschinerie“ (Klappentext). Bei ihrer Inspektion der Einrichtungen in Kaufbeuren und Irsee stießen die Alliierten auf unglaubliche Bilder. Die amerikanischen Behörden verfassten einen erschütternden Bericht („Special statement of fact“), der auf diese Verbrechen aufmerksam machte und dabei eine Reihe von Aktivitäten zur Aufklärung, Dokumentation und juristischen Aufarbeitung auslöste (7).
Der vorgestellte Band behandelt die Ereignisse der Jahre 1945 bis 1949: die letzten Kriegsmonate in der Heil- und Pflegeanstalt, die Befreiung am 2. Juli 1945 sowie die Zeit danach, als es die psychiatrische Versorgung trotz wirtschaftlicher und personeller Schwierigkeiten aufrechterhalten wurde.
Nach einem einführenden Vorwort und einer erläuternden Einleitung befasst sich ein Beitrag von Ulrich Pötzl mit der Biographie des seinerzeitigen Direktors Valentin Faltlhauser (1876-1961), mit der Situation der psychiatrischen Einrichtung in der NS-Zeit und mit dem Sterben der Patientinnen und Patienten in den letzten Kriegsmonaten. Michael von Cranach beschreibt in seinem Beitrag das Auffinden und die erste Reaktion auf das Auffinden des alliierten Berichts. Im Anschluss finden die Leser den Bericht der Amerikaner vom 2. Juli 1945 als Abdruck des Originals.
Weiter folgt die Wiedergabe zeitgenössischer Reaktionen in der Presse auf diesen Bericht sowie von den amerikanischen Alliierten angeforderte Stellungnahmen zu diesen Vorgängen – von Valentin Faltlhauser vom 15.07.1945 und Heinz Lieser vom 07.01.1947. Ein Kapitel von Petra Schweizer-Martinschek und Erich Resch beschreibt eine wechselvolle Geschichte der Einrichtung in der Nachkriegszeit und das allmähliche Rückkehren zu einer „Normalität“ ohne deutliche Zäsur. Ein weiterer Beitrag erörtert die Sterblichkeitsraten in der Kriegszeit und unmittelbar danach. Der Beitrag von Corinna Malek behandelt die Entnazifizierungsverfahren in Kaufbeuren. Malek bemerkt ebenfalls einen „fehlende(n) konstruktive(n) Neuanfang in der Psychiatrie“ (9). Der abschließende Nachtrag wird ergänzt durch einen Anhang, der Verzeichnisse zu Quellen, Abbildungen, Literatur und Autoren enthält.
Mit dem vorliegenden Band gelingt es den Herausgebern, Michael von Cranach (Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren von 1980 bis 2006) und Petra Schweizer-Martinschek (Leitung des Historischen Archivs des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren), Vorgänge zu benennen und einzuordnen, Fragen aufzuwerfen. Ein besonderes Verdienst dieser Arbeit liegt darin, das Wissen um die lokalen Vorgänge zu teilen und dieses eingebettet in die lokalen und regionalen Ereignisse einzubetten. Am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren machen die Herausgeber deutlich, inwiefern die der Diskurs der Nachkriegszeit von einem „Nebel des Schweigens, Verdrängens und Leugnens“ (110) geprägt war. Vor diesem Hintergrund bekräftigen sie nachdrücklich den besonderen Stellenwert einer lebendigen Gedenkkultur.
Petra Schweizer-Martinschek, Michael von Cranach: Die Befreiung der Anstalt am 2. Juli 1945. Das Ende der nationalsozialistischen NS-„Euthanasie“-Verbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. VDS, Neustadt 2021, ISBN 978-3-87707-223-3, 116 Seiten, 12 Euro.