In der Gesundheitsversorgung haben Diagnosen eine herausragende Bedeutung. Dabei darf sicher nicht vergessen werden, dass auch medizinische Klassifikationssysteme keine monolithischen Blöcke sind. Vielmehr sind sie Anpassungen ausgesetzt. Manche sprechen von Mode-Diagnosen, andere pochen auf die Seriosität. Christoph Müller hat mit dem Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider gesprochen, der vor kurzem das Buch „Normal, gestört, verrückt – Über die Besonderheiten psychiatrischer Diagnosen“
Christoph Müller Es gibt Experten, die medizinischen Diagnosen einen modischen Charakter zuschreiben. Sie schreiben über den beweglichen Charakter von Diagnosen. Wie sollen aus Ihrer Sicht Fachkräfte im Gesundheitswesen Klassifikationssystemen begegnen?
Peter Schneider Wenn man von „Mode-Diagnosen“ spricht, dann mit polemischer Absicht. Man will damit sagen: Es kann doch nicht sein, dass plötzlich so viele Menschen mehr an Eisenmangel leiden oder dass plötzlich alle, die nur schüchtern sind, mit einer Sozialphobie diagnostiziert werden. Ich will nicht sagen, dass solche Polemik nicht legitim sein kann. Aber wenn man sich damit beschäftigt, dass insbesondere psychiatrische Diagnosen fast alle „beweglich“ sind, kann man eine Sackgasse vermeiden. Nämlich zwischen echten und nur modischen Diagnosen unterscheiden zu müssen. Ich glaube, dass es für Menschen, die in der Psychiatrie arbeiten, entspannend sein kann, sich klar zu machen, dass es sich bei diesen Diagnose-Kategorien nicht um natürliche Arten wie etwas bei Pflanzen handelt. Sie repräsentieren nicht eine Landschaft, wie eine Landkarte es tut. Man muss sich dann nicht immer entscheiden, ob eine Störung eine Naturtatsache oder bloß neumodischer Kram ist.
Christoph Müller Bei dem Blick auf die Schizophrenie äußern sie die Position, dass die Schizophrenie eine psychische Leistung, weniger eine Degeneration sei. Wo nehmen Sie bei der Auseinandersetzung mit den Konzepten von Kraepelin und Bleuler den Optimismus her, so optimistisch auf die Schizophrenie zu schauen?
Peter Schneider Bleuler hat sich so rasant gegen Kraepelins Vorstellung von der Schizophrenie als vorzeitiger Demenz durchsetzen können, weil sich die Dementia Praecox als eine therapeutische und eine theoretische Sackgasse herausgestellt hat. Man hat die Krankheit mit Kraepelins Konzept weder verstehen noch behandeln können. Bleulers Schizophrenie-Konzept liefert beides: Ein Verständnis und die Aussicht auf eine sozialpsychiatrische Behandlung und Besserung. Die Entwicklung der antipsychotischen Psychopharmaka gaben auch Grund zum Optimismus, wenngleich sie sich keiner wirklichen Einsicht in die Ätiologie der Schizophrenie verdanken. Ich bin gar nicht besonders optimistisch. Ich denke nur, hinter den durch Bleuler begründeten Optimismus können wir schlicht nicht zurückfallen. Wir werden kaum sagen können: Lassen wir doch den ganzen sinnlosen Therapie-Kram weg, wir schließen diese Leute am besten wieder in großen Schlafsälen weg.
Christoph Müller Bei der Beschäftigung mit psychopharmakologischen Interventionen bei psychischen Erkrankungen entkräften Sie jeden Optimismus, der durch biologisch denkende und arbeitende Psychiater verbreitet wird. Ist dies nicht etwas übermütig in einer psychiatrischen Versorgung, die so sehr an die Neurobiologie glaubt?
Peter Schneider Ich habe nichts Grundsätzliches gegen die Neurobiologie einzuwenden. Nur hat sie ihre therapeutischen Versprechungen nicht einhalten können. Ich finde Psychopharmaka nicht als Teufelswerk. Antidepressiva haben vielen Menschen geholfen, bei vielen sind sie aber auch wirkungslos. Wenn sie wirken, wirken sie über den Mechanismus, den man neurobiologisch nicht wirklich versteht. Antipsychotika wirken, ohne dass man eine hieb- und stichfeste Theorie darüber hat, wie sie das genau tun. Die Elektrokrampftherapie, die heute wieder bei starken Depressionen zum Einsatz kommt, soll so etwas wie eine Art neuronalen „Reset“ bewirken. Aber eine solche Metapher ist ja kaum das, was man in den Naturwissenschaften als Erklärung akzeptiert.
Christoph Müller Über die knapp 200 Seiten des Buchs hinweg hat die Leserin, der Leser das Gefühl, dass sie mit einem zwinkernden Auge und einem süffisanten Lächeln auf die Versorgung seelisch erkrankter Menschen schauen. Welchen Raum müssen aus Ihrer Sicht Heiterkeit und Humor einnehmen, damit die Seele von Menschen wieder zur Ruhe kommt?
Peter Schneider Tue ich das? Ich glaube, dieser Eindruck entsteht, weil ich mich vor allem historisch und auf eine gewisse Art „ethnologisch“ mit dem Thema beschäftigt. Ich muss ja nichts beweisen. Vielleicht wirkt das schon irgendwie heiter. Diese Heiterkeit verfliegt, wenn man diese Distanz aufgibt. Und das muss man ja auch immer wieder tun. Zum Beispiel, wenn man den skandalösen Umgang mit psychischen Behinderungen kritisiert.
Christoph Müller Sie nutzen die Gelegenheit, die kosmetische Chirurgie kritisch anzuschauen. Sie stellen fest, dass die kosmetische Chirurgie offen gegenüber Moden sei und damit jedem Ideologieverdacht fernstehe. Warum steht die Psychiatrie immer wieder unter Ideologieverdacht, obwohl sie gleichfalls Moden ausgesetzt ist (Beispiel Burnout-Diagnose)?
Peter Schneider Natürlich betrachten viele (nicht zu Unrecht) die kosmetische Chirurgie als Auswuchs einer bestimmten Schönheitsideologie. Und die kosmetische Chirurgie antwortet: Ja und? Meistens schwurbelt sie dazu noch etwas von einem besseren psychosozialen Wohlbefinden. Damit ist sie auch schon – Achtung Wortspiel – aus dem Schneider. Die Psychiatrie hat das Problem, dass der Gegenstand, mit dem sie arbeitet, noch wabbliger ist als überschüssiges Bauchfett.
Die Diagnosen in den realen Krankenberichten lesen sich oft wie von einem Zufallsgenerator erzeugt. Therapien sind den Diagnosen eher locker zugeordnet. Es ist Geschmackssache und eine Angelegenheit des Ausprobierens, ob man gegen eine Angststörung Benzodiazepin verordnet oder ein eher beruhigendes Antidepressivum.
Wenn nun eine neue Diagnose auftaucht, kann man sich dann natürlich fragen: Wodurch ist die gerechtfertigt? Besondere Laborwerte oder histologische Befunde kann man für die Rechtfertigung ja nicht vorweisen. Wozu sich also eine neue Diagnose aufhalsen, wenn schon bei den anderen alles so wenig trennscharf und keine der Diagnosen eindeutig einer bestimmten Therapie zugeordnet werden kann? Die Antwort geben dann die Patienten, die sich in ihrem Erleben nicht einfach nur depressiv fühlen, sondern auf eine Art überlastet, die sie z.B. mit ihren Arbeitsbedingungen in Verbindung bringen. Wenn sie dann ein Antidepressivum nehmen, dann empfinden sie das als eine Art Off-Label-Medikation. Sie schlucken etwas, das nicht nur gegen Depressionen, sondern auch gegen Symptome des Burnouts hilft.
Christoph Müller Als sie Big Data und Psychiatrie thematisieren, wendet sich Ihr Blick auf die forensische Psychiatrie. Sie denken über Mustererkennungen und Gefährlichkeitsprognosen nach. Wenn dies so weit getrieben wird, kann der Missachtung des Menschlichen nicht mehr mit Ironie begegnet werden. Oder verstehe ich Sie falsch?
Peter Schneider Das verstehen Sie sehr richtig. Wobei ich ohnehin Ironie nicht für einen empfehlenswerten Dauerzustand halte. Man muss zwischen den Einstellungen switchen können. Außerdem schließen sich Engagement und Ironie nicht aus.
Christoph Müller Es ist keine Neuigkeit, dass sich die Psychiatrie mit der Psychoanalyse schwer tut. Umgekehrt scheint es genauso zu sein. Was sollte aus Ihrer Sicht geschehen, dass das Miteinander besser gelingt?
Peter Schneider Seit den sechziger Jahren ist die Psychoanalyse in der Psychiatrie ins Abseits geraten. Das hat sie auch ihrer eigenen Selbstüberschätzung zu verdanken, die Theorie von allem zu sein. Vielleicht müsste die Psychiatrie von ihren ständigen leeren Fortschrittsversprechen wegkommen und die Psychoanalyse von ihrem scholastischen Konservatismus. Vielleicht könnten Sie sich darauf einigen, dass beide irgendwie im Trüben fischen – aber dabei durchaus immer wieder mal respektable Fänge machen.
Christoph Müller Herzlichen Dank für den regen Austausch, Herr Schneider.
Peter Schneider Es war meinerseits ein großes Vergnügen.
Das Buch, um das es geht
Peter Schneider: Normal, gestört, verrückt – Über die Besonderheit psychiatrischer Diagnosen, Schattauer-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-608-40031-1, 194 Seiten, 20 Euro.