Es sind manchmal ungewöhnliche Perspektiven, die den Reiz eines Buchs ausmachen. Mit dem Buch „Der Stuhl“, das die psychiatrie-erfahrene Lisa Jüh geschrieben hat, ist dies auch so. Sie lässt einen Stuhl, der auf einer psychiatrischen Station steht, aus der Ich-Perspektive erzählen. Viele Menschen werden denken: „Was ist denn das Besondere daran?“
Das Besondere ist irgendwie das Alltägliche, das der Stuhl zwischen scheinbar verrückten Menschen in einer therapeutischen Welt erlebt. Stühle erleben viele Positions-und viele Ortswechsel innerhalb eines Tages oder innerhalb einer Woche. Somit erleben sie, wären sie Menschen, immer wieder Bewegendes. Hätten die Stühle Ohren, so müssten sie sich wahrscheinlich immer einmal dieselben zuhalten. Hätten sie einen Mund, so würden sie sicher in der einen oder anderen Situation das Geschehene kommentieren.
Die ungewohnte und ungewöhnliche Perspektive, psychiatrischen Alltag aus der Sicht eines Stuhls zu erzählen, ist faszinierend. Es drängt sich auf, die eine oder andere Geschichte von verrückten Menschen aus einer ver-rückten Perspektive zu erzählen. Denn so wird deutlich, dass der scheinbar verrückte Mensch doch ein ganz normaler Mensch ist.
In Lisa Jühs Roman erlebt der Stuhl den psychiatrischen Alltag in ganz unterschiedlichen Zimmern. Er hört bei den regelmäßigen Visiten und Teambesprechungen genauso zu, wie er einfach auf einem Flur oder einem Gemeinschaftsraum auf die Nutzung wartet. Er lässt teilhaben, wie er im Raucherraum steht und die Ursprünglichkeit des Erlebten der Menschen hört, deren Seelen aus der Balance geraten sind.
Es sind Momente der Ruhe und der Hektik. Es sind Momente, die von Neugier geprägt sind, aber auch von der Banalität des Alltäglichen. Über den Kunstgriff, den Stuhl zum Protagonisten des Romans zu machen, gelingt es Lisa Jüh, das Geschehen im psychiatrischen Setting aus der Distanz anzuschauen und anzuhören. Da wird natürlich die eine oder andere Kritik an dem Alltag in der Psychiatrie spürbar. Es erscheint so, dass der Stuhl hier oder dort zu lächeln scheint, da die psychiatrische Welt bekanntlich seine Eigengesetzlichkeiten hat.
Die Erzählungen Lisa Jühs bestechen durch ihr Einfühlungsvermögen. Die Leserin und der Leser kann gar nicht anders als sich an vielen Stellen mit den Menschen zu solidarisieren, die an seelischen Erkrankungen leiden und vielleicht auch die psychiatrische Station als mühsam erleben. Auf eine eher unterhaltsame Weise lernen die Leserinnen und Leser, was bestimmt psychische Erkrankungen ausmacht.
Was leistet Lisa Jühs Buch „Der Stuhl“? Es ist für psychiatrisch Tätige eine Aufforderung, den Alltag im Versorgungssetting einmal aus der einen oder anderen Perspektive anzuschauen. Die Betroffenen selbst haben die Gelegenheit, das persönliche Leiden vielleicht auch einmal zu relativieren. Denn auf eine sympathische Weise zeigt sich auf den 150 Seiten, dass beispielsweise eine Station eine ganz eigene Dynamik hat. Und die Angehörigen? Sie erleben vielleicht das Binnenleben einer psychiatrischen Station, eines psychiatrischen Wohnheims in seiner Alltäglichkeit – ohne jegliche Tragik und ohne jede Dramatik.
Lisa Jüh: Der Stuhl – Erfahrungen einer Sitzgelegenheit in der Psychiatrie, Books on Demand, Norderstedt 2019, ISBN 978-3-7481-6917-8, 8.90 Euro.