Hört man sich in der deutschsprachigen Pflegelandschaft um, vernimmt man immer wieder die Gerüchte, dass die Schweiz besser bezahlt, optimierter ausbildet und den Bereich der Pflegeforschung adäquat fördert. Dies war für uns ein Grund, den Leiter für den Direktionsbereich Gesundheitspolitik zu einem Interview einzuladen…
Pflege Professionell: Die Schweiz hat einen sehr hohen Standard in der Pflege. Wie sehen Sie diese Vorreiterrolle?
Direktor Stefan Spycher: Die Schweiz hat durch das Bildungssystem, Berufsbildung und Hochschulbildung, Fachhochschulen, Universität und höhere Fachschulen sehr differenzierte Pflegeprofile, was in den Institutionen einen bewussten Skill- und Grademix zulässt. Da die Pflegeausbildung in der Schweiz immer einen hohen Stellenwert hatte, ist die Rolle der Pflegenden im Verhältnis zu den Ärztinnen und Ärzten eine vergleichsweise anerkanntere als in anderen Ländern, was sich darin zeigt, dass bei uns Pflegende weitergehende Kompetenzen haben und Arbeiten übernehmen, die in anderen Ländern bei Ärztinnen und Ärzten liegen.
Pflege Professionell: Wenn Sie ihr Gesundheitssystem mit dem von Österreich und Deutschland vergleichen. Wo sehen Sie die Stärken und Schwächen der Schweiz?
Direktor Stefan Spycher: Die Schweiz hat Stärken in folgenden Bereichen: gut ausgebildetes Personal, hohe Zufriedenheit der Bevölkerung, gute modern ausgerüstete Infrastruktur auf dem Stand neuester Technologie, breite Zugänglichkeit und gute Erreichbarkeit, keine Wartezeiten, keine Rationierungen, sichere Finanzierungsgrundlage, breiter Leistungskatalog. Von Schwächen spricht man ja weniger gerne, aber die gibt es in der Schweiz natürlich auch: es gibt eine Reihe von Fehlanreizen, die zu einem zu hohen Angebot an Leistungen und zu hohen Kosten führen. Gleichzeitig können wir mangels einer kohärenten Qualitätsmessung und Versorgungsforschung kaum beurteilen, was in der Praxis tatsächlich geschieht. Weiter sind die E-health- Anwendungen noch kaum verbreitet. Die Regierung, der Bundesrat, hat auf diese Mängel reagiert und eine umfassende Reformagenda Gesundheit 2020 verabschiedet (www.gesundheit2020.ch).
Pflege Professionell: Anhand der demografischen Entwicklung könnte ein ökonomischer Druck entstehen. Ist ein solcher bereits bemerkbar?
Direktor Stefan Spycher: Der Druck wird insbesondere im Langzeitpflegebereich sicher stark ansteigen. In der aktuellen Diskussion stehen aber eher die Gesundheitskosten, die im akutmedizinischen Bereich zunehmen, im Vordergrund. Da zwei Drittel der Kosten durch Kopfprämien bezahlt werden, wird auch die soziale Tragbarkeit für Wenigverdienende intensiv diskutiert.
Pflege Professionell: Wie beeinflusst die Währungspolitik und die Arbeitsmarktpolitik, Ihr handeln?
Direktor Stefan Spycher: Der Gesundheitsbereich ist ein volkswirtschaftlich zentraler Bereich und entsprechend spielen die Interdependenzen zu den genannten Politiken eine Rolle. Mehr Sorgen macht uns derzeit aber das aussenpolitische Verhältnis zur EU. Hier wurde eine Schweizerische Volksinitiative angenommen, die eine Limitierung der Zuwanderung verlangt. Die konkrete Umsetzung dieses Anliegens ist noch offen. In der Schweiz sind wir aber in höchstem Masse vom Zustrom von Pflegenden und Ärzten und Ärztinnen aus dem Ausland angewiesen. Heute haben wir diesbezüglich bereits einen Anteil von 35-40%. Sollte dieser Zustrom sich stark reduzieren, hätten wir ernsthafte Versorgungsprobleme.
Pflege Professionell: Können Sie den hohen pflegerischen Standard der Schweiz auch in den nächsten Jahrzehnten noch halten?
Direktor Stefan Spycher: Dies wird angesichts der knappen personellen Ressourcen eine grosse Herausforderung sein, die auf mehreren Ebenen angegangen werden muss. Zentral wird die Stärkung der Interprofessionellen Zusammenarbeit sein und die bewusste Aufgabenverteilung. Der Skill- und Grademix wird noch zentraler werden und die enge Zusammenarbeit mit Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen. Weiter erhoffen wir uns Produktivitätssteigerungen durch die flächendeckende Einführung eines e-Patientendossiers sowie weiterer Digitalisierungen.
Pflege Professionell: Wie steht die Politik in der Schweiz zu einer Pflegekammer?
Direktor Stefan Spycher: Die Einführung einer Pflegekammer ist in der Schweiz derzeit kein Thema. Allerdings beabsichtigen wir, eine neue Diskussionsplattform zu schaffen, auf der alle Themen rund um die Pflege bearbeitet werden können.
Pflege Professionell: Welche Empfehlung würden Sie Österreich und Deutschland in Bezug auf ANP geben?
Direktor Stefan Spycher: Es wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein versorgungspolitisch zentraler Schritt sein, Pflegende mit erweiterten Kompetenzen im System einzusetzen. Gerade auch im Bereich der chronisch erkrankten und alten Menschen ist zu prüfen, wie Pflegende in die Fallführung eingebunden werden können. Das Potenzial von ANP bezüglich Entwickeln von Versorgungsplänen und Behandlungspfaden soll genutzt werden, um die Gesundheitsversorgung kontinuierlich am Versorgungsbedarf auszurichten. Diese Entwicklungen stehen aber in der Schweiz noch ganz am Anfang, daher können wir noch von keinen Best-Practices berichten.
Pflege Professionell: Wie sieht in der Schweiz die Finanzierung von pflegerelevanten Forschungsarbeiten aus? Gibt es hierfür finanzielle Ressourcen und wenn ja von wem?
Direktor Stefan Spycher: Die Pflege wird vom Bund und von den Kantonen von mehreren Seiten bei ihren Forschungsarbeiten finanziell unterstützt. Bildungsseitig vor allem von Seiten des Staatssekretariates für Bildung und Forschung und Innovation, weiter durch den schweizerischen Nationalfonds SNF, mit gesundheitspolitischen Blickwinkel aus der Optik der Ressortforschung im Bundesamt für Gesundheit, für Fragen der Versorgung meist aus kantonalen Mitteln. Zu erwähnen ist in diesem Kontext aber auch ein Nationales Forschungsprogramm zur Versorgungsforschung.
Pflege Professionell: Was würden Sie an der pflegerischen Ausbildung verändern, wenn Sie absolut freie Hand hätten?
Direktor Stefan Spycher: Ich würde die Masterstudiengänge auf die Rolle der Clinical nurse und der Advanced nurse profilieren und ihr auch einen rechtlich einheitlichen Rahmen für die Berufsausübung geben. Daneben würde ich interprofessionelle Module insbesondere zu Themen wie Kommunikation, gemeinsame Entscheidungsfindung und Leadership aufbauen.
Autor: Markus Golla, BScN
Titel: „Der Schweizer Weg der Pflege“
Ausgabe: Pflege Professionell 02/2015
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