„Der Begriff Loyalität läuft jedoch Gefahr, zur Allerweltsvokabel degradiert zu werden“

3. Oktober 2020 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Thomas Hax-Schoppenhorst (C) Jürgen Georg

Mit diesem Buch werden Thomas Hax-Schoppenhorst und Michael Herrmann ein Zeichen setzen. „Treue und Vertrauen – Handbuch für Pflege-, Gesundheits-und Sozialberufe“ ist der sachlich klingende Titel. Dabei nehmen die beiden Herausgeber mit zahlreichen Autorinnen und Autoren Begriffe in den Blick, die [auf den ersten Blick] veraltet wirken. Deutlich ist jedoch schnell, dass Treue und Vertrauen nichts an Aktualität eingebüßt haben. Christoph Müller hat mit Thomas Hax-Schoppenhorst und Michael Herrmann zusammengesessen.

Christoph Müller Die Begriffe Treue und Vertrauen werden häufig mit Pathos in Verbindung gebracht. Was macht die Aktualität der Begriffe in seiner Konkretheit aus?

 

Michael Herrmann

Thomas Hax-Schoppenhorst Pathos verfälscht den Blick auf das Eigentliche und Wesentliche. Treue zählt unter anderen zu den Tugenden, mit der die Verlässlichkeit eines Menschen gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ihren Ausdruck findet. Sie ist im Zusammenleben der Menschen unverzichtbar und muss thematisiert und praktiziert werden. Vertrauen – die Erfahrung, dass man sich auf jemanden oder auf sich selbst verlassen kann – bildet das Fundament unserer Psyche. Es macht soziales Miteinander überhaupt erst möglich. Zwar ist gerade der Begriff Treue in der Vergangenheit, so im Nationalsozialismus, missbraucht bzw. pervertiert worden, das ist aber kein Grund, ihn über Bord zu werfen. Ebenso verhält es sich mit dem Vertrauen; hier handelt es sich keineswegs um ein süßlich-naives Lebensgefühl, das man hat oder eben nicht hat. Vertrauen muss in den Anfängen des Lebens vermittelt werden, um dann sich dann immer wieder neu zu entwickeln. Das Problem unserer Zeit ist, dass sich die Mehrheit nicht mehr für ihr „Geschwätz von gestern“ interessiert. Vertrauen wandelt folglich global auf dünnem Eis.

Die Pflege ist eine der wenigen Bastionen des Vertrauens und der Treue; ohne diese Tugenden sind Beziehung und Entwicklung nicht möglich. Eine Vielzahl von Beiträgen von pflegerischen Kolleginnen und Kollegen in dem Buch macht dies unter hohem Praxisbezug deutlich.

Michael Herrmann Dass Treue und Vertrauen – leicht abfällig bis mitleidig – mit Pathos in Verbindung gebracht werden, zeigt, wie tief sich gesellschaftliche Missbrauchserfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein vor allem der älteren Bevölkerung eingegraben haben. Verheizt in den Gräben des Ersten Weltkriegs, während der Inflation zwischen den Kriegen um Erspartes und Lebensstellung betrogen und dann im Nationalsozialismus vom Regen in die Traufe. Was blieb, waren in jeder Hinsicht Trümmer. Innere Trümmer werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nach Aufbau und Optimismus kam die Zeit nach der Wende mit ihren bis heute anhaltenden sozialen Verfallserscheinungen. Auch sie trug nicht zur Vertrauensbildung bei. Es wird die Vertrauensarbeit von Generationen politisch und wirtschaftlich Verantwortlicher brauchen, bis „treu“ nicht mehr mit „treu-doof“ gleichgesetzt wird.

Christoph Müller Wenn wir auf Menschen in psychosozialen Berufsfeldern schauen, dann wird schnell offensichtlich, dass sie eine Verlässlichkeit und Beharrlichkeit auszeichnet, die in anderen Handlungsfeldern vermisst werden. Ist diese Form der Treue ein Moment dafür, auf sich als Pflegende oder Betreuende stolz zu sein?

Thomas Hax-Schoppenhorst Wir kennen zwei verschiedene Formen des Stolzes. Die prosoziale, erfolgsorientierte Form der Emotion gilt es von der selbstverherrlichenden, anmaßenden Form zu trennen. An Rad schlagenden stolzen Pfauen mangelt es nun in der Tat nicht, so dass wir verständlicherweise eher zurückschrecken. Stolz gilt als peinlich, prahlerisch, mitunter abstoßend. Damit jedoch gibt man dem gewissermaßen ‚gutartigen‘ Stolz keine Chance. Das ist ausgesprochen schade, denn Stolz kann fördernd, inspirierend und stabilisierend wirken. Pflegende tun sich nach meiner Erfahrung sichtlich schwer, Stolz zu empfinden und auch zu artikulieren. Sie leben die eher – sorry – ‚artige‘ Variante. Dementsprechend sind auch die Reaktionen: Es wird ‚nett‘ von Balkonen applaudiert, wenn sich Systemrelevanz offenbart. So kommt man aber nicht weiter. Pflegende haben mehr verdient!

Christoph Müller Menschen bauen auf das Vertrauen Anderer, wenn ihre Seelen aus der Balance geraten sind, sie aufgrund einer schweren Erkrankung der Endlichkeit in die Augen schauen oder sie wegen einer zunehmenden Gebrechlichkeit dauernde Unterstützung brauchen. Was zeichnet das Vertrauen aus, das sie den Helfenden schenken?

Thomas Hax-Schoppenhorst Wer, aus welchen Gründen auch immer, ‚am Ende‘ ist, verspürt das Bedürfnis, sich ungefiltert mitteilen zu können, sich fallen zu lassen, die Wahrheit zu sagen, Angst mitzuteilen oder auch hemmungslos zu weinen. Dass diese und andere zutiefst menschlichen Reaktionen gut aufgehoben sind, angenommen werden und dass darauf eine ehrliche, tröstende, Hoffnung vermittelnde Antwort/Reaktion durch das pflegende Gegenüber folgt, ist das Verdienst Pflegender, die ihrem Auftrag und Grundprinzipien treu sind. Die sich hier darstellende Situation hat nichts Falsches und ermöglicht so die Begegnung von Mensch zu Mensch. Das macht den Pflegeberuf so einmalig und kostbar.

Christoph Müller Treue wird hinlänglich mit Loyalität in Verbindung gebracht. Im Zusammenhang mit einer Lebenspartnerschaft ist dies nachvollziehbar. Welche Loyalität brauchen Menschen in Krisen? Gibt es nicht auch maligne Formen der Loyalität, wenn wir schauen, dass beispielsweise Pflegende bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit arbeiten?

Michael Herrmann In Krisen braucht es unterstützendes Miteinander. Eine schwierige Sache in monetär-marktorientierten Kulturen, in denen hauptsächlich der Einzelne und sein Wohlergehen zählen. Den Begriff „maligne Loyalität“ finde ich schwierig. Er wirkt, als würde die Pflegeperson etwas falsch machen, dabei versucht sie nur, mit einem ethischen Dilemma klarzukommen. Oder soll sie mitten im Verbandwechsel aufhören, weil sie plötzlich merkt, dass sie heute schon die dritte Überstunde macht? Wir sollten ein paar Etagen höher in die verantwortlichen Ministerien, die Vorstandsetagen von Krankenkassen, die Geschäftsleitungen von Kliniken schauen und uns dort, unter den höheren Gehaltsgruppen, nach „Loyalität“ und „Treue“ umschauen. Dort werden die Bedingungen geschaffen, die „maligne Loyalität“ auslösen.

Thomas Hax-Schoppenhorst Loyalität sollte erst dann gewährt werden, wenn es auch einen Anlass dazu gibt. So können Vorgesetzte, die sich für ihre Mitarbeiter*innen ins Zeug legen, durchaus im Gegenzug erwarten, dass sie dies erwidern. Der Begriff Loyalität, wie viele andere auch, läuft jedoch Gefahr, zur Allerweltsvokabel degradiert zu werden. Das hängt damit zusammen, dass das ‚edle Etikett‘ schnell vergeben wird, um etwas in schönem Licht erscheinen zu lassen. Haarsträubend wird es, wenn mit der Einforderung von Loyalität nur ein Ziel verfolgt wird: das Schweigen der Kritiker.

Mit Ihrer Frage kommen zentrale Gesichtspunkte des gesamten Buches ins Spiel. Die aus verschiedenen Perspektiven verfassten Beiträge werfen ein kritisches Licht darauf, was seit langer Zeit gesellschaftlich und im Besonderen im Gesundheitswesen deutlich falsch gelaufen ist. Die aufgezeigten Perspektiven eines Wandels sind sehr konkret und umsetzbar. Man muss es nur wollen.

Die Endarbeiten an diesem umfangreichen Werk fielen in die ersten Tage der Pandemie. Als regelrecht Weltuntergangsstimmung herrschte, suchten Michael Herrmann und ich nach den letzten fehlenden Kommata und prüften die Vollständigkeit. Mit der erneuten Lektüre kam bei uns der Eindruck auf, das Buch sei mit einer Vorahnung des Kommenden verfasst worden. In den letzten Wochen ist angesichts dieser globalen Zäsur immer wieder davon die Rede, dass es nach Überwindung der Pandemie eines Neuanfangs bedarf, wenn die Menschheit überleben will. Wer diese Meinung teilt, wird hierfür ein vielen Texten eine ideale Argumentationsgrundlage finden. Zum Glück konnten wir diesen Zusammenhang mit einem Nachwort noch einmal hervorheben.

Christoph Müller Menschen brauchen Sicherheit. Schenken sie einem Mitmenschen Vertrauen, so ist dies mit der Erwartung von Sicherheit verbunden. Sehen Sie in helfenden Berufen nicht unzählige Vertrauensbrüche, wenn unter anderem Pflegende nicht mehr lege artis ihre Arbeit tun können, weil personelle, aber auch persönliche Ressourcen fehlen?

Michael Herrmann Die körperlichen und seelischen Belastungen, unter denen Pflegende schon zu meinen Studienzeiten, vor über 40 Jahren, standen, spotten jeder Beschreibung. Ich habe schon damals gestaunt, wie viele Menschen diesen Beruf trotzdem auf sich nahmen. Vertrauensbrüche haben im Sinne Ihrer Frage nicht die Pflegenden zu vertreten.

Thomas Hax-Schoppenhorst Damit wären wir wieder beim Thema Stolz. Ein breiteres Kreuz, das nicht nur zu körperlich stark beanspruchender Pflege befähigt, sondern auch die Last einer längst fälligen Kontroverse besser (er-)tragen lässt, könnte hilfreich sein. „Schafsgeduld“ muss ihr Ende nehmen!

Christoph Müller In Zeiten einer weltweiten Pandemie scheinen Treue und Vertrauen zwar notwendiger denn je. Doch machen viele Menschen die Erfahrung, dass Bewährtes und Gewohntes einfach aus dem Leben weggewischt werden. Wie können die Menschen wieder Selbst-Vertrauen und die Treue zu sich selbst finden?

Michael Herrmann Indem sie ihre eigenen Wertsysteme entwickeln und leben. Gute Vorbilder gibt es genügend. Die dafür nötige innere und äußere Arbeit sind mühsam, langwierig und gegen den Strom. Noch. Aber irgendwann ist eine kritische Masse erreicht, ab der ein herrschendes Werteparadigma kippt und ein neues entstehen kann. Diese Entwicklungen brauchen Zeit. Wie lange hat es gedauert bis zu den Umwälzungen von 1789, 1848 und 1917? Oder, etwas friedlicher: Ein Bäumchen wächst nicht schneller, wenn man an den Blättern zieht.

Thomas Hax-Schoppenhorst Das Bild mit dem Bäumchen gefällt mir dermaßen gut, dass ich mich fast kommentarlos anschließe. Nur eines: Ich denke, es hilft, wenn man in Krisensituationen gezielt Rückschau hält. Unser Leben wird dominiert vom Denken daran, was morgen auf dem Plan steht. Wenn wir das bislang Erreichte vernachlässigen, gehen wir nicht gut mit uns um.

Christoph Müller Ich mag es, möglichst konkrete Fragen zu stellen. Welche persönlichen Erfahrungen mit Treue haben Sie gemacht? Was bedeutet Ihnen der Terminus Vertrauen?

Michael Herrmann An Erfahrungen: gute und eher schwierige, wie sicher bei vielen Menschen. Die schwierigen waren wirklich schwierig, aber die Guten überwiegen deutlich – beruflich wie privat. Der Mietvertrag für meine erste Studentenbude bestand in einer mündlichen Absprache mit dem Vermieter, einem Elektromeister, und einem Handschlag. Das war´s! Keiner hat den anderen enttäuscht.

Thomas Hax-Schoppenhorst Ich bin jetzt 30 Jahre mit meiner Frau Dorothee verheiratet; diesem Großprojekt gebe ich eine glatte Eins. Die mittlerweile erwachsenen Kinder Frederik und Maren erwidern unser Vertrauen, sind sich und uns treu. So hat mich das Leben wahrlich verwöhnt. Dafür bin ich dankbar. Einmal hat mich ein guter Freund vor vielen Jahren dreist hinters Licht geführt. Das war Vertrauensbruch in Purform. Wie muss es Menschen ergehen, die solche Erfahrungen mehrfach machen müssen?

Ja und dann zu unserem Projekt … Die vertrauensvolle, sehr gute Zusammenarbeit mit Michael Herrmann, dem hoch engagierten Team von Autorinnen und Autoren und Jürgen Georg vom Verlag hat mir wieder mal gezeigt: Es geht! Ohne Treue gegenüber Prinzipien und gegenseitiges Vertrauen wären wir sicherlich nicht über Seite zehn hinausgekommen.

Christoph Müller Herzlichen Dank für den erfrischenden Diskurs.

 

Das Buch, um das es geht

Thomas Hax-Schoppenhorst / Michael Herrmann (Hrsg.). Treue und Vertrauen – Handbuch für Pflege-, Gesundheits-und Sozialberufe, Hogrefe-Verlag, Bern 2020, ISBN 978-3-456-86009-1, 480 Seiten, 49.95 Euro.

Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at