DE: Positionspapier: Auswirkungen von Rassismus auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie ethnische Minderheiten und „People of Colour“

17. November 2020 | News Deutschland | 0 Kommentare

Das Konzept der „Rasse“ ist kein neues Phänomen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein historisch gewachsenes Konzept, welches nicht auf biologischen Grundlagen basiert, sondern von Menschen festgelegt wurde. Der Einsatz von Sklaven aus anderen Rassengruppen und die Folgen des Kolonialismus sowie der Kolonialherrschaft schufen den „Anderen“, der als minderwertig angesehen wurde und daher keine Privilegien erhielt. Hier- bei rückte eine Beurteilung auf der Grundlage von physischen Merkmalen in den Vordergrund. Damit wurde der Begriff der „Rasse“ historisch als Kategorisierung auf der Grundlage gemeinsamer Erbmerkmale (wie z. B. der Hautfarbe) verwendet, um eine Beziehung zwischen der Abstammung und den Genen herzustellen. Das Konstrukt der „Rasse“ ist allerdings biologisch nicht korrekt, da es kategoriale Unterschiede postuliert, während es nur gleitende Übergänge in der Häufigkeitsverteilung verschiedener Allele in verschiedenen Populationen gibt (American Association of Physical Anthropologists, 2020). Hierdurch erfolgte quasi eine Umwandlung eines ursprünglich kolonialen Konzeptes in ein genetisches Konzept, um Unterschiede zu erklären, Menschen zu diskriminieren und sozial auszuschließen. „Rasse“ ist vielmehr eine soziale Konstruktion (Sternberg et al. 2005). Nach wie vor gehen viele davon aus, dass sich „Rassen“ kategorial unterscheiden, bspw. dass Menschen aus Afrika oder Asien “andere Gene“ hätten als Menschen aus Europa oder dass Kinder von Menschen unterschiedlicher Regionen der Welt so etwas wie “Mischlinge“ seien (Heinz et al., 2014). Menschen teilen weltweit über 99% ihrer genetischen Varianzen, sodass es kein einziges Gen gibt, das ausschließlich einer Population zukommt, und sich die genetische Vielfalt geografisch nur graduell mit Bezug auf die Häufigkeit einzelner genetischer Varianzen ändert. Klare Grenzen können hier nicht gezogen werden. Genetische Varianzen, die zur Hautfarbe beitragen, sagen ausgesprochen wenig darüber aus, wie die übrige genetische Vielfalt bei der betroffenen Person ausgeprägt ist (Heinz et al., 2014; Handley et al., 2007; Rosenberg et al., 2002)

Rassismus wird u. a. auch durch psychokulturelle Merkmale definiert, wobei die durch ihre biologische Herkunft wahrgenommene Überlegenheit einer bestimmten „Rasse“ ihr Recht auf Herrschaft über andere bestimmt (Heinz et al., 2014; Bhugra et al., 2020). Damit kann sich Rassismus auch auf eine beliebige Anzahl von Minderheitengruppen beziehen, wie z. B. Antisemitismus und Islamophobie sowie Ausländerfeindlichkeit.

Institutioneller Rassismus
Unser Verständnis davon, wie Rassismus auf institutioneller Ebene – in unseren gesellschaftlichen und politischen Strukturen, Institutionen und Praktiken – funktioniert, hängt mit der Haltung des Einzelnen und der Bevölkerung zusammen. Institutionen sind Organisationen, die aus Individuen und Traditionen bestehen (Bhugra et al., 2020). Es handelt sich dabei um Systeme auf der Makroebene, soziale und kulturelle Kräfte, Ideologien und Prozesse, die miteinander interagieren, um Ungleichheiten zwischen ethnischen Gruppen zu erzeugen und zu verstärken (Powell 2008). Dabei können offene und auch verdeckte Praktiken und Regularien rassistische Ungleichheit, d. h. die Überlegenheit bestimmter Gruppen gegenüber anderen in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen, Möglichkeiten und Macht, verstärken (Williams & Collins, 2001). Eine derartige Kultur einer Institution und eine unbewusste Voreingenommenheit von Menschen, die diese Institution bilden, stellen rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen dar. Solche bewussten und unbewussten Einstellungen und Verhaltensweisen können, unabhängig von der Fachkompetenz, Behandlungsstrategien und den therapeutischen Umgang mit Patienten mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie mit ethnischen Minderheiten und „People of Colour“ beeinflussen. Im Rahmen einer solchen Voreingenommenheit geht es vielfach darum, Macht zu gewinnen, zu demonstrieren und zu behalten, unabhängig von etwaigen Qualifikationen oder Positionen der Menschen aus Minderheitengruppen (Bhugra et al., 2020).

Struktureller Rassismus
Bailey et al. (2017) beziehen strukturellen Rassismus auf die Art und Weise, wie Gesellschaften Diskriminierung z. B. in den Bereichen Wohnen, Bildung, Beschäftigung, Verdienst, Sozialleistungen, Medien, Gesundheitsversorgung und Strafrecht fördern. Darüber hinaus verstärken derartige Praktiken wiederum diskriminierende Überzeugungen und Werte sowie die Verteilung von Ressourcen (Bailey et al., 2017). Es gibt Evidenz dafür, dass struktureller Rassismus die Sterblichkeit erhöht und die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen verringert (Gee & Ford, 2011). Somit stellt er eine Bedrohung für das physische, psychische und soziale Wohlbefinden jedes davon berührten Individuums in einer Gesellschaft dar (Bonilla-Silva, 2001). Er kann sich durch Überzeugungen, Stereotype, Vorurteile oder Diskriminierung manifestieren und auf mehreren Ebenen auftreten, u. a. darunter: verinnerlicht (intrapersonell), zwischenmenschlich (interpersonell) und systemisch (z.B. die Kontrolle von und der Zugang zu Arbeit oder zur Gesundheit) (Paradies et al., 2015). Dabei geht es vor allem um Privilegien, die eine Mehrheitsgemeinschaft als ihr Recht ansieht.

Verinnerlichter und zwischenmenschlicher Rassismus
Verinnerlichter Rassismus wird definiert als die Aufnahme von rassistischen Einstellungen, Stereotypen, Vorurteilen oder Diskriminierung, Überzeugungen oder Ideologien in die eigene Weltanschauung. Mitglieder einer aus rassistischen Motiven stigmatisierten Bevölkerungsgruppe reagieren auf weitverbreiteten negativen Stereotypen, indem sie diese wiederum verinnerlichen. Dies kann in der Folge zu einem geringeren psychischen Wohlbefinden und Selbstwertgefühl führen und wurde mit höherem Alkoholkonsum, depressiven Symptomen und Adipositas in Verbindung gebracht (Williams und Mohammed, 2009).

Zwischenmenschlicher Rassismus wird definiert als rassistisch motivierte Interaktionen zwischen Individuen. So können u. U. psychosoziale Fachkräfte und Professionelle im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem Vorannahmen oder unbewusste Vorurteile gegenüber anderen in sich tragen. Sie können bspw. annehmen zu wissen, was gut für Patienten mit Migrations- und Fluchthintergrund oder ethnischen Minderheiten und „People of Colour“ sei. So können bei diesen Stresserleben und Gefühle von Macht- und Hilflosigkeit entstehen, was die gesundheitliche Situation verschlimmern kann (Bhugra et al., 2020).

Auswirkungen des Rassismus auf die psychische Gesundheit
Paradies et al. (2015) stellten in einer Metaanalyse und einem systematischen Review fest, dass Rassismus signifikant mit einem schlechteren Gesundheitszustand korreliert, wobei der Einfluss auf die psychische Gesundheit stärker zu sein scheint als auf die physische Gesundheit. Die Autoren berichten sogar, dass es Hinweise dafür gibt, dass Rassismus sich offenbar doppelt so stark auf die psychische Gesundheit auswirkt (bei Suizidgedanken, -planung und -versuchen sowie bei posttraumatischer Belastungsstörung). So wurden in mehreren Studien spezifische negative Auswirkungen von wahrgenommener und erlebter Diskriminierung und Ausgrenzung auf die psychische Gesundheit für Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie Minderheiten und „People of Colour“ nachgewiesen, insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung affektiver und psychotischer Störungen und Störungen des Substanzkonsums (Aichberger et al., 2015; Bhui et al., 2005; Heinz et al., 2014; Henssler et al., 2019; Benner et al., 2018).

Auswirkungen des Rassismus auf die psychische Gesundheit und Covid-19 Pandemie
Die beschriebenen Auswirkungen von Rassismus auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie ethnische Minderheiten und „People of Colour“ werden durch die Covid-19 Pandemie verschärft. Denn die strukturellen Ungleichbehandlungen wie beengte Wohnverhältnisse (Barber, 2020) (z. B. leben in Gemeinschaftsunterkünften und überfüllten Wohnungen), geringerer sozioökonomischer Status (Raifman und Raifman, 2020), schlechte Arbeitsbedingungen ohne ausreichende Möglichkeiten zu „social distancing“ (Mora und Schickler, 2020), laut Wasserman et al. (2020) eher „physical distancing“ gemeint, und Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem (Schouler-Ocak, 2015) verstärken offenbar die Risiken für eine COVID-19-Erkrankung und beeinflussen ihren Verlauf negativ.

Diese Ausführungen machen deutlich, dass rassistisch motivierte Diskriminierung und Ausgrenzung große negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie ethnische Minderheiten und „People of Colour“ haben können.

Empfehlungen

  1. Der psychiatrisch-psychotherapeutische Alltag wird in Forschung, Lehre und Versorgung sowie Praxis geprägt durch die soziokulturelle Vielfalt, die einen wesentlichen Bestandteil unserer Gesellschaft darstellt. Deshalb ist eine offene Diskussionskultur, in der das Thema Rassismus und damit rassistische Diskriminierung sowie Ausgrenzung nicht tabuisiert werden, wünschenswert und von enormer Bedeutung.
  2. Das Erkennen und Benennen von Rassismus in der berufsgruppenübergreifenden alltäglichen Praxis ermöglicht Anstrengungen zur Bekämpfung von Rassismus. Damit können eine Sensibilisierung und ein Bewusstsein für rassistische Diskriminierung, für Ausgrenzung und für die Gefahr gesundheitlicher Ungleichbehandlung geschaffen werden.
  3. Rassismus und damit rassistische Diskriminierung, Ausgrenzung und die Gefahr gesundheitlicher Ungleichbehandlung müssen in Forschung, Lehre und Versorgung disziplinübergreifend in den Aus-, Fort- und Weiterbildungen als Thema Zugang finden. Es handelt sich hier um eine Querschnittthematik.
  4. Antirassismus-Schulungen für alle Berufsgruppen sollten als Qualifizierungsmaßnahme angeboten werden. Damit kann das Thema nachhaltig im Qualitätsmanagement implementiert werden.
  5. Schulungen aller Berufsgruppen in interkultureller Kompetenz sollten regelhaft in die Aus-, Fort- und Weiterbildungen integriert werden. Denn interkulturelle Kompetenz gilt als ein wesentliches Instrument, um mit soziokultureller Vielfalt angemessen, sensibel und sachkundig umzugehen und Versorgungsungleichheiten zu vermeiden. Interkulturelle Kompetenz ist zudem eine praktische Demonstration der ethischen Prinzipien in der Medizin.
  6. Interkulturelle Öffnung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems sollte forciert werden und dabei nicht nur auf Personalentwicklung zielen, sondern insbesondere auf organisationaler Ebene umgesetzt werden. Die Beseitigung von Rassismus und damit rassistischer Diskriminierung, von Ausgrenzung und gesundheitlicher Ungleichbehandlung sollte als Teil der Grundwerte der Einrichtungen im Gesundheitssystem in das Leitbild aufgenommen werden. Damit kann der Prozess der interkulturellen Öffnung längerfristig in Gang gehalten werden.
  7. Das Thema Rassismus und psychische Gesundheit sollte zur Sensibilisierung auf Kongressen, Tagungen, Konferenzen und in Workshops sowie Bildungsprogrammen der DGPPN regelmäßig aufgenommen werden.
  8. Forschung über weitere Formen des Rassismus wie soziale Exklusion, Zugangsbarrieren und gesundheitliche Ungleichbehandlung sollte gefördert werden.

Für die DGPPN
Prof. Dr. Meryam Schouler-Ocak (Berlin), Leiterin DGPPN-Referat „Interkulturelle Psy- chiatrie und Psychotherapie, Migration“
Prof. Dr. Iris T. Graef-Calliess (Wunstorf), Stellvertretende Leiterin DGPPN-Referat „In- terkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration“

Literatur
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Autor

  • Christoph Mueller

    Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender, Fachautor, Mitglied Team "Pflege Professionell", Redakteur "Psychiatrische Pflege" (Hogrefe-Verlag) cmueller@pflege-professionell.at