Die Berliner Regional-Gruppe der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP) hat zum Aufbruch in der alltäglichen psychiatrischen Pflege aufgerufen. Diesen Eindruck konnten die knapp 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewinnen, die die erste Fachtagung der DFPP-Regionalgruppe in den Räumen des Theodor-Wenzel-Werks in Berlin besuchten. Sie konnten nicht nur auf die engagierte Unterstützung des diakonischen Trägers psychiatrischer Hilfe, sondern auch auf namhafte Mitstreiterinnen und Mitstreiter bauen. So beteiligten sich unter anderem die Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (BGSP e.V.) und die Angehörige psychisch Kranker – Landesverband Berlin (ApK e.V.) mit einem Stand.
Der Pflegewissenschaftler Michael Schulz, Honorarprofessor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, ermunterte die Anwesenden, unkonventionell zu denken und zu handeln. So stellte Schulz die Idee des Recovery-Colleges vor, in denen sich Betroffene, Angehörige psychisch erkrankter Menschen und beruflich Helfende trialogisch für ein selbstbestimmtes Leben der Betroffenen engagieren. Schulz bekannte seine Sympathie für ein Bekenntnis eines niederländischen Recovery-Colleges: „Schäm Dich nicht für Dein Verhalten, es inspiriert andere.“
In seinem Beitrag zum Begriff der „partizipativen Pflege“ setzte er sich mit dem Begriff der Beziehung als Moment der Teilhabe auseinander. Statt hehre Visionen zur Beziehungsgestaltung in der psychiatrischen Pflege zu formulieren beschränkte sich Schulz darauf, bodenständig zu formulieren. Eine positive Beziehung zu erkrankten Menschen in der psychiatrischen Versorgung zeige sich schon darin, dass die helfende Person seinem Gegenüber nicht schade. Mit dem Blick auf viele persönliche Erlebnisse in psychiatrischen Einrichtungen schlug er den Pflegenden in Berlin vor, eine „protected engagement time“ zu realisieren. Dies sei eine klar bestimmte Zeit, die Pflegenden und auch andere psychiatrisch Tätige bei den erkrankten Menschen verbringen, so Schulz.
„Dekontextualisierte Psychiatrie“
Diskussionen um die Rolle von Angehörigen und Betroffenen in der psychiatrischen Versorgung kamen bei der DFPP-Fachtagung in Berlin auch zur Sprache. Schulz betonte, dass die häufig fehlende Aufmerksamkeit für Angehörige ein Beleg für eine „dekontextualisierte Psychiatrie“ sei. Die Genesungsbegleiter, die immer öfter in Einrichtungen tätig seien, seien durch ihre Authentizität Hoffnungsträger. Dies unterstrich Hakan Ayrilmaz, der als Genesungsbegleiter in einer psychiatrischen Klinik in Berlin tätig ist. Für die Betroffenen sieht er sich als Sprachrohr in das therapeutische Team hinein. Ayrilmaz betonte, dass Genesungsbegleiter eine nicht zu unterschätzende Rolle an der Schnittstelle zwischen Betroffenen, Angehörigen und dem therapeutischen Team spiele.
Als Genesungsbegleiter, der selber Erfahrungen als Betroffener hat und nun als Mitarbeiter der Einrichtung gilt, spitzt er eine Erfahrung zu, die er bei der Teilnahme an Übergaben, an Teambesprechungen und Supervisionen gemacht hat: „Als Peers ändern wir die Sprache im therapeutischen Team.“ Ganz entscheidend ist für ihn noch etwas anderes: „In meine Arbeit als Genesungsbegleiter will ich in meine Arbeit einbringen, was ich mit als Patient gewünscht hatte. Normalität in die Begleitung psychisch erkrankter Menschen zu bringen.“
„Beitrag zu einer menschlichen Gesellschaft“
Diese Flanke haben Janine Berg-Peer und Henriette Peer bei ihrem Vortrag „Keep cool, Mum“ aufgenommen. Ihre Anregungen sind oft von Heiterkeit begleitet gewesen. Hinter dieser Heiterkeit zeigte sich viel Ernst, den die Botschafterin der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen und ihre Tochter zum Ausdruck brachten. Als Mutter betonte Janine Berg-Peer, dass die Schweigepflicht als ein „Bollwerk gegen die Angehörigen“. Berg-Peer berichtete von vielen Erlebnissen, die sie während der Krankenhausaufenthalte der Tochter mit Mitarbeitenden psychiatrischer Einrichtungen machte. Wenn Mediziner Prognosen zur psychischen Erkrankung äußerten, so käme dies bei Betroffenen und Angehörigen oft als Entmutigung an. Wenn psychiatrisch Tätige Angehörigen während der Krisen Ratschläge gäben, so wünscht sich Berg-Peer mehr Sensibilität. Den Mitgliedern im therapeutischen Team müsse bewusst sein, dass psychische Krisen keine Zeit für pädagogische Maßnahmen seien. So sorgten Janine Berg-Peer und Henriette Peer mit den konkreten Beschreibungen der eigenen Erfahrung für eine Anschaulichkeit. Henriette Peer erzählte davon, dass sich Ergotherapeuten einmal darüber beschwert hatten, dass niemand die Angebote wahrnehme und stattdessen einen Spaziergang vorzögen. Einstimmig hätten die Betroffenen geantwortet: „Die Ergo ist langweilig. Macht doch einfach ansprechendere Angebote.“
Als Vertreter der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegekräfte in der Psychiatrie (BfLK) rief Edwin Emilio Velasquez Lecca dazu auf, dass die psychiatrischen Einrichtungen gemeinsam gestaltet würden. Es brauche den Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen sowie zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen. Die kaufmännische Direktorin des Theodor Wenzel-Werks, Antje Seeliger, brachte ihre Wertschätzung gegenüber psychiatrisch Pflegenden zum Ausdruck. Die psychiatrische Versorgung ermögliche, dass man sich im Menschsein begegne. Psychiatrische Pflege sei aus ihrer Sicht ein „wertvoller Beitrag zu einer menschlichen Gesellschaft“.
Doch nicht nur spannende Vorträge und Impulse im Plenum gaben der Tagung ihren besonderen Reiz, eine Vielzahl von ausgewählten Workshops rundeten den Tag ab.