Besuche hinter Trennscheiben, Ausgangsverbote, Quarantäne – seit Corona hat sich in stationären Pflegeeinrichtungen viel geändert. Die strengen Regelungen gehen dabei oft zulasten der Bewohner*innen. Die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) hat im August 2020 eine Leitlinie zu diesem Thema veröffentlicht: „Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie“.
Marco Sander, Vorstandsmitglied der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein, und Swantje Seismann-Petersen, Mitglied der Kammerversammlung, haben an der neuen Leitlinie mitgewirkt. Im Interview gibt Marco Sander einen Einblick, was bei der Umsetzung der Leitlinie zu berücksichtigen ist.
Herr Sander, was ist das Ziel der neuen Leitlinie?
Das Hauptziel der Leitlinie ist es, den größtmöglichen Infektionsschutz von Bewohnerinnen und Bewohnern bei bestmöglicher Lebensqualität und sozialer Teilhabe zu ermöglichen. Es liegt somit im Spannungsfeld zwischen Prävention im Sinne des Infektionsschutzes und einer ethisch-moralischen Abwägung im Sinne der Lebensqualität und sozialer Teilhabe bei Menschen, die eines besonderen Schutzes bedürfen.
Was sind die Folgen der teilweise sehr strengen Regelungen zum Infektionsschutz?
Die Schutzmaßnahmen, die aus der COVID-19-Pandemie resultieren, beeinflussen das Leben der Bewohner*innen erheblich und wirken sich negativ auf deren Lebensqualität aus. Das hält die neue Leitlinie auch gleich in der Präambel fest. Dazu gehören Quarantänemaßnahmen, Besuchsverbote und veränderte Abläufe in den Einrichtungen. Diese gut gemeinten Schutzmaßnahmen führen aber auch dazu, dass Menschenrechte verletzt und die teilweise bestehende Altersdiskriminierung gefördert wird. Das heißt, die Bewohner*innen, die größtenteils nicht freiwillig in den Einrichtungen leben, müssen jetzt auch noch unter verschärften Kontaktregelungen und sozialer Nicht-Teilhabe leiden.
Was empfiehlt die Leitlinie genau?
Professionelle Pflege bedeutet in Zeiten der Pandemie: Infektionsschutz bei bestmöglicher Lebensqualität im Alltag. Dieser Aspekt gestaltet sich jedoch durch die Mehrbelastung der Pflegenden schwierig: Zum einen fehlt Personal in den Einrichtungen – und dies nicht nur in Zeiten der Pandemie. Zum anderen erschweren die Bestimmungen, die mit den Schutzmaßnahmen einhergehen, die Vereinbarkeit dieser beiden Grundsätze. Die Leitlinie gibt genau in diesem Abwägungsprozess Handlungsempfehlungen.
Bietet die Leitlinie konkrete Orientierung oder müssen die Empfehlungen individuell angepasst werden?
Teils, teils. Mit der Leitlinie werden fachlich begründete und somit bestmöglich evidenzbasierte Empfehlungen beschrieben, die die Handlungssicherheit der Pflegenden untermauern. Dies ist aber immer ein Zusammenspiel von evidenzbasierten sowie individuellen und somit auch kreativen Lösungsansätzen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen. Diese muss man gegenüberstellen und gut abwägen.
Im Moment sind die Besuchsregelungen in vielen Bundesländern gelockert, gleichzeitig fürchtet man eine zweite Welle. Was sollte sich beim nächsten Mal auf jeden Fall zugunsten der Bewohner*innen ändern?
Wir müssen aus den Fehlern der jetzigen Pandemie lernen – nicht nur für eine mögliche zweite Welle, sondern vor allem auch im Hinblick darauf, was uns diese Menschen als autonome Menschen wert sind. Wir als Pflegenden sind verantwortlich für die Lebensqualität und den sozialen Alltag dieser Menschen. Gleichzeitig dürfen wir ihnen keinen Paternalismus überstülpen, sondern sollten ihre Bedürfnisse gut im Blick haben und sie selbst bestmöglich hierzu befragen.
Was ist aus Ihrer persönlichen Sicht höherwertig: Infektionsschutz oder Lebensqualität?
Das kann ich pauschal nicht beantworten. Ohne Infektionsschutz keine Lebensqualität. Gleichzeitig wirkt sich eine herabgesetzte Lebensqualität auch auf den Infektionsschutz aus. Das heißt, wenn es mir nicht gut geht, bin ich auch anfälliger für Erkrankungen und demnach auch für Infektionen. Es muss also ein guter Abwägungsprozess ablaufen und dieser muss alle Bevölkerungsgruppen im Blick behalten – vor allem die besonders schutzbedürftigen Menschen.