DE: Gender-Gap in der AHF-Forschung Schieflage behindert medizinischen Fortschritt

17. Juni 2019 | News Deutschland | 0 Kommentare

In Deutschland studieren weit mehr Frauen als Männer Humanmedizin. Über die Hälfte der Doktoranden sind Frauen. In der Medizinforschung, auf Professorenstellen und in Chefarztpositionen jedoch bleiben sie rar. Eine aktuelle Studie des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler hat erstmals das Ausmaß des Gender-Gaps in der Erforschung angeborener Herzfehler quantifiziert. Mit alarmierenden Ergebnissen.

Forscherinnen werden dringend gebraucht, auch auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler. Dank des medizinischen Fortschritts nimmt die Zahl der Erwachsenen mit der weltweit häufigsten angeborenen Fehlbildung stetig zu: um etwa 60 Prozent pro Jahrzehnt. Für ein möglichst langes und gesundes Leben sind die Patienten auf die kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit vieler Forscher angewiesen. Erleichtert das Frauen den Zugang zu Spitzenpositionen in der Medizin? Und fällt die Gender-Lücke entsprechend moderater aus? Die Ergebnisse der Studie des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler sprechen eine andere Sprache.

Ernüchterndes Ergebnis

Über 35.000 Fachpublikationen aus den Jahren 2006 bis 2015 haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchforstet, um die Geschlechterverteilung auf dem Forschungsgebiet der angeborenen Herzfehler zu ermitteln. Mit für Deutschland besonders ernüchterndem Ergebnis: Stellen Frauen weltweit gerade einmal 30 Prozent aller Erstautoren und knapp 21 Prozent aller Seniorautoren, so sind es hierzulande bei den Erstautoren nur 22 Prozent, bei den Seniorautoren nur noch knapp über 12 Prozent. Damit rangiert Deutschland im unteren Drittel von insgesamt 66 Ländern.

„Wissenschaftlerinnen sind in der Forschung unterrepräsentiert. Das Dilemma ist seit vielen Jahren bekannt. Das aktuelle Ausmaß der Geschlechterungleichheit in unserem Fachgebiet hat uns aber überrascht. Gerade auf einem Forschungsgebiet wie dem der angeborenen Herzfehler muss so ein Ergebnis alarmieren. In solchen dynamisch wachsenden Pionierbereichen wird händeringend nach begabtem Nachwuchs gesucht“, sagt Paul-Gerhard Diller, Oberarzt an der Klinik für Kardiologie III: Angeborene Herzfehler (EMAH) und Klappenerkrankungen am Universitätsklinikum Münster und Seniorautor der Gender-Studie.

Kleiner Anstieg, große Unterschiede

Insgesamt nur 25 Prozent der Gesamtheit der Autoren aller untersuchten Fachpublikationen waren Frauen. Zwar ist der Anteil der weiblichen Erstautoren im gesamten Untersuchungszeitraum weltweit um 0,8 Prozent gestiegen, auch gab es bei den Seniorautorinnen mit fast 0,6 Prozent einen leichten Zuwachs. Zugleich ergab die Studie jedoch, dass die Entwicklung in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich und teilweise sogar rückläufig ist, wie die Kardiologin und Studienautorin Margarita Brida einschränkt: „Während Nordamerika, Nord-. West-, und Südeuropa einen Anstieg des Anteils der weiblichen Autorenschaft aufweisen, verzeichnen Osteuropa und Westasien einen tatsächlichen Rückgang.“ Zum Anstieg tragen zudem einzelne Regionen, nicht aber alle ihre Länder bei. So schert Deutschland aus der Gruppe der westeuropäischen Länder deutlich nach unten aus.

Erstautorinnen und gemischte Teams erzielen bessere Ergebnisse

Was das in der Konsequenz bedeutet? Auch dafür liefern die Ergebnisse der der von der EMAH Stiftung Karla Völlm geförderten Studie interessante Anhaltspunkte: Publikationen mit einer Erstautorin erzielten einen höheren durchschnittlichen Impact-Faktor und wurden häufiger zitiert als solche mit einem männlichen Erstautor. Ähnlich überlegen zeigten sich Publikationen mit einem gemischten Autorenpanel. Sie wiesen einen höheren medianen Impact-Faktor und mehr Zitationen auf als Publikationen homogener Autorenpanel. Für die medizinische Laufbahn der Autoren haben Impact-Faktoren und Zitationen einen erheblichen Stellenwert, wie Gerhard-Paul Diller verdeutlicht: „Veröffentlichungen in Peer-Review-Zeitschriften sagen nicht nur etwas über die relative Qualität der Forschung aus. Sie sind nach wie vor ein integraler Bestandteil des Promotionssystems und werden allgemein als unerlässlich für den Aufstieg in die Spitzengruppe der akademischen Medizin angesehen.“

Deutschland hinkt hinterher

Bezogen auf Deutschland zeigten die Studienergebnisse, dass der Forschungsstandort bei der akademischen Produktion weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe. Bei der Anzahl der Publikationen zu Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler rangiert Deutschland auf dem sechsten Platz hinter den USA, Japan, China, Großbritannien und Italien. Bei den tonangebenden Publikationen belegt Deutschland den dritten Platz hinter den USA und Großbritannien. „Ein beunruhigender Zustand für den Innovationsstandort Nummer eins. Wir werden weiterhin an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn wir versäumen, das verfügbare Potenzial und Know-how von Frauen zu fördern“, befürchtet der EMAH-Kardiologe.

Männer bevorzugt

Das scheitert offenkundig auch an den nach wie vor männlich dominierten Gremien im Wissenschaftsbetrieb. Bei von den Fachverlagen angeforderten Publikationen wie Vorworten, Fallberichten oder Leitlinien sind weibliche Autoren deutlich seltener vertreten als bei der originären Forschung. Die Autoren der Studie schließen daraus, dass die bestehenden informellen Netzwerke nach wie vor männliche Autoren bevorzugten. Zugleich verfassten Forscherinnen deutlich seltener Briefe an die Herausgeber als ihre männlichen Kollegen. „Die Zurückhaltung der Kolleginnen kommt nicht von ungefähr. Ein aktives Forschungsengagement muss attraktiver werden für Frauen. Das bedeutet auch, dass wir als männliche Vorgesetzte und Entscheider umdenken müssen, um die Gender-Diversität in der Forschung bewusst und gezielt zu fördern“, resümiert Gerhard-Paul Diller.

Seniorautorinnen fördern Erstautorinnen

Für ein solches Umdenken spricht auch die im Rahmen der Studie erfolgte Analyse von länderspezifischen Faktoren, die sich positiv auf die Beteiligung von Frauen an Forschung auswirken. Einbezogen hatten die Wissenschaftler das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, den Human Development Index (HDI), den Gender Inequality Index (GII), die Anzahl der Ärzte pro Kopf und die Beteiligung von Seniorautorinnen. „Die Wahrscheinlichkeit der Mitwirkung einer Erstautorin stieg vor allem dann, wenn eine Seniorautorin an der Forschung beteiligt war,“ fasst Margarita Brida das Ergebnis zusammen. So waren an den Publikationen von Seniorautorinnen zu 50 Prozent Erstautorinnen beteiligt, während die Publikationen ihrer männlichen Kollegen die vertraute Schieflage aufwiesen: Bei 75 Prozent dieser Publikationen waren die Erstautoren Männer.

Für Ihre Recherche:

Die Studie wurde unter dem Titel „Sex differences in publication volume and quality congenital heart disease: are women disadvantaged?“ in Open Heart, dem Fachmagazin der British Cardiovascular Society veröffentlicht:

https://openheart.bmj.com/content/6/1/e000882

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)